Kapitel XIV
Mir klappte die Kinnlade runter. „Das würdest du nicht tun."
„Sicher? Willst du es riskieren?" Ihr Ton bereitete mir eine Gänsehaut am ganzen Körper. Sie konnte das unmöglich ernst meinen! Keinen Job, keine Sicherheit, keine Annabelle?! Das durfte nicht sein. „Ein anderes Mal, Kennox."
„Wirklich? Es ist dringend und ich muss bald zurück zur Probe-"
Mir entgleiste meine Stimme. „Ja, wirklich! Verschwinde endlich."
Zu meiner Überraschung tat er das. Sein Schemen verschmolz mit den Schatten der Zeltstadt und als die schlurfenden Schritte verklangen, blieb ein angespanntes Schweigen zurück.
Ich fuhr mir durchs schweißnasse Haar. „Okay, du willst die Wahrheit wissen... die volle Wahrheit... Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll."
„Von Anfang an vielleicht?", schlug Belle schnippisch vor.
Die Buchstaben wirbelten durch meinen Kopf und sträubten sich, einen geraden Satz zu bilden. Zu viel geschehen, zu viel zu sagen. „Ähm, richtig. Du erinnerst dich an den Morgen, wo ich vom Hochseil gestürzt bin?"
„Ja, weiß ich noch. Wieso?"
„Der Grund für mein seltsames Verhalten, die Stirnwunde und vieles mehr war, dass ich an diesem Morgen mit-" Ich hielt inne. „Mit etwas Ungewöhnlichem erwacht bin."
„Einer ungewöhnlichen Person?"
Mir stieg die Hitze in den Kopf. „Oh Heilige, Nein! Du denkst in die falsche Richtung. Mit einem ungewöhnlichen Gegenstand."
„Ich verstehe nicht. Welchen Gegenstand?"
Ich nahm einen tiefen Atemzug. „Das Kristallauge."
Sie lief blass an und ihr entglitten die Gesichtszüge.
„Du- du scherzt, oder?", stammelte Annabelle, „Ich finde diesen Witz nicht lustig. Überhaupt nicht lustig!"
„Das war kein Witz", sagte ich tonlos. „Neben mir lag das Kristallauge. Ich weiß nicht, wie es dorthin kam. Ich weiß nicht, was die letzte Nacht passiert ist. Ich weiß nichts, rein gar nichts, außer der Tatsache, dass ich ein toter Mann bin, wenn man mich damit findet."
„Das echte Kristallauge?" Ich beobachtete, wie sich die Realisation meiner Worte langsam in ihre Miene fraß.
„Ja. Das Echte. Alles Seltsame, was an den Tagen danach geschehen ist, hatte in irgendeiner Form mit dem Kristall zu tun."
Damit stimmte ich Annabelle sprachlos. „Das ist..."
„Extraordinär?"
„Schrecklich! Was... Wie konnte sowas passieren?"
„Ich weiß es nicht. Mein Leben ist noch nie so gut gewesen wie vor dem Kristall. Genug Geld zum Überleben, eine feste Arbeit und einen Partner an meiner Seite. Die nächsten Tage sollten die aufregendsten meines Lebens werden, der große Auftritt in Nevel. Ich hatte alles, aber jetzt..." Meine Stimme versagte und ein viel zu lautes Schluchzen erklang. Die Anspannung der letzten Tage schoss auf mich nieder und brach in Form von dicken Tränen heraus.
Wortlos nahm Belle mich in den Arm. „Schon gut, schon gut. Wir finden eine Lösung", hauchte sie. Es klang wie etwas, dass sie auch sagen würde, wenn ein Akrobat ihr von dem Läuseproblem des Löwen berichte. Oder wenn die Schneider die Kostüme zu kurz genäht hatten. Wir finden eine Lösung. Ich schniefte. „Es gibt keine Lösung. Man wird mich finden und dann ist alles vorbei. Dann sehe ich dich nie wieder." Mein Schluchzen wurde lauter, gefolgt von einem scharfen Luftschnappen.
„Schhh, Nicht hyperventilieren", flüsterte Belle. Ich verstand den Wortlaut nicht, aber ihre Stimme beruhigte mich. Nach einer Ewigkeit schaffte ich es, zur Ruhe zu kommen. Mein Kopf brummte und meine Augen brannten, aber es hatte gutgetan, die Sorgen rauszulassen.
„Wir gehen das Schritt für Schritt an. Wer weiß alles vom Kristall?", fragte sie mit einer Stimme, als wollte sie ein scheues Kätzchen nicht verschrecken.
„Nur du, ich und vermutlich Kennox dieser Schuft", schniefte ich.
Annabelle hob eine Braue. „Kennox?"
Ich erzählte ihr die Geschichte, von dem Weg zur Stadt, sein Geständnis und die Heiler-Falle. Auch von meinem verwüsteten Zelt und dem Plan, ihn zur Rede zu stellen. „Deswegen wollte ich mit ihm reden", beendete ich meine Erzählung und sank an ihre Schulter, denn meine eigenen trugen das Gewicht nicht mehr.
„Er mag ein düsterer Zeitgenosse sein, aber auch ein Krimineller? Das hätte ich nie gedacht.", sagte Annabelle, „Bist du dir sicher, dass er alles so gesagt hat?"
„Er hat mich nicht für nichts beim Heiler einsperren lassen."
„Vielleicht hat der deine Symptome ausversehen verwechselt? Ich will nicht für ihn Partei ergreifen, aber für eine gute Argumentation muss man mehrere Perspektiven sehen."
Der Hass auf Kennox ließ die Wörter automatisch hervorsprudeln. „Das sagst du nur, weil es in deinen dummen ach so weisen Büchern steht."
Ich las einen verletzten Ausdruck in Belles Augen ab. Dieses Mal kamen mir die Tränen aus Schuldgefühl. „Das meinte ich nicht so. Ich- ich bin einfach mit meinen Nerven am Ende."
Sie winkte ab, aber dieses verletzte Glänzen in ihrem Blick blieb. „Wo ist das Kristallauge jetzt?", wechselte Annabelle das Thema.
„An einem sicheren Ort."
„Sicher genug, dass es nicht in falsche Hände gerät?"
„Sicher genug." Diese falschen Hände würden Schrammen und Kratzer tragen, wenn sie es dennoch suchten.
„Adäquat." Sie nickte, äußerlich gefasst wie immer. „Wir müssen den Herrscher von Argon benachrichtigen. Am besten per Brief mit der kräftigsten und schnellsten Taube, die wir finden können."
„Was?" Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Belle, bei aller Liebe, es ist keine verlorene Taschenuhr, sondern das Kristallauge. Sowas gibt man nicht einfach zurück mit einem netten Briefchen und einem Tut-mit-sehr-leid."
Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich erkannte an dem festen Griff, wie sehr es sie anstrengte, ihre Gereiztheit im Zaum zu halten. „Wenn du den Kristall behältst, machst du dich strafbar. Etwas dieser Größenordnung ist Hochverrat."
„Gerade deswegen werde ich mich nicht verklagen lassen wegen Kennox' Problemen!"
„Im Zweifel für den Angeklagten. Erzähle ihnen von deinem Verdacht und du hast ein Königreich, dass dir beim Aufklären hilft und vielleicht sogar Kennox verhört. Deren Rechtssystem gehört zu den Effizientesten des Kontinents. Du bist unschuldig, also wird dir nichts passieren."
Ihr optimistischer Ton drang nicht in meinen düsteren Kopf vor. „Warst du schon Mal in Tallaj?"
„Die Schluchtenstadt? Nur drüber gelesen. Wieso?"
„Es ist meine Heimat. Dort findet man seltener Mitglieder der Friedensgarde, die ihre Macht nicht missbrauchen, als andersrum. Diebstahl, Mord, anzügliche Griffe und Vergewaltigungen. Alles schon gesehen. Alles unbestraft", spie ich die Worte aus. „Und weißt du, was passiert ist, als mein Bruder einen halbvollen Krug Wasser gestohlen hat? Nur einen winzig kleinen Krug... Sie haben ihn ausgepeitscht bis sein Rücken aussah wie frisches Hack!" Ein alter Schmerz quetschte mir den Brustkorb zu, aber Tränen flossen keine. Die hatte ich vor Jahren ausgeweint. Zum zweiten Mal an diesem Abend trat ein betretenes Schweigen ein.
„Das wusste ich nicht", sagte Annabelle.
Mein Geschreie sank ab auf ein zerbrechliches Flüstern. „Ich weiß, Belle. Aber verstehst du, was ich sagen will? Die Hohen aus Argon werden mir nicht helfen, denn das sind selber Gauner. Je mehr Macht, desto hinterhältiger."
Sie sprach jede Silbe mit Vorsicht aus wie das Tanzen auf einem Minenfeld. „Solche Pauschalisierungen sind eine Sünde, die Kriege ausgelöst haben. Es mag böse Leute unter den Hohen geben, aber genauso Gute. Und wenn das dich nicht anspornt, stelle dir vor, wie froh der Herrscher wäre, sein Relikt wiederzuhaben. Da fällt auch Geld für dich ab." Belle war die klügste Person, die ich kannte, aber in dem Falle spalteten sich unsere Meinungen.
„Mag sein. Die sind vielleicht froh, einen Sündenbock zu haben."
„Ich spiele diese Karte nicht gerne aus, aber ich bin von uns beiden gebildeter. Die Unschuld siegt in einem gerechten Prozess, wenn wir uns klug anstellen." Das klang wie das Ende einer Gute-Nacht-Fabel. Ein flüchtiger Blick zu mir und sie fügte hinzu: „Und wenn wir vorher den eigentlichen Übeltäter schnappen und ihn ausliefern? Dann bist du aus der Nummer raus und machst dich nicht strafbar."
Das klang logisch. Wie alles von ihr. Ich nickte und rang mir ein Lächeln ab.
„Meinetwegen. Ich rede mit Kennox. Er ist mein einziger Ansatz."
Belle hielt mich am Arm zurück, ehe ich aufstehen konnte. „Der übt noch mit Trix und Paps."
„Die offiziellen Proben sind doch längst vorbei?" Sie zuckte mit den Schultern. Kennox, dieser Verbrecher dachte sich jedes Mal einen neuen Weg aus, um mir zu entkommen. Wahrscheinlich hatte er geahnt, dass ich Belle zur Liebe sein Gespräch ablehnen würde. Vielleicht wollte er die Rolle als vernünftiger Unschuldiger bestärken vor den Augen der Direktors Tochter. Listig wie ein Schakal. Ich konnte nicht abwarten, ihn mir vorzuknöpfen.
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