Es sah aus, als hätte ein Sandsturm in meinem Zelt gewütet. Klamotten und Kostüme pflasterten den Boden, bunt schillernd und zerknautscht wie ein gefallener Pfau. Taschen und deren Inhalt verstreuten sich über den Kleidungshaufen. Meine Matratze bangte auf der Seite.
Ich erstarrte an der Zeltschwelle. Jemand ist hier gewesen. Mir drängte sich die üble Vermutung auf, dass es nicht zufällig gerade jetzt passiert ist.
Ich hob meine Kostüme auf und strich den jadegrünen Stoff glatt. Pailletten baumelten runter und stürzten beim Aufheben endgültig runter. Es gab keinen günstigen Ausweg, wie ich dem Boss das beibringen konnte, ohne dass es schlecht endete. Kurz vor der Premiere leistete ich mir einen Fehltritt nach dem anderen. Das ramponierte Kostüm war der letzte Feinschliff zum Brilliant meines Versagens. Mit einem schweren Seufzer legte ich die Säcke und Klamotten zusammen, unteranderem meine schwarze Kluft.
Ich stutzte.
Dieser Anzug gehörte nicht mir.
In meinen Händen hing ein geschmeidiger Stoff, verstärkt durch ein zweites Gewebe. Echte Seide hatte ich noch nicht oft in der Hand gehalten, aber ich wettete, das Weiche war welche. Daneben lagen Stiefel und ein Paar Handschuhe aus selbem Material. Alles zusammengeknüllt in einer Ecke, als hätte der Besitzer es in Eile ausgezogen. Mein Auftauchen musste ihn überrascht haben, sonst hätte er es mitgenommen. Aber warum es überhaupt ausziehen? So dunkel gekleidet wäre derjenige unsichtbar in der Düsternis zwischen Nacht und Tag. Wer gab diesen Vorteil gerne auf? Geschweige denn den Wert solchen Stoffs.
Ich tastete den Seidenanzug ab. Robuste Einlagen, verstärkte Ellbogen und Knie. Solide und biegsam zugleich. Das gehörte keinem armen Schlucker. Wer auch immer hier eingebrochen war, besaß viel Geld. Und da ich keins hatte, gab es nur eine Möglichkeit, nach was der Einbrecher gesucht haben könnte. Das Kristallauge. Ich schluckte schwer und der Anzug rutschte mir durch die Finger. Mit einem Klimpern rollte eine Goldmünze über den Boden. Ich untersuchte die Kluft erneut, dieses Mal gründlicher. Am Unterarm zerschnitt ein feiner Schlitz das ebene Schwarz und leitete zu einem versteckten Fach mit weiteren Münzen. Begierig fuhr meine Suche fort. Ich hoffte auf mehr Geld, aber der Gegenstand, auf den meine Finger trafen, wog zu leicht, um Gold zu sein. Im Licht erkannte ich, dass es ein zusammengerollter Pergamentfetzen war. Auf einer dunkelbesprenkelten Fläche standen krakelige Worte, als hätte ein Kleinkind zum ersten Mal den Stift in die Hand genommen. Täuschte ich mich oder hing ein metallisches Aroma in der Luft? Ich war kein guter Leser und nur anhand Belles Hilfe, beherrschte ich diese Fähigkeit überhaupt. Mit viel Fantasie musste ich mir die Worte zusammenreimen. Der Begriff im zweiten Absatz sah aus wie Mond oder Wand. Das dahinter könnte Loch sein. Mondloch? Wandloch? Der Rest ergab sich mir auch nicht nach langer Knobelei bis auf die Initialen E und F am Ende des Textes, sowie ein bestimmter Begriff inmitten des Buchstabenchaos: Kristall. Und die Striche dahinter bildeten Auge. Übelkeit stieg in mir auf. Diese Botschaft vernichtete meine letzten Zweifel über das Motiv des Einbrechers. Ich kannte keinen mit den Initialen E.F. und wusste zu wenig über Politik, um zu wissen, ob es zu einem Herrscher aus Argon gehörte. Vielleicht konnte Kennox mir mehr über seinen Freund E.F. erzählen.
Ich schlüpfte in frische Klamotten und stürmte zu dem Zelt, von dem ich glaubte, es sei Kennox'. Leer. Ich dachte, mich geirrt zu haben, doch auch in den anderen Behausungen fehlte von ihren Besitzern jede Spur. Mittlerweile tauchte das Licht der Morgensonne die grauen Lederplanen in ein glutrot. Mir dämmerte es wortwörtlich. Zum Anbruch des Tageslichts starteten die Proben. Ich änderte meinen Weg zum Zirkuszelt, die rote Spitze inmitten der faden Zufluchten, von der dumpfes Gerede ausging.
Was wenn der Einbrecher nie geflohen war und mich in dem Moment beobachtete? Ich guckte ruckartig über meine Schulter. Niemand da. Trotzdem glaubte ich den Blick zu spüren wie zwei Speerspitzen, die tiefer in meinen Rücken drangen mit jeder Sekunde, die ich mich nicht umdrehte. Mein Kopf schnellte wieder herum. Im Schatten von Trix Zelt kauerte eine Person. Ich schreckte zusammen. Es brauchte mehrere Herzschläge, bis ich realisierte, dass es nur ein Haufen übereinanderliegende Trockenfuttersäcke waren, die zusammen grob an die Silhouette eines Menschen erinnerten. Meine Schritte zum Zirkuszelt beschleunigten sich.
Sobald ich die Manege betrat, hielt mich eine kräftige Hand zurück. Ich unterdrückte mit Mühe einen Aufschrei.
„Soren, was tust du hier?", fragte der Boss.
Für einen ewigen Moment brachte ich keine einzige Silbe hervor. „Proben?"
„Was ist mit der Quarantäne?"
„Dem Heiler ist ein Fehler unterlaufen, deswegen haben sie mich früher gehen lassen", sagte ich wie auswendig gelernt. Erschreckend einfach floss mir die Lüge über die Lippen.
„Du siehst kränklich aus."
„Das verwechseln sie mit Müdigkeit."
„Lege dich lieber wieder hin."
Ich glaubte, mich verhört zu haben. „Scherzen sie?"
„Bin ich ein Mann mit viel Humor?", entgegnete er kühl. Der Boss klopfte mir auf die Schulter und ich fuhr abermals zusammen. „Tu dir etwas Gutes und lasse diese Probe ausfallen."
Kennox' narbige Gestalt streifte meine Sicht im Augenwinkel. Hass quoll in mir auf. Höchste Zeit ihn zur Rede zu stellen. „Nicht nötig. Ich fühle mich gesund genug, um heute mitzumachen", sagte ich gezwungen ruhig.
„Deine Gesundheit habe ich nicht angezweifelt, Junge. Ich denke dabei an mich. Selten warst du so erschöpft und müde Artisten kann ich mir für den großen Auftritt nicht erlauben." Das klang eher nach ihm.
„Aber wie wollen sie ohne mich das Hochseil-Kunststück proben?"
„Soren, ich schätze deinen Enthusiasmus, aber das war ein Befehl und keine Bitte."
Widerwillig kehrte ich zu meinem Zelt zurück und legte mich mit einem sandigen Knirsch-Geräusch auf die Matratze. Kennox konnte ich immer noch hinterher abfangen, versuchte ich mich zu trösten. Ich wälzte mich eine geschlagene halbe Stunde hin und her. Mein Körper sehnte sich nach Schlaf, doch mein Geist fühlte sich so wach an, wie nach einer Tasse Eveil nach Lynns Aussage. Ich erhob mich. Solange dieser E.F. sein Unwesen trieb, wollte und konnte ich nicht ruhig schlafen. Hätte er gewusst, wo ich den Kristall versteckt hielt, wäre er nicht in mein Zelt eingedrungen, sondern sofort zu den Schluchten gegangen.
Da ich keinen Schlaf fand, nutzte ich die Zeit und räumte Fleischreserven in ihre Dosen und Klamotten in die richtigen Säcke. Heißer Atem streifte meinen Nacken. Ich schoss herum. Durch einen Spalt im Zelt strömte warmer Windzug. Falscher Alarm. Ich zog die Zeltwand zu und es riss ächzend. Selbst am Material hatte der Boss gespart. Dafür wäre ich diesem Geizkragen am liebsten an die Kehle gesprungen. Besaß er ein Herz in der Brust oder hatte der Boss selbst daran gespart? Ich hatte gute Lust es rauszufinden. Meine Brutalität erschreckte mich. Die aufsteigende Wut verrauchte so schnell wie gekommen und hinterließ mich als kraftlose Hülle. Mein Körper fühlte sich so elendig an, wie mein zerrupftes Kostüm aussah. Mir widerstrebte es, dem Boss recht zu geben, aber ich brauchte diesen Moment Ruhe, ehe ich zusammenklappte. Aber der Einbrecher... Was wenn er wiederkam? In meinem Zelt befand ich mich auf dem Präsentierteller. Ich musste woanders mein Nickerchen halten!
Durch den Riss ersteckten sich weite Dünen, chilirot verfärbt in der aufgehenden Sonne. Keine Menschenseele weit und breit. Zur Linken bündelten sich die Lagerplätze anderer Artisten um das Hauptzelt in der Mitte, wo, von Musik begleitet, Schemen kunstvoll durch die Lüfte schwangen. Das hätte ich sein sollen.
Bis auf das schwache Lüftchen, das mit dem Zeltende rumspielte, regte sich nichts. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass mich jeden Moment eine schwarze Gestalt packen könnte und mir eine noch viel schwärzere Zukunft bescherte. Hätte ich doch nur etwas, um mich zu verteidigen. Ich raffte meinen Mut zusammen und huschte raus im Schatten fremder Zeltbauten. Zu Belle. Den Weg fand ich mit geschlossenen Augen.
Ihre Behausung stand nah am Zentrum und anstatt eines Zeltes, wohnte sie in einem Holzwagen von doppelter Größe. Die Stränge, womit die Kamele angebunden wurde, baumelte wie Schlangenleichen am linken Ende. Hingegen am Rechten war eine Tür ins Holz eingelassen. Ich rüttelte am Knauf. Abgeschlossen. Neben dem Türpfosten reihten sich auf einem Brett mehrere Topfpflanzen auf. Kleine Kakteen, von denen nur ein einziger mit einer abendhimmelrosa Blüte gekrönt war. Belles Liebling. Sie nannte ihn liebevoll Thea, benannt nach der ersten heiligen Seherin. Zudem bedeutete Thea in Karrizora, die Sprache der Karawanen, Schutz oder Wächter, wenn man Killiths Worten traute. Und tatsächlich bewachte diese kleine Pflanze etwas, das ich brauchte. Ein kupferner Schlüssel offenbarte sich mir, als ich den Topf anhob. Ich schob ihn in meinen Ärmel, trat einige Schritte zurück und schoss ohne Vorwarnung herum. Immer noch die Leere der Wüste. Ich hörte mich schnaufen. Ganz langsam schloss ich die Tür auf, glitt rein und schlug die Tür zu. Ich sperrte die Fenster ab und prüfte dreimal, ob ich abgeschlossen hatte. Erst dann erlaubte ich mir aufzuatmen und mir Kissen und Decke von Annabelles Bett zu packen. Ein echtes Bett, nicht bloß eine ausgesessene Matratze wie meine oder die vom Heilerbau. Es sah verführerisch weich aus und fühlte sich genauso an. Als würde ich einen Fennek streicheln. Aber wenn dieser geheimnisvolle E.F. die Tür aufbrach, wäre ich ihm im Bett am einfachsten ausgeliefert. Stattdessen schob ich einige Büchertürme beiseite und kauerte mich hinter das Wasserfass. Von da aus konnte ich in einem Spalt zwischen Fass und Wand den gesamten Raum überblicken, aber wurde selbst erst gesehen, wenn derjenige den gesamten Wagon durchschritt. Ich war sicher.
Unter dem Gestank von muffigen Büchern und abgestandener, kühler Luft, kauerte ich mich mit Kissen und Decke in die Ecke. Wenn ich tief einatmete, stieß mein Bauch gegens Fass und bei der kleinesten Bewegung, wackelten die Bücherstapel, die mich von zwei Seiten einkesselten. Endlich fand ich eine bequeme Pose und alles stand noch. Meine Nase juckte. Ich unterstand mich und stieß ein lautloses Seufzen aus. War das albern? Übertrieben? Ein wenig, aber immerhin ging es um den Dieb des Kristallauges. Ich mochte den Klang der Worte nicht, denn immerhin war ich kein Verbrecher. Nur ein Opfer der Umstände.
Ein müdes Opfer, das in der Illusion der Sicherheit seine verdiente Ruhe fand.
Ich schlief ein.
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