Kapitel III

Für ihr fortgeschrittenes Alter rannte Beja erstaunlich schnell. Mir rauschte das Blut in den Ohren und obwohl meine Beine sich beschwerten, hielt ich nicht an. Ich warf einen Blick über meine Schulter und stolperte fast. Sie kam immer näher.

Ich sah wieder nach vorne, bremste abrupt ab und stürzte auf die Knie. Vor mir zerteilte ein gewaltiger Riss den Boden und grenzte Nevel vom Rest der Welt ab. Die andere Seite der Schlucht verschwamm mit dem Sand zu einer einzigen Farbe, die den genauen Abstand unmöglich zu schätzen machte.

„Gib mir bloß den Beutel mit dem Fleisch wieder. Ich will keinen Ärger." Schnaufend wurde Beja langsamer.

Ich rappelte mich auf und wich zurück, bis meine Fersen zur Hälfte über der Schlucht hingen. Ein Kiesel löste sich, aber ich hörte den Aufprall nicht. Dafür war es zu tief.

„Geh vom Rand weg." Sie streckte die Hand aus, als wolle sie mir das Tuch vom Kopf reißen. Uns trennten nur noch wenige Meter.

Bitte einen Applaus für Soren, unser jüngstes Talent auf dem Hochseil, klang mir die Stimme des Bosses in den Ohren. Hoffentlich reichte dieses Talent aus. Ich sah runter, holte tief Luft und trat über die Kante.

Beja kreischte, schnappte nach mir, aber es war zu spät. Ich krachte auf den Vorsprung, den ich von oben ausgemacht hatte, und klammerte mich zitternd an den Fels. Ich nahm den Beutel zwischen die Zähne, er schmeckte nach Sand, Schweiß und Leder. Schnaufend griff ich zum Felsknubbel neben mir und kletterte immer weiter runter. Bauch an der Steinwand, Fuß am nächsten Vorsprung.

„Das ist Selbstmord!", schrie Beja verzweifelt und beugte sich über den Schluchtrand. Womöglich hatte sie recht.

Unter ihrem Zetern ließ ich mich mehr fallen als Klettern und erlaubte mir erst auf einem flacheren Stück eine Atempause. Die Steinwand lief herab ins Endlose und weit unter mir durchbrachen mannshohe Löcher den Fels. Sie reihten sich aneinander in einer künstlichen Ordnung. Annabelle hatte mir auf unserer Anreise über diesen Ort erzählt. Der rote Quarzit, aus dem die Hälfte der Häuser hier bestand, wurde aus diesen Tunneln geborgen. In der gesamten Schlucht, die einmal im Kreis um Nevel führte, waren überall alte Stolleneingänge verstreut. Darauf hatte ich gehofft, denn ewig herabklettern konnte ich nicht.

Beja schien hin- und hergerissen, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und trat schließlich aus meiner Sichtweise. Holte sie Hilfe aus dem Zirkus? Leute wie Trix wären geschickt genug, um mir hierunter zu folgen, und dann gab es kein Entkommen mehr. Ich beendete die Pause und hangelte mich immer tiefer herab. Die gigantische Felswand von der gegenüberliegenden Seite warf einen kühlen Schatten, der mir die Sicht trübte, aber die Tage in den Erzminen hatten mich gelehrt, auf meine anderen vier Sinne zu vertrauen.

Meine Zehen ertasteten eine größere Vertiefung unter mir. Der Lichtstreifen des Himmels hatte sich verschmälert auf die Breite eines Strohhalms, also musste ich ungefähr auf der Höhe der Minen sein. Ich umschloss den Felsvorsprung mit beiden Händen und glitt ein Stück runter. Wie ein totes Herbstblatt, das wartete, vom Wind gepflückt zu werden, schwang ich hin und her. Dann ließ ich los.

Ein plötzlicher Schmerz sprengte meinen Schädel und ich brüllte dumpf durch das Leder. Etwas Heißes floss meine Stirn herunter und verklebte mir die Wimpern, aber die Angst vor mehr Leiden hielt meine Hände unten.

Nass von Spucke und Schweiß glitt der Beutel durch meine Zähne und mit einem Klonk kam er auf, rollte tiefer in die Dunkelheit. Schwer atmend blieb ich liegen. jeder Knochen meines Körpers tat weh. Das Hochseil war ein Spielzeug dagegen.

Als ich wieder einatmen konnte, ohne das mir weiße Punkte vor den Augen tanzten, hievte ich mich auf und musste nicht lange nach dem Beutel suchen. Wie ein vom Himmel gefallener Stern glomm das Kristallauge in einem nebligen Licht neben dem schlaffen Leder. In Bejas Zelt hatte ich es für eine gelungene Lichtspiegelung gehalten, aber in den Tunnel reichte kein einziger Strahl Tageslicht. Vielleicht war diese Fähigkeit einer der Gründe für den hohen Wert des Steins. An jedem anderen Tag hätte ich es faszinierend gefunden, doch heute erschwerte mir der Anblick nur das Herz.

Ich wankte zum Kristall, hob ihn auf und keuchte. Ein Energieblitz durchschoss mich und stellte mir die Nackenhaare auf. Es kitzelte auf der Haut, schluckte den Schmerz und kurzzeitig flackerte mir schwarz vor Augen. In der nächsten Sekunde war der Energieblitz verpufft. Seltsam. Ich musste mir den Kopf schlimm gestoßen haben, wenn ich schon Halluzinationen sah.

Falls Beja tatsächlich jemanden suchte, um mich zu schnappen, sollte sie bald zurück sein. Ich könnte den Kristall einfach über die Klippe stoßen, aber der Gedanke allein ließ mir übel werden – vielleicht war meine blutende Stirn daran auch nicht unschuldig. Nach Jahren des Edelsteinschleifens brachte ich es nicht übers Herz, so ein Meisterwerk wegzustoßen. Auch wenn ich es hasste, hasste und respektierte. Ich blickte zum Kristallauge. Es beleuchtete die Tunnel vor mir wie eine Aufforderung weiterzugehen. Lag Annabelle richtig, endeten die Stollen mitten in Nevel und würden mich rausbringen, ohne die Schlucht wieder hochkraxeln zu müssen. Nebenbei bot sich die perfekte Gelegenheit, um den Kristall in einen der Minenschächte loszuwerden.

Ich irrte eine Weile durch die Tunnel. Im Lichtkegel glitzerten die Wände in dem satten Rot der Quarzite genauso wie alle Gänge hier. Nicht mal Werkzeuge oder irgendwas anderes zur Orientierung hatten die Arbeiter hinterlassen. Es gab nur die roten Minen und ich, ein verletzter und unschuldiger Zirkusjunge, ein Opfer seiner Umstände.

Der Weg verlief immer tiefer ins Herz des Untergrunds. Zögerliche Zuversicht erwärmte meine Brust und zusammen mit den vertrauten Minenschächten, die Erinnerungen von zuhause aufsteigen ließen, glaubte ich erstmals wieder an ein gutes Ende.

Mit der Zeit veränderte sich die Mine und die senkende Decke des Stollens zwang mich, auf den Knien weiter zu robben, wobei ich mit der Nase das Kristallauge in die richtige Richtung stupste, da ich meine Hände kaum noch strecken konnte. Der Kristall stoppte und der Schwung rammte meine Stirn gegen den Stein. Ich sog scharf Luft ein. Hier endete der Tunnel. Nicht der erhoffte Ausgang, aber ein sichereres Versteck für unverhoffte Kostbarkeiten gab es nicht.

„Auf Nimmerwiedersehen", spie ich. Blut tropfte mir auf den Nasenrücken, lief runter und befleckte den unschuldig leuchtenden Kristall. Ich hasste ihn mit jeder Zelle meines Körpers. Auf meiner Liste von verhassten Mineralien war er in Kürze auf den ersten Platz geklettert. Wer mir auch immer diesen Pechbringer in den Schoß gelegt hatte, durfte viel Spaß haben, ihn hier rauszuholen. Hoffentlich litt er genauso und stieß sich mindestens einmal den Kopf in diesem Labyrinth.

Ich wollte zurück kriechen, aber mein Körper rührte sich nicht. Weder vorwärts, noch rückwärts.

Ich saß fest.

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