Kapitel II
Ein Ruck durchfuhr meinen Körper und die groben Maschen des Fangnetzes bewahrten mich vor einem tödlichen Sturz.
„Was soll das, Soren?", rief der Boss und fuchtelte wild mit den Händen, „Konzentriere dich!"
Annabelle eilte herbei und half mir aus dem Netz. In ihren saphirblauen Augen lag ein merkwürdiger Glanz, den ich nicht benennen konnte. „Alles in Ordnung?", sagte sie.
„Ja, nichts passiert." Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um mich nicht zu übergeben.
„Du siehst auch gar nicht gut aus. Wirst du krank?"
„Blass genug, um als krank durchzugehen", scherzte ich, aber verschloss die Lippen gleich wieder, der Übelkeit wegen. Ob Beja schon entdeckt hatte, was in der Tasche lag?
„Ich rede nicht von der Albinismus-Blässe, Soren." Annabelle seufzte. „Du solltest dich von Killith untersuchen lassen. Bei der Premiere musst du fit sein."
„Meinetwegen." Ich ließ ein Stück meiner echten Bedrücktheit durchschimmern. „Muss eine Krankheit aus der letzten Stadt mitgeschleppt haben."
„Hoffen wir nicht", sagte sie. „Damit ist nicht zu scherzen, solange der weiße Tod rumgeht." Jetzt erkannte ich den Ausdruck in ihren Augen, den auch der gelassene Tonfall nicht überspielen konnte. Sorge.
„Weißer Tod?", wiederholte ich.
„Sag bloß, du hast davon nichts mitbekommen. Liest du keine Zeitung?"
„Nein und das weißt du auch." Mit Mühe unterband ich einen genervten Tonfall.
„Killith wird es dir besser erklären können als ich."
„Annabelle, Soren, was redet ihr noch? Auf eure Positionen", befahl der Boss.
„Entschuldige, die Pflicht ruft." Belle gab mir einen flüchtigen Wangenkuss, flitzte zurück zu ihrem Vater und reihte sich neben den Bauchtänzern ein. „Paps, schon gut. Er muss untersucht werden vom Heiler."
Der Boss zog die Stirn kraus. Jeder andere hätte für diesen spitzen Tonfall ein Donnerwetter kassiert, aber nicht seine Tochter. Er seufzte und warf mir einen stechenden Blick zu. „Beeil dich, Junge."
Ich nickte hastig und sobald sie mich nicht mehr sahen, machte ich auf den Absatz kehrt und stürmte zu Bejas Zelt. Es stach heraus mit den weißen Fellen vor dem Eingang, die ihr Neffe Rufus regelmäßig aus deren Heimat, den Bergen, holen ließ. Ich wurde langsamer, blieb mit hämmerndem Herz stehen und horchte. Im Hintergrund spielte das Zirkus-Orchester die ersten Klänge, der Wind johlte begeisterte mit, doch aus Bejas Zelt drang kein Laut.
Auf Zehenspitzen schlich ich rein. Fahles Licht ließ die taubengrauen Tücher, die sich unordentlich am Rand türmten, schwarz erscheinen und der falsche Silberschmuck grau wie Kieselsteine. Zur Rechten standen eine Matratze, verschiedene Beutel, elfenbeinfarbenen Schnitzereien und ihre Flöten. Von Beja und der Tasche fehlte jede Spur.
Mein Fuß verfing sich in etwas Weichem und ich krachte der Länge nach hin. Hoffentlich hatte das niemand gehört! Ich rappelte mich auf und erstarrte in der Bewegung. In den Schmuck-Plättchen neben mir glommen die Umrisse eines mandelförmigen Kristalls. ie Stolperfalle entpuppte sich als dicke Lagen Stoff, die eine allzu bekannten Tasche verdeckten. Ich rupfte das Kristallauge hervor und stopfte es in einen leeren Beutel, in dem einst Trockenfleisch gelagert worden war.
Schweißperlen liefen mir die Schläfe herab. Der schwierigste Teil war geschafft, jetzt musste ich den Kristall nur noch wegschaffen und warten, bis eine andere unglückliche Seele es fand. Spätestens, wenn der Zirkus in einer Woche weiterzog, lastete dieses Problem nicht mehr auf meinen Schultern.
Sobald ich einen Fuß raus setzte, erklang Stimmengewirr von der Ferne und zwang mich, zurück ins Zelt zu eilen. Warum ausgerechnet jetzt? Ich schluckte die Wut runter und mir wurde erneut übel.
„Glaubst du, Soren hat den weißen Tod?", fragte eine piepsige Stimme, die ich als Trix identifizierte. „Die Feuerschlucker meinten, dass er die Symptome erfüllt, wie die Blässe. Nur ist er immer weiß wie eine Kalkwand. Wie unterscheidet man da?"
„Keine Ahnung", brummte Kennox.
„Und was, wenn er alle ansteckt? Aber hier in Nevel haben die auch eine bessere Versorgung und das Geld dazu. Vielleicht helfen sie uns dann auch?"
„Wenn wir auf die Hilfe dieser Geldsäcke warten, können wir auch alle zusammen in den Tod springen."
Sie stoppten. „Sei nicht so negativ. In Gefahr halten die Leute zusammen."
„Wie viel weißt du von echter Gefahr? Du bist nur eine dumme Göre", blaffte Kennox.
„Du bist gemein!" Ich hörte ein Aufstampfen.
„Nicht gemein. Nur ehrlich."
Es folgte eine Pause, ehe Trix zischte: „Hoffentlich holt dich der weiße Tod."
„Ich habe gehört, ein Symptom vom weißen Tod ist Verwirrtheit", sagte er herablassend, „Du bist mehr als ein bisschen verwirrt, wenn du glaubst, einer dieser arroganten Schnösel würde dich retten wie ein Prinz aus Bejas Sagen."
Schwere Fußstapfen entfernten sich und die tippelnden Schritte von Trix folgten. Endlich waren sie weg.
Was jetzt? Wenn ich das Kristallauge zu nah am Zirkus versteckte, würde es die Wachen geradewegs zu uns nach Hause locken. Ich stieß einen Seufzer aus. Annabelle wüsste, was zu tun wäre und der Wunsch, ihr von meinem funkelnden Problem zu erzählen, meldete sich einmal mehr. Vielleicht sollte ich so weit weg wie möglich vom Zirkus wegrennen, den Beutel fallen zu lassen und nie wieder zurückzukehren. Einfach und gut.
Ich band mir eins von Bejas Tüchern um, schob es bis über die Nase, und eilte mit gesenktem Kopf durch die Zeltstadt. Bloß weg hier. Bloß weg-
„Hey!" Beja lief schnaufend von den Kamelställen in meine Richtung. „Verfluchte Schmarotzer, gib mein Trockenfleisch zurück!"
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