8. Reue

R E U E

Dorcas Meadowes

*****

Dorcas konnte sich nicht konzentrieren. Sie saß in der Bibliothek, vor ihr eine leere Pergamentrolle, fünf Fuß lang, die sie morgen an Professor McGonnagal abgeben musste. Einen ganzen Stapel Bücher hatte sie sich dafür geholt, hatte sich alles durch gelesen und doch nichts verstanden. Alles nur um sich abzulenken von dieser einen verdammten Sache. Sie seufzte und starrte noch einmal intensiv auf das Stück Pergament vor sich, in der Hoffnung etwas Inspiration zu finden. Vergebens. Stöhnend ließ sie ihre Stirn auf das Pergament fallen und schüttelte ergeben den Kopf. Es hatte ja doch keinen Zweck. Dann kassierte sie eben ein T bei der McGonnagal. Was machte das schon? Völlig irrelevant im Vergleich zu anderen Dingen. Ihrem gebrochenen Herzen zum Beispiel.

„Hey, Dorcas!" Sie schrak auf. Remus, ihr Lernpartner, stand vor ihr mit seinen Büchern in der Hand und offensichtlich etwas verlegen.

„Darf ich mich setzen oder möchtest du...?"

„Nein, bitte. Setz dich", sagte sie eilig und räumte ihre Sachen etwas zusammen, damit er Platz hatte. Am liebsten hätte sie ihn allerdings fortgeschickt. Sie hatte seinen Blick gesehen. Mitleidig, verunsichert und gleichzeitig auch ein wenig vorwurfsvoll. Er wusste es. Natürlich wusste er es. Bestimmt wusste es die ganze Schule. Bei den Ravenclaws hatte sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer verbreitet und selbstverständlich war es auch bei den Gryffindors angekommen. Das Traumpaar der Schule hatte sich getrennt! Und wie! Alle, die nicht sowieso bei ihren großen, öffentlichen Streit dabei gewesen waren, hatten es spätestens am selben Abend noch von ihren Freunden erfahren. Es war skandalös, hätte es eine Schülerzeitung gegeben, wäre die Story sicherlich auf das Titelblatt gekommen.

Dorcas hatte die Aufmerksamkeit der Schule genossen, als sie alle noch um ihre tolle Beziehung beneidete. Ende der 4. Klasse waren sie zusammengekommen. Genauso öffentlich, wie sie sich auch wieder getrennt hatten. Ein ganzes Jahr waren sie umeinander herumgeschlichen, beide bis über beide Ohren verschossen, aber viel zu schüchtern, es zu zugeben. Die Angst vor einer Ablehnung war groß, schließlich hatten sie nur ein paar Fächer zusammen. Als Dorcas nach den Osterferien sogar von einer Slytherin aus der siebten Klasse angesprochen wurde, dass sie sich doch endlich mal mit Benji treffen sollte, wurde ihr klar, dass die gesamte Schule ihre Rumdruckserei kopfschüttelnd beobachtete. Also riss sie sich zusammen und sprach ihn an - mit Erfolg, denn ein Wochenende später gingen sie gemeinsam in die Drei Besen und die gesamte Schule atmete auf. Sicherlich wären Tränen vergossen worden, wenn nie etwas aus den beiden geworden wäre, scherzten Einige erleichtert und betrachteten das glückliche Paar wohlwollend. Andere klopften sich selbst auf die Schulter und behaupteten, sie allein wären dafür verantwortlich und hätten die beiden verkuppelt. Doch alle waren sie sich einig: Diese Beziehung war ein Schritt nach vorn über die Häusergrenzen hinweg, denn eine Beziehung zwischen einer Ravenclaw und einem Slytherin; so etwas hatte es noch nie gegeben - zumindest nicht, seit dem sie auf der Schule waren.

Die frisch Verliebten schienen sich aus der ganzen Aufmerksamkeit nichts zu machen, sondern hatten nur Augen für sich.

So weit so gut und bald ging der Trubel um Dorcas und Benji etwas zurück. Hin und wieder erkundigte sich jemand, wie es denn lief oder vereinzelte, einsame Mädchen beneideten Dorcas um ihren tollen Freund. Aber eins war sich sicher: Das ist eine Liebe, die ewig hält.

Umso größer war der Schock, als sie sich gestern trennten. Dorcas konnte es selbst noch nicht richtig fassen. Dabei war es alles ihre Schuld gewesen.

Dorcas und Benji hatten sich gestritten. So heftig wie noch nie. Sie haben sich richtig angeschrieen und dann auch noch mitten in der Eingangshalle kurz vor einem Hogsmeadeausflug. Kein Wunder, dass die gesamte Schule ein paar Stunden später genau wusste, was los war.

Dorcas machte sich nämlich schon lange Gedanken darüber, wohin mit sich, wenn sie mal nicht mehr in Hogwarts sein würde. Schließlich waren sie in der siebten Klasse und der Abschied von der Schule war nicht mehr lange hin. Dorcas träumte davon, eine Ausbildung zur Zaubertrankmeisterin zu machen und vielleicht ihre eigene kleine Apotheke aufzumachen. Doch ihre Traumakademie mit den besten Lehrern lag in Russland, mitten in der Pampa.

Benji dagegen war nicht so abenteuerlustig. Er plante in England zu bleiben und eine Ausbildung im Ministerium anzufangen. Das hieß also Fernbeziehung. Allein schon von dem Wort wurde Dorcas schlecht.

Vor einer Woche hatte Dorcas die Zusage der Akademie bekommen und sich gefreut wie eine Schneekönigin. Doch bevor sie die Anmeldung endgültig abschließen konnte, musste sie Benji davon erzählen - und der war gar nicht begeistert. Sie hatte es in einem Nebensatz erwähnt, während sie die Große Halle in Richtung Eingangshalle verließen, hatte genuschelt und weg geschaut, in der Hoffnung, er würde es einfach überhören. Doch das tat er nicht. Zu erst diskutierten sie leise, dann schaukelte sich der Streit immer weiter hoch, bis Benji schließlich wütend stehen blieb und laut wurde.

Sie würde ihn vernachlässigen, die Beziehung wäre ihr plötzlich weniger wichtig geworden, als ihre Karriere, hatte er ihr vorgeworfen. Sie könne die Ausbildung genauso gut in England machen und außerdem war nichts von all dem abgesprochen und sie hätte ihm viel früher davon erzählen müssen, argumentierte er. Sie hatten nämlich schon Monate vorher über ihre Zukunft gesprochen und hatten einen lockeren Plan aufgestellt, sich gemeinsam in London niederzulassen. Doch Dorcas hatte eigentlich schon da gewusst, dass sie mehr von der Welt sehen wollte.

Sie entgegnete Benji, er würde sie einengen, würde sie und ihren Willen nicht respektieren und egoistisch sein.

Der Streit dauerte noch nicht lange, da setzte Benji dem Ganzen die Krone auf und spie ihr ins Gesicht, wenn sie Schluss machen wolle, dann solle sie das lieber direkt sagen, anstatt sich eine faule Ausrede zu suchen. Da reichte es Dorcas und wütend schnaubend stürmte sie in ihren Schlafsaal zurück.

Doch damit war es noch nicht genug. Streits gehörten zu einer Beziehung dazu und wegen Meinungsverschiedenheiten machte man nicht gleich Schluss. Doch Dorcas hatte sich in ihre Wut reingesteigert. Die ganze Nacht schimpfte sie vor ihrer Freundin über den egoistischen, klammernden Benji, der immer seine Bedürfnisse über die ihren stellte. Am nächsten Tag stand ein Quidditchspiel gegen Slytherin an. Dorcas besuchte das Spiel nicht, um ihre Hausmannschaft anzufeuern. Stattdessen saß sie allein in ihrem Schlafsaal und schwankte zwischen Weinen und Schimpfen. Spätestens als die Ravenclaws grölend wieder in den Turm strömten, wusste sie, dass ihre Mannschaft gewonnen hatte und ließ sich von ihrer Freundin überreden, ein wenig mitzufeiern.

Nach dem ersten Becher Feuerwhiskey war ihr zum Heulen zu mute. Nach dem Zweiten merkte sie, wie der Alkohol ihr zu Kopf stieg. Nach dem dritten, redete sie sich ein, dass sie wunderbar ohne Benji zurecht kam und er sich bloß nichts einbilden sollte. Nach dem Vierten stand sie knutschend mit dem Ravenclawhüter in einer Ecke.

Der Sonnatgmorgen kam schnell und Dorcas erwachte mit dröhnenden Kopfschmerzen und in dem Armen des Hüters auf einem Sofa im Gemeinschaftsraum - immerhin war sie noch angezogen. Erschrocken sprang sie auf und wollte sofort Benji bescheid sagen. Doch der wusste natürlich schon davon. Als sie ihn am Frühstückstisch des vollen Slytherintsiches fand, sah er sie nur enttäuscht und verbittert an und meinte, er hätte es schon kommen sehen und dann sei die Lage ja jetzt wohl geklärt. Dorcas merkte nicht mal, dass die gesamte Große Halle den Atem anhielt, als ihr die Tränen kamen und sie Benji verzweifelt um Verzeihung bat. Der schloss nur schmerzerfüllt die Augen und wandte sich von ihr ab.

„Geh einfach, Dorcas. Ich halt's in deiner Nähe gerade nicht mehr aus. Viel Spaß in Russland", hatte er gesagt und Dorcas stand da und konnte nur sich selbst verfluchen.

„Schlampe!" rief jemand leise vom Gryffindortisch und ein empörtes Zischeln ging durch die Halle. Doch er hatte ja irgendwo recht, dachte Dorcas, als sie unter den vorwurfsvollen Augen von Hogwarts zu ihrem Haustisch schlurfte.

Und jetzt, einen Tag später, saß sie verzweifelt in der Bibliothek und versuchte so zu tun, als sei nichts gewesen. Dabei hatte sie es sich gerade mit der großen Liebe ihres Lebens verscherzt. Jedes mal, wenn sie ihn heute getroffen hatte, hatte er weg gesehen und sie ignoriert. Dafür schauten die meisten anderen Hogwartsschüler um so mehr, allerdings eher verächtlich oder vorwurfsvoll bis hin zu mitleidig.

„Ist alles okay?", fragte Remus sanft, nach dem sie zehn Minuten lang verzweifelt in die Luft gestarrt hatte.

„Klar", antwortete sie sarkastisch, „meine große Liebe hat mich verlassen und ich bin schuld daran, ganz Hogwarts hasst mich und in Verwandlung werd ich durchfallen. Klar ist alles okay!" Sie gab einen verzweifelten Laut von sich vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.

„Ich hasse mein Leben", jammerte sie und beinahe kamen ihr wieder die Tränen.

„Hey, es wird alles wieder besser werden, okay? Du bist bald hier weg und wirst ein neues Leben anfangen können und- oh oh." Er unterbrach sich und Dorcas blickte auf.

„Was ist?" Remus schluckte.

„Nichts", beeilte er sich zu sagen und tat, als wäre nichts geschehen, doch zu spät. Dorcas hatte ihn schon gesehen. Benji war in der Bibliothek und zwar ganz in ihrer Nähe und suchte ein Buch in einem der Regale.

„Oh nein, nein, nein, nein", murmelte Dorcas hektisch und wischte sich über die Augen.

„Sieht man, dass ich geweint hab?", fragte sie schnell und Remus schüttelte den Kopf ohne hinzusehen. Aufgeregt richtete Dorcas ihr Haar und zog ihren Ausschnitt etwas herunter. Schließlich sollte Benji sehen, was er verpasste. Doch er schaute absichtlich nicht zu ihr herüber. Dorcas war sich sicher, dass er sie beim Reinkommen gesehen hatte.

„Hör mal, Dorcas, vielleicht solltest du noch mal mit ihm reden", flüsterte Remus ihr nach einer Weile zu, als er merkte, dass sie Benji verträumt anstarrte.

„Was?!" Erschrocken sah sie ihn an. „Das geht nicht, das kann ich ich nicht. Was soll ich denn sagen?"

„Die Wahrheit und eine Entschuldigung", entgegnete Remus mit einem schwachen Lächeln. „Das würde schon reichen." Dorcas schluckte. Er hatte Recht.

„Okay." Sie atmete tief durch und stand auf. „Ich mach das jetzt. Ich kann das und ich schaff das." Entschlossen lief sie auf Benji zu.

„Hi, Benji." Bestimmt hatte er ihre Stimme erkannt, denn er drehte sich nicht sofort um.

„Hi."

„Können wir kurz reden?" Jetzt drehte er sich doch zu ihr um. Ihre Knie wurden weich und der Kloß in ihrem Hals vergrößerte sich.

„Was gibt es noch zu reden?", fragte er und Dorcas konnte mit Mühe die Tränen unterdrücken. Diese lieben, braunen Augen, die sie noch vor einer Woche sanft und liebevoll angesehen hatten, waren nun kalt und stumpf.

„Bitte", flehte sie. Er seufzte und sah sich kurz um. Erst jetzt realisierte Dorcas, dass das leise Murmeln in der Bibliothek auf einen Schlag verstummt war und alle Augen auf sie gerichtet waren.

„Na schön", gab er nach, „aber lass uns irgendwo anders hin gehen." Sie nickte und sah ihn fragend an. Er zuckte mit den Schultern und sie liefen los. Stumm hatten sie sich auf einen Ort geeinigt, zu dem sie schon immer gegangen waren, wenn sie etwas Ruhe brauchten. Als sie die dunkle Besenkammer betraten, spürte Dorcas einen schmerzhaften Druck auf dem Herzen. Zu viele Erinnerungen an intime Gespräche und intensive Knutschereien verband sie mit diesem Ort.

„Was ist?" Abweisend sah er sie an und verschränkte die Arme. Sie wand sich, errötete vor Scham und sah auf den Boden.

„Ich weiß, ich hab mich gestern morgen schon entschuldigt und alles, aber ich dachte, dass du wenigstens eine Erklärung verdient hättest", murmelte sie und biss sich auf die Lippe, um die Tränen zurück zu halten.

„Ich wollte eigentlich nicht auf die Feier, aber Lucy hat mich überredet. Und ich war so wütend auf dich, wegen unserem Streit und dann war ich auch noch betrunken. Und ich weiß schon lange, dass Robin seit Monaten auf mich steht. Er war halt gerade da und wir beide waren sturzbesoffen. Ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist, aber zumindest ein Grund." Sie wartete einen Augenblick auf einen Kommentar von ihm, doch es kam keiner. Seine Mine hatte sich seit Beginn der Erklärung kein Stück verändert. Wie eine Statue, eine unfreundliche, kalte Statue, lehnte er an der Wand und sah sie emotionslos an. „Und du musst wissen, dass ich noch nie etwas so sehr bereut habe, wie das und am liebsten die Zeit zurückdrehen würde und alles noch mal von vorne machen würde. Ich würde dir einfach früher von Russland erzählt haben und wir würden nie diesen blöden Streit gehabt haben und- verdammt!" Jetzt kamen ihr doch die Tränen und einen Schluchzer konnte sie auch nicht unterdrücken. Bildete sie sich das ein oder wurden seine Gesichtszüge plötzlich ein wenig weicher? Nein, vermutlich war es Wunschdenken.

„Ich will dich nur wissen lassen, dass ich dich noch immer liebe. Und dass es mich jedes mal zerreißt, wenn ich daran denke. Und dass ich jetzt wahrscheinlich als alte Katzenfrau enden werde, weil ich nie jemand anderen finden werde", fuhr sie mit weinerlicher Stimme fort und schniefte. Beschämt wischte sie sich über die Augen. So eine großen Gefühlsausbruch hatte sie nicht geplant. Doch die Art wie er sie ansah zerfetzte ihr Herz in tausend Stücke, ihr ganzer Körper schien zu schmerzen und der Druck auf ihrer Brust schien ihr die Luft heraus zu pressen. Für ein paar Sekunden hörte sie nur ihre eigenen Schluchzer und Schniefer. Benji sagte nichts, sondern musterte sie nur berechnend. Schließlich stieß er sich von der Wand ab.

„Bist du fertig?", fragte er kalt. Dorcas sah ihn fassungslos an und beinahe kochte die Wut wieder in ihr hoch. Sie hatte ihm gerade ihr Herz ausgeschüttet, war in Tränen der Verzweiflung ausgebrochen und dann kam so etwas? Sturer Esel! Als sie nichts sagte, drehte er sich zur Tür und öffnete sie. Dorcas sah ihm wie vor den Kopf geschlagen hinter her. Kurz bevor er aus der Tür trat, blieb er noch mal stehen und drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht schien etwas freundlicher und in seinen Augen blitze ein Funke Wärme und Zuneigung auf.

„Gib mir Zeit", sagte er noch, dann verschwand er endgültig. Dorcas wusste: Noch war nicht alles verloren.

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