Kapitel VI
„Was?", giftete ich ihn an, „Wo ist deine große Klappe jetzt hin?"
Er schwieg.
„Du ruinierst mir alles und hast nichts zu sagen?" Meine Stimme wurde leiser mit jedem Wort, am Ende kaum mehr als ein zittriges Hauchen.
Kennox Mundwinkel zuckten hoch, amüsiert von mir. „Komm runter. Das nennst du ruinieren? Werde nicht dramatisch."
„Ich werde dramatisch? Du verstehst den Ernst der Lage nicht!" Das konnte er unmöglich so meinen. „Wenn die davon erfahren, kannst du dich von deinem alten Leben verabschieden."
Kennox wirbelte herum. Steife Gesichtszüge, eisige Ruhe. Er kam mir so nah, dass ich jedes Detail der Wundmale, sichtbar als rote Linien, auf der Stirn erfasste. Schnitte, die zwei parallele Striche bildeten. Eine schlängelte um seinen Nasenrücken, zogen sich bis zum Kinn. Die Narbe über der Braue verzog sich zu einer Schräge beim Zusammenkneifen der Augen. „Hör mir zu", sagte Kennox, „Ein Wort zum Boss und ich zeige dir, was Leben ruinieren wirklich bedeutet."
Hitze strömte mir in den Kopf und mein Körper bebte vor zurückgehaltener Wut. Ich lachte hysterisch. „Trau dich! Ärger vom Boss sollte dich noch am wenigsten fürchten!"
„Was ist falsch mit dir?" Kennox verdrehte die Augen, als stritten wir uns nur um die Farbe unserer nächsten Kostüme. „Dein Edelstein fühlt sich mehr zu dir hingezogen denn je. Das ist eine verdammte Ehre."
„Was ist falsch mit dir? Das ist mein Tod!"
Er wich zurück, genauso erschrocken wie ich selbst von meinem barschen Ton. „Du bist weg vom Programm, und? Ich werde dir ein würdiger Ersatz sein, keine Sorge." Es war wie ein Schlag direkt ins Gesicht. Ein Menschenleben mit einem Schulterzucken abtun - sogar für seine Verhältnisse barbarisch. Die Hoffnung, in diesem Kerl einen Funken Anstand zu finden, erlosch.
„Du herzloser, egoistischer Dämon!" Ich ballte meine Hand zur Faust. Die Nägel hinterließen schmerzhafte Abdrücke im Fleisch.
„Gib mir nicht die Schuld. Es wäre so oder so bald passiert."
„Wieso bald? Was weißt du noch?" Ich schritt auf ihn zu, bis uns nur eine Handbreite trennte. „Erzähl mir auf der Stelle alles!" Sein Atem kochte heiß auf meiner Haut. Schäumender Hass quoll in meinem Herz auf. Ich schwor mir: Ein falsches Wort und mein Zorn würde ihn von den Füßen fegen wie ein Sandsturm.
Kennox hob eine Braue und die Stirnnarbe verzog sich zu einem V. „Was?"
Meine Faust schoss nach vorne, riss seinen Oberkörper zurück. In einem Strom aus Schadenfreude ergoss sich die Kraft meiner Wut im Schlag. Kennox knickte unter einem Heulen ein. Sein Mund verzerrte sich zu einem stummen Schrei. „Bist du verrückt?"
„Das fragt mich der eiskalte Killer."
Seine Augen sprühten Funken und er rieb sich die rote Wange. „Ich habe hart gearbeitet und mir einen kleinen Vorteil verschafft. Was ist dabei? Du stellst dich an, als hätte ich deine Liebste umgebracht." Spielte er nur dumm oder verstand er nicht das Ausmaß von dem, was er getan hatte?
Ich packte ihn an den Armen, schüttelte seinen Oberkörper durch. „Warum mich?", schrie ich, „Warum mich? Ich habe dir nie etwas getan!"
„Autsch." Er stieß abgehackt Luft aus. „Der Schlangenbiss!" Sein Ton endete mit einer schrillen Kante.
Ich drückte fester zu. Seine Augen flackerten und er röchelte. Nein! Seine Grausamkeit entschuldigte nicht meine. Ich lockerte den Griff. „Du erzählst mir jetzt alles über... „
„Hilfe!", schrie Kennox, „Hilft mir jemand!"
Ich erstarrte für einen Wimpernschlag, presste ihm die Hand auf den Mund. „Sei leise."
Aus dem Stadttor, kaum zwanzig Meter mehr entfernt, stürmte ein Paar Wachen.
Ich ließ ihn los. Mein Körper versteifte sich.
„Was ist passiert? Wer hat gerufen?", fragte der eine Mann. Hinter dem steinstarren Gesicht ratterten eilige Gedanken. Ein Junge hielt einen anderen verletzten, weinenden Jungen an den Schultern fest. Ich fühlte mich abermals heute wie der wahre Kriminelle.
„Wir brauchen Hilfe", sagte ich, bevor Kennox den Mund öffnete, „Ihn hat eine Schlinge gebissen und er muss dringend zu einem Heiler." Dieses Mal fiel mir die Ausrede einfacherer, denn es war die Wahrheit, nur hatte ich einige Details ausgelassen.
„Dafür ruft man nicht die Stadtwache."
Kennox und ich tauschten einen finsteren Blick aus. Zu meiner Überraschung widersprach er mir nicht. Unter seiner Hand, gepresst auf den Biss, sickerte Blut. „Bringt mich zu dem verfluchten Heiler!"
Erst dachte ich, die Wache würde Kennox für die Unhöflichkeit rügen, doch der nahm ihn unter der Schulter und führte ihn zur Stadt. „Kommt mit."
Ich ging neben ihnen her. Sie umrundeten Kennox, rechts und links mit gehörigem Abstand, versperrten mir die Sicht. Kluge Idee, die Wachen zu rufen, aber ich werde herausfinden, was du verbargst und warum du mich so schrecklich gerne leiden sahst. Sobald du einen Fuß über die Schwelle setzt, werde ich nicht weichen, ehe ich Antworten bekam. Hoffentlich fühlte er sich unangenehm unter meinem finsteren Blick.
Sie führten uns durch ungewöhnlich leere Straßen zu einem massigen Gebäude, mindestens doppelt so groß wie das Zirkuszelt. Gebaut aus rotem Stein wie alle Häuser hier und durchlöchert mit kreisrunden Fenstern. Im Torbogen meißelten sich Sprüche in einer Sprache, die ich nicht verstand.
„Da wären wir."
Kennox trat ein. Ehe ich folgen konnte, legte sich eine Hand auf meine Schulter. „Du nicht", sagte die Wache.
„Warum?" Ich zwang mich zu einem neutralen Ton.
„So sind die Vorschriften in öffentlichen Gebäuden. Einer zurzeit."
„Seit wann?"
„Seit dem weißen Tod." Wieder diese verfluchte Krankheit. „Du darfst rein, wenn du ein Familienmitglied bist", sagte er mit einem verstohlenen Seitenblick auf meine Arme und Hände, „Jedoch seht ihr nicht verwandt aus."
Er war weder der Erste, noch der Letzte, der mich auf diese Weise anschaute. „Albinismus nennt man das. Deswegen die weiße Haut."
Der Gedanke, was Kennox anstellen könnte, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Er könnte mir entkommen und das Geheimnis mitnehmen. Oder mich gegen den Heiler aufhetzen. Mir blieb keine Wahl. Früher oder später würde er zum Zirkus zurückkehren müssen. Seinen wertvollen Fennek würde er für keinen Preis der Welt zurücklassen.
„Ich denke, ihr kommt klar."
Ich nickte.
Die Wachen rückten ab. Ich blieb zurück im Schatten des Torbogens in einer Stadt, so leise, als wäre sie von Toten bewohnt.
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