7. Schmerz
S C H M E R Z
Lily Evans
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Lily Evans saß auf einer einsamen Bank am See und weinte. Das geschah selten, äußerst selten. Sie war keine Person, die gerne überdramatisierte, sich im Selbstmitleid suhlte oder Mitleid anderer suchte. Lily weinte leise und allein, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen und ohne ihre Freunde sehr beunruhigen zu wollen. Auch dieses Mal hatte sie sich zum Weinen einen stillen Ort ausgesucht.
Es war spät, bestimmt schon nach der Sperrstunde, und die Sonne war schon längst untergegangen. Ein Nebelschleier war aufgetaucht und verlieh dem Gelände ein gespenstisches Aussehen. Lily sah auf den See und schniefte. Sie versuchte, sich zusammen zu reißen, versuchte, wieder in ihre Rolle zurück zu kehren. Die Schulsprecherin zu sein, die resolute, starke Frau, die alles unter Kontrolle hatte und diszipliniert war. Der Moralapostel, der (meistens wegen Marlene) seine Moral manchmal kurz vergaß, die Streberin, die beste Freundin, die nervige Musterschülerin, Lieblingsschülerin, das schmutzige, unwürdige Schlammblut oder wie auch immer die anderen Leute sie sahen. Doch es gelang ihr nicht. Der Verlust war zu groß, die Enttäuschung zu tief gehend, die Tränen zu übermächtig.
„Wie kann sie nur", hauchte sie zwischen den Schluchzern, „wie kann sie es wagen?"
Sie war überrascht gewesen, als sie den Brief von ihrer Schwester bekommen hatte. Nach dem großen Streit in den letzten Sommerferien hatte Lily nicht erwartet, je wieder etwas von Petunia zu hören. Lily hatte ihr bloß zum Geburtstag gratulieren wollen, doch wie jedes ihrer Gespräche war auch dieses ausgeartet. Krank und ekelerregend, hatte ihre Schwester sie genannt und ihr an den Kopf geworfen, sie wolle Lily nie wieder sehen und sie solle es nicht wagen, jemals wieder zu ihr Kontakt aufzunehmen. Lily war wütend gewesen, und wie! Am liebsten hätte sie die Erinnerung aus ihrem Kopf gelöscht. Was sie Petunia an diesem Abend ins Gesicht gesagt hatte, war grausam gewesen. Sie konnte die Szene noch vor ihre Augen sehen. Petunias empörtes nach Luft schnappen, ihr monströser Verlobter, der sie mit hochrotem Kopf anschrie, sie solle das Haus verlassen und nie wieder kommen und die erschrockenen Gesichter von Petunias Spießer-Freunden im Hintergrund.
Und als dieser Brief kam, da hatte sie gehofft, Petunia hätte vielleicht doch ein Herz, wäre tatsächlich in der Lage zu verzeihen. Ein Wunschdenken.
Es war eine ungewöhnliche Zeit gewesen, Briefe zu bekommen. Die Eule zog jegliche Aufmerksamkeit der Schüler auf sich, als sie beim Abendessen einsam die Große Halle durchquerte und schließlich bei Lily ankam. Sie hatte sich den Umschlag angesehen, parfümiert, pfirsichfarben und mit kitschigen Rosenranken am Rand und sofort geahnt, dass er von Petunia kam - kein anderer Mensch würde so hässliche Umschläge verschicken.
Sie hatte die verschlungene Schreibschrift ihrer Schwester erkannt und trotzdem drei mal den Absender lesen müssen, bevor sie sich wirklich sicher war, dass der Brief von ihr stammte. Ihre Freunde hatten am Abendbrotstisch nachgefragt, was das für ein Brief sei und warum sie so aufgeregt war, doch sie hatte nicht geantwortet. Stattdessen war sie aufgestanden und hier her gekommen, an den See, ganz weit weg, ganz in Ruhe. Sie hatte den Brief vorsichtig mit ihrem Zauberstab aufgeschlitzt, mit zitternden Händen und aufgeregt klopfenden Herzen. So sehr hatte sie sich gewünscht, das alles wieder gut werden würde. Vielleicht sogar wie früher, bevor sie nach Hogwarts gekommen war.
Doch sie hätte es wissen müssen. Sie hätte wissen müssen, dass ihre Schwester ein Biest war, dass ihr Verhältnis zu Petunia endgültig zerstört und nicht mehr herzurichten war und dass Lily ihr nicht hinterher trauern sollte, sondern für den Rest ihres Lebens den Kontakt zu ihrer Schwester so gering wie möglich halten sollte. Ihre Schwester wusste das. Sie hatte das schon immer gewusst. Nur Lily hatte es nie sehen wollen.
„Na, Evans? In Gedanken?" Lily fuhr zusammen und wischte eilig die Tränen weg, als sie die vertraute Stimme hörte.
„Hatten wir uns nicht vor Kurzem geeinigt, uns beim Vornamen zu nennen, Potter?", erwiderte sie rau und rutschte, damit er sich neben sie setzen konnte. James ließ sich auf die Bank fallen und sah sie forschend an.
„Geht's dir gut?", fragte er ernst, ohne eine Spur des Schalkhaften und Machohaften in seiner Stimme, die er sonst immer hatte. Lily lachte freudlos auf und starrte verbittert auf den See.
„Sieht's denn so aus?" Sie spürte seinen forschenden Blick von der Seite.
„Ein Brief?"
„Von meiner Schwester", erklärte sie und schniefte.
„Darf ich?" Wortlos reichte sie ihm den zerknitterten Umschlag. Er rümpfte die Nase.
„Ist der parfümiert?" Sie grinste.
„So ist sie eben. Seltsam, nicht? Parfümiert man das Papier nicht eigentlich, wenn man Liebesbriefe schickt?"
„Vielleicht hat sie es parfümiert gekauft und hatte kein anderes", murmelte er und Lily schmunzelte. Sie hörte, wie er den Brief heraus holte und entfaltete. Ein paar Minuten war es still und sie hörte nur das leise Plätschern des Wassers, ein paar Geräusche aus dem Wald und Lilys Schniefen. Der Brief war nicht lang, gerade mal eine knappe halbe Seite. Doch James wusste offenbar nicht, was er sagen sollte. Sie saßen stumm nebeneinander, doch Lily wagte es nicht, einen Blick auf James zu werfen, sondern starrte ihre Füße an.
„Scheiße", flüsterte er irgendwann. Lily schwieg.
„Ich weiß nicht, was ich... Merlin, es tut mir so leid, Lily", stammelte er und fuhr sich durch die verwuschelten Haare. Lily schloss schmerzerfüllt die Augen. Ihr tat es auch leid.
„Sag einfach nichts", hauchte sie mit halber Stimme, denn der Kloß in ihrem Hals war so groß, dass sie kaum einen Ton heraus bekam. Er gab ihr den Brief zurück und sie zerknüllte ihn in ihrer Hand.
„Ich saß hier beim Essen oder im Unterricht und hab keine Gedanken an die Welt draußen verschwendet, während sie..." Ihre Stimme versagte.
„Ich hätte da sein müssen", fuhr sie fast flüsternd fort und wieder kamen ihr die Tränen, „ich hätte sie beschützen müssen. Ich bin doch die Hexe in der Familie. Warum hab ich sie nicht beschützt?"
„Du konntest doch nicht wissen, dass-", versuchte James sie zu trösten, doch Lily fiel ihm ins Wort.
„Und dann schreibt Petunia mir das", spuckte sie verächtlich aus und eine große, rote Wut flammte in ihr auf. „Ich könnte sie erwürgen", rief sie wütend und sprang auf. „Wie kann sie es wagen?" Sie ertrug es nicht mehr. Sie ertrug den Schmerz nicht mehr, der sie von innen beinahe auffraß, die Wut, die unerträglich in ihr brodelte und James' mitleidigen Blick, den sie überdeutlich spürte.
„Ich habe es versucht", regte Lily sich auf. „Habe ihr Briefe zu Geburtstag und Weihnachten geschrieben, war nett zu ihr, habe versucht irgendwas zwischen uns zu erhalten, das darauf hindeutet, dass wir Schwestern sind. Und sie?" Schwer atmend hielt Lily inne und sah auf das Stück Papier in ihrer Hand. Ein bisschen Papier, das ihre Welt von der einen Sekunde auf die andere auf den Kopf gestellt hatte. „Sie macht alles kaputt", zischte sie voller Wut. Das würde sie ihrer Schwester nie verzeihen.
„Ich hasse sie", brüllte Lily über den See und ihre Stimme verhallte im Wald. In einem wilden Anfall von Zorn schrie Lily auf. Sie riss den Brief in Fetzen und die Schnipsel tanzten im Wind, bis sie schließlich auf der Oberfläche des Sees landeten. Lily sah ihnen hinterher und plötzlich gaben ihre Beine nach. Der Schmerz war auf einmal übermächtig, überdeckte alle Emotionen, die sie jemals gespürt hatte, schnürte ihr die Luft ab und kontrollierte jede Zelle ihres Körpers. Sie stürzte auf den Boden und blieb reglos im feuchten Gras liegen. Ihre Schultern bebten unregelmäßig, die Tränen liefen ihr in Strömen übers Gesicht und sie schnappte nach Luft. Sie fühlte sich so verloren, so verzweifelt - und so verdammt einsam.
„Ich konnte nicht einmal Abschied nehmen. Ich weiß nicht mal, wo sie liegen", brachte sie zwischen den Schluchzern heraus.
James kniete sich neben sie, legte seine Arme um sie und sie vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter.
„Oh Lily", murmelte er und streichelte über ihren Rücken, während sie sein Hemd mit ihren Tränen durchnässte. Ihr ganzer Körper zuckte und sie weinte hemmungslos.
„Ich weiß nicht mehr, was ich machen kann", brachte sie zwischen Schluchzern hervor, „wo soll ich denn jetzt hin?"
„Zu mir", antwortete James schlicht. Ein paar Momente lang sagte Lily nichts, sondern schluchzte leise weiter. Dann hob sie leicht den Kopf.
„Zu dir?", fragte sie erstaunt und schluckte den nächsten Schluchzer runter.
„Klar." Er sah ihr in die Augen und strich ihr sanft über die Haare. „Wir haben genug Platz." Und zum ersten mal fiel ihr auf, wie schön seine Augen waren und wie liebevoll er sie ansah.
„Ich...", stammelte sie und wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Stattdessen sank sie erschöpft in sich zusammen und James hielt sie fest.
„Ich kann nicht mehr, James", weinte sie. „Ich kann einfach nicht mehr."
„Du bist eine starke, wunderschöne und unglaubliche Frau, Lily Evans", flüsterte er. „Du hast all das, was die Welt dir angetan hat, nicht verdient. Du bist nicht für ein Leben auf dieser grausamen Welt gemacht."
„Wer ist das schon", murmelte Lily mit erstickter Stimme und stellte sich vor, in den Tiefen von James' Umhang zu versinken zu können, bis sie das ganze Übel auf der Welt nicht mehr sehen müsste. Und er hielt sie fest, auf dem nassen Gras am See. Über ihnen versprach die unendliche Weite des Sternenhimmels eine trügerische Freiheit, die sie nie bekommen würden; hinter ihnen versanken die Schnipsel des Briefes langsam im Wasser.
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Liebe Lily,
Vor knapp einer Woche sind meine und deine Eltern ums Leben gekommen, vermutlich durch Menschen aus deiner Sippschaft. Die Beerdigung war gestern. Mein Verlobter und ich bitten dich, nicht mehr bei uns aufzukreuzen oder uns anderweitig zu kontaktieren.
Das Haus unserer Eltern ist bereits zum Verkauf freigegeben, deinen finanziellen Anteil, sowie dein Erbe werde ich dir auszahlen.
Mit freundlichen Grüßen,
Petunia Evans
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