4. Trauer
T R A U E R
Marlene McKinnon
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Langsam blies Marlene den Zigarettenrauch in die klirrend kalte Luft und sah ihm hinter her, wie er sich nach und nach auflöste. Die Zigarette in ihrer Hand glühte. Es war die letzte, die sie noch bei sich hatte. Unter ihrem Bett hatte sie noch weitere Packungen, doch sie wollte nicht gehen und sie holen. Nicht solange Lily und Alice noch im Schlafsaal waren. Jetzt gerade wollte sie niemanden sehen, nicht mal ihre besten Freundinnen. Mit leerem Blick beobachtete sie die Sterne und dachte dabei, dass ihr noch nie aufgefallen wie groß der Himmel war. Er schien bis ins Unendliche zu reichen und doch war er am Horizont scheinbar zu Ende. Und wenn man genau hin schaute, sah es doch so aus, als würde er eine Kuppel bilden, einmal um die Erde, wie ein Schutzwall. Natürlich wusste Marlene, dass das Unsinn war; das Universum war keinen Kuppel und wenn, dann könnte der Mensch dies mit dem bloßen Auge niemals erkennen.
Sie seufzte und nahm einen weiteren Zug. Ob ihre Eltern jetzt wohl da oben waren? Vielleicht waren sie letzte Nacht zu Sternen geworden, klein, unscheinbar, zwei Punkte unter Milliarden von Punkten. Marlene wünschte sich, sie wüsste, welche der Punkte am Himmel ihre Eltern nun waren. Sie könnte jede Nacht hinaufschauen und mit ihnen sprechen. Könnte erzählen, was sie machte, wie es ihr ging und ob sie auch ja noch weiter gute Noten schrieb. Obwohl ihre Eltern das wahrscheinlich alles von dort oben sehen würden. Sie würden hinunter schauen, jeden Tag, auf ihre Tochter, die Rebellin, die Trinkerin, die Hippie-Frau und vielleicht, ganz vielleicht, würden sie ein bisschen stolz sein. Sie würden einsehen, dass Marlene nicht völlig nutzlos und eigentlich auch, auf irgendeine Art und Weise, eine Tochter war, auf die man sehr gut stolz sein konnte und die keineswegs missraten war.
Marlene wusste nicht, ob ihre Eltern zu Lebzeiten tatsächlich von ihr dachten, sie sei nutzlos und missraten, doch oft hatte sie sich vorgestellt, wie Mutter und Vater so über sie schimpften, nachdem sie sich mal wieder mit ihnen gestritten hatte. Und das kam oft vor. Sehr oft sogar. So oft, dass Marlene einmal in den Sommerferien kurz davor war, ihre sieben Sachen zu packen und zu Lily oder Alice zu ziehen. Einfach weil sie die Schnauze gestrichen voll hatte von geblümten Teebesteck mit vergoldeten Rand, dem wöchentlich beschnittenen Buchsbaum-Pelikan, der im Vorgarten ihres Elternhauses stand und der sauber geputzten Kieseinfahrt, die nie benutzt wurde, da sie als Zauberer kein Auto besaßen. Doch die Einfahrt war schon da, als ihre Eltern das Haus gekauft hatten und außerdem hatten alle Nachbarn auch eine, die übrigens genau so, wenn nicht sogar noch besser, geputzt wurde. Täglich. An manchen Tagen sogar stündlich, übertrieb Marlene gerne vor ihren Freunden.
Ob der Buchsbaum-Pelikan noch lebte? Sie bezweifelte, dass die Todesser ihn verschont hatten, als sie in das Haus eingedrungen waren und Marlenes Eltern getötet hatten. Allein schon, weil er so unglaublich hässlich war. Marlene hasste den Pelikan und sie hasste die Einfahrt, die ganze Siedlung, in der alles gleich aussah.
Und sie hasste die Todesser, die ihr ihre Eltern genommen hatten und das Ministerium, das solche grauenhaften Taten zuließ. Denn obwohl sie sich oft gestritten hatten, bei eigentlich allem unterschiedlicher Meinung waren und ihre Lebensstile überhaupt nicht zusammen passten, hatte Marlene ihre Eltern geliebt. Und es war ein Verlust, als sie von deren Tod erfahren hatte, ein sehr, sehr großer sogar, wie sie zugeben musste.
Vor ihren Freunden hatte sie damit geprahlt, dass sie sich so von ihren Eltern abhob mit ihren Drogen, den bunten Klamotten, der Mugglemusik, die sie gerne hörte, und der Freizügigkeit was Sex betraf. Sie hatte damit angegeben, in den Sommerferien One-night-stands gehabt zu haben, sämtliche Verehrer aus ihrem Heimatdorf hatte abwimmeln zu müssen, da sie eine freie, emanzipierte Frau war, die sich keinesfalls einem Mann unterordnen wollte, wie die ach so böse Gesellschaft es vorschrieb. Und dass sie ja so unabhängig war, völlig abgelöst von ihren Eltern, die sowieso nur nervten.
Doch die Wahrheit sah leider anders aus, ganz anders: In Wirklichkeit war sie noch Jungfrau, war beim Thema Jungs auf einmal ganz schüchtern und vor allem war sie einem bestimmten jungen Mann schon ewig verfallen und würde sich ihm mit Freuden unterordnen, wenn er sie dafür nur lieben würde. Und sie hasste sich dafür. Dafür, dass sie sich selbst so widersprach und dafür, dass sie ihren Mitmenschen nur die Marlene zeigte, die sie gerne wäre, doch in Wirklichkeit eine ganz Andere war. Und dafür, dass sie sich nicht traute, ihre Fassade fallen zu lassen.
Bestimmt hatte ihre Mutter sie durchschaut. Sie hatte Marlene schließlich aufgezogen, hatte ihre ersten Schritte beobachtet, ihr Fahrradfahren beigebracht und schwimmen. Sie war immer verständnisvoller gewesen als Marlenes Vater, auch, wenn bei den Drogen selbst bei ihr eine Grenze war. Von da an hatte sie aufgehört, Marlene vor ihrem Mann zu verteidigen und als sie damals in der fünften Klasse eine Abmahnung der Schulleitung bekommen hatte, wusste Marlene dass sie zu weit gegangen war. Doch ihr Stolz verbat es ihr zurückzuschrecken und sie trieb es immer weiter auf die Spitze: Schule schwänzen, Alkoholexzesse, Marihuana, laute Musik, rausgehen nach der Sperrstunde, gerne auch mal in den Verbotenen Wald. Unzählige Male war sie schon in Dumbledores Büro aufgekreuzt und er hatte sie immer so angesehen, beinahe enttäuscht, als wisse er, dass sie eigentlich anders sein könnte. Dann hatte sie sich immer doch ein wenig geschämt und sich vorgenommen, sich etwas zurück zuhalten und den Schnaps nächstes Mal weg zu lassen. Eingehalten hatte sie diese Vorsätze noch nie. Schon mit einem Rauswurf aus Hogwarts wurde ihr gedroht. Als dieser Punkt erreicht war, so glaubte Marlene, hatten ihre Eltern mit ihr abgeschlossen und sie als hoffnungslosen Fall abgestempelt. Sie konnte sich nur wünschen, dass zumindest ihre Mutter noch ein wenig Vertrauen und Hoffnung in ihre Tochter hatte, als sie starb.
Und wenn sie jetzt so darüber nach dachte, bereute Marlene es, ihren Eltern das Leben so schwer gemacht zu haben. Es hätte so entspannt sein können. Mit dem Pelikan musste sie sich vielleicht nicht unbedingt anfreunden, doch die Drogen waren nicht nötig gewesen, um ihren Protest auszudrücken. Genau so wenig wie die übermäßigen Mengen an Alkohol. Plötzlich hatte Marlene einen Kloß im Hals. Was hätte sie nicht alles besser machen können. Wenn ihre Eltern noch ein paar Jahre hätten leben dürfen, sie hätte ihnen gezeigt, dass sie es zu etwas bringen konnte. Sie hätte einen glänzenden Abschluss gemacht und ihre Auroren-Ausbildung mit Bravour bestanden. Sie hätte ihre Eltern so stolz machen können. Stattdessen waren sie mit dem Wissen gestorben, dass ihre Tochter ein Nichtsnutz war. Fast kamen Marlene die Tränen, doch im letzten Moment schluckte sie sie runter. Marlene McKinnon weinte nicht. Niemals.
„Marlene?" Sie fuhr so heftig zusammen, dass sie beinahe die Zigarette hätte fallen lassen. Nicht er. Bitte. Es hätte jeder sein können, aber ausgerechnet er musste heute Nacht auf den Astronomieturm kommen.
„Was willst du hier?", antwortete sie und versuchte, kalt und abweisend zu klingen, doch sie hörte sich eher an wie ein Rabe mit Stimmbänderproblemen.
„Geht es dir gut? Hast du geweint?" Er stellte sich neben sie und ihr Herz hämmerte wie verrückt. Wie immer, wenn er anwesend war. Hektisch nahm sie einen Zug von ihrer Zigarette.
„Natürlich nicht", antwortete sie heftiger als geplant.
„Du willst mir doch nicht etwa weis machen, dass du wegen mir hier oben bist?", fragte sie und diesmal klang sie tatsächlich ein wenig abweisend. Er ging nicht auf ihre Frage ein.
„Ich hab gehört, was passiert ist", sagte er und klang tatsächlich betroffen.
„Und jetzt? Willst du mir Beileid wünschen und sagen, dass es dir leid tut? Spar es dir, Black, das habe ich heute schon oft genug gehört." Er schluckte und sah auf seine Hände. Noch nie hatte sie Sirius Black verlegen oder wortkarg erlebt.
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie du dich gerade fühlen musst", murmelte er.
„Stimmt, das kannst du tatsächlich nicht." Eine Bitterkeit schwang in ihrem Tonfall mit, die sie selbst nicht erwartet hätte. Sie schwiegen. Marlenes Herz trommelte gegen ihren Brustkorb, so stark, dass sie meinte es müsse als heraus springen. Was machte dieser Junge nur mit ihr?
„Kann ich auch mal ziehen?", fragte Sirius und deutete auf ihre Zigarette. Sie reichte sie ihm nach kurzem Zögern und ihre Finger berührten sich für einen Bruchteil einer Sekunde. Ein Stromschlag durchfuhr Marlene und ihr Atem ging für eine Sekunde schneller. Er gab ihr die Zigarette zurück, sie nahm den letzen Zug und warf die Kippe dann den Turm herunter zu den sieben anderen Kippen, die im Laufe des Abends schon gefallen waren. Sie beobachtete den Zigarettenstummel beim Fallen, bis er in der Dunkelheit verschwand. Kurz fragte sie sich, ob es wohl weh tun würde, wenn sie selbst dort unten aufkommen würde. Was Sirius wohl machen würde, wenn sie genau jetzt einfach auf die Brüstung klettern und springen würde. Er könnte schreien, weinen. Könnte durchs Schloss rennen und alle aufwecken. Alice würde sich jetzt vorstellen, wie er sich unten am Fuß des Turmes tränenüberströmt über ihre Leiche beugen und ihr ins Ohr flüstern würde, er habe sie schon immer geliebt, doch nie den Mumm gehabt, es ihr zu sagen. Doch Marlene war nicht Alice. Marlenen war realistisch. Und sie wusste, dass Sirius sie niemals lieben würde, egal, wie sehr sie aus der Masse heraus stach, sich stark und selbstbewusst gab und sexuelle Erfahrenheit vorgaukelte. Sie wusste es und er wusste es. Und sie beide wussten, dass sich nie etwas an diesem Fakt ändern würde.
Marlene war sich nicht sicher, ob sie jemals ganz über ihn hinweg kommen würde. Möglicherweise würde sie auch als alte Jungfrau sterben mit zehn Katzen, die permanent nach Mottenkugeln stank und Katzenfutter zu Mittag aß.
„Warum bist du hier?", rutschte es ihr plötzlich heraus. Sirius seufzte und knetete seine Finger. Das tat er immer, wenn ihm etwas unangenehm wurde, was jedoch nicht sonderlich häufig vorkam.
„Ich hatte gehofft, wir könnten irgendwie wieder... Freunde werden."
„Freunde?"
„Ja, Freunde. Hör mal, Marlene, ich hab dich gern, wir waren doch auch mal sehr gut befreundet. Du warst die Erste, der ich von der Sache mit meinen Eltern erzählt habe, weißt du noch? Damals in der ersten Klasse." Natürlich erinnerte Marlene sich daran; wie könnte sie es je vergessen? Sie hatte ihn im Zug kennengelernt zusammen mit James, den sie über ihre Eltern bereits vorher ein wenig gekannt hatte, und sie waren die ersten Tage ein unzertrennliches Dreiergespann gewesen. Dann kamen ziemlich schnell Remus und Peter dazu und Marlene ging zu Lily und Alice und im Laufe der Jahre entfernte sie sich immer weiter von James und Sirius. Doch den Tag, an dem der elfjährige Sirius sich ihr weinend über seine strengen Eltern und deren grausame Erziehungsmethoden anvertraut hatte, würde sie niemals vergessen. Schon damals war sie bis über beide Ohren in ihn verschossen gewesen.
„Natürlich weiß ich das noch", murmelte sie.
„Und das, was letztes Jahr... vorgefallen ist, das... Scheiße, es tut mir so verdammt leid, Marlene. Ich habe nicht gewusst, dass du..."
„Ich weiß", sagte sie schnell, „du musst dich nicht entschuldigen. Es war dumm von mir." Es war wirklich dumm gewesen. Dumm und naiv. Letztes Jahr, in der sechsten Klasse, ist es passiert: Sie hatten getrunken, nach dem ein Quidditchspiel gewonnen wurde. Sirius hatte sie geküsst, mitten im Gemeinschaftsraum, vor dem gesamten Haus. Die Gryffindors hatten applaudiert und gejohlt und Marlene hatte sich mit vor Freunde geröteten Wangen wieder von Sirius gelöst. So glücklich, so erlöst. Sie hätte sich keinen besseren ersten Kuss vorstellen können. Ihr dummes, verliebtes Mädchen-Herz hatte den bloßen, bedeutungslosen Kuss für ein Liebesgeständnis gehalten und Sirius war drauf eingegangen. Stolze sechs Tage waren die beiden zusammen und Marlene schwebte auf Wolke 7, hätte Sirius alles gegeben, selbst ihre Jungfräulichkeit. Doch sie landete schmerzhaft und mit voller Wucht auf dem Boden der Tatsachen. Bei einer Geburtstagsfeier eines Ravenclaw-Jungens sah sie Sirius mit einem anderen Mädchen, sie kannte nicht mal ihren Namen. Die beiden küssten sich und verschwanden schließlich im Schlafsaal der Jungen. Als Sirius später bei seinen Freunden damit prahlte, stellte sie ihn zur Rede, doch wünschte sie heute, sie hätte gar nicht erst nach dem Grund gefragt. Denn Sirius hatte keinen. Er entschuldigte sich tausendfach bei ihr, doch sagte auch, ihre Beziehung würde keinen Sinn mehr ergeben und er habe es sowieso von Anfang an nicht so ernst gemeint wie sie. Marlene wusste, dass sie ihm egal war, nur ein Spielzeug gewesen ist und das nahm sie ihm übel. Und dennoch konnte sie nicht von ihm lassen. Er war mies mit ihr umgesprungen, doch sie konnte ihn einfach nicht vergessen und sie hasste sich so sehr dafür.
„Merlin, ich war so ein verdammtes Arschloch. Was ich getan habe, war unglaublich dumm und kindisch. Ich bereue es so sehr und ich wünsche mir wirklich, dass du mir verzeihen kannst." Er schien mit seiner Rede fertig und wartete auf eine Antwort. Er war noch nie gut im Entschuldigen gewesen.
Marlene schwieg. Sie konnte ihm nicht verzeihen. Noch nicht. Die Wunde war noch immer zu frisch und sie war zu jung, um erwachsen und vernünftig genug damit umzugehen und zu vergeben und zu vergessen. Auch Sirius schien zu verstehen, denn er seufzte resigniert und sah zu Boden.
„Es tut mir leid, Lene. Alles." Sie schluckte, als er den Spitznamen sagte, den er sich früher ausgedacht hatte. Heute nannten sie viele so, doch er war der Erste. Und er würde immer derjenige mit dem Patent auf diesen Namen sein. Und plötzlich merkte sie, wie verdammt einsam sie war.
„Ich weiß", antwortete sie mit erstickter Stimme und drehte ihr Gesicht von ihm weg, damit er die Tränen nicht sah, die in ihre Augen gestiegen waren. Er stieß sich vom Geländer ab, als er merkte, dass aus ihr nichts mehr heraus zu bekommen war.
„Gute Nacht, Marlene." Sie antwortete nicht aus Angst, sie würde in Tränen ausbrechen, sobald sie den Mund öffnete. Sirius verließ den Astronomieturm; sie hörte seine Schritte, als er die Treppe hinunter lief. Und als sie sich sicher war, dass er nicht mehr in Hörweite war, rutschte sie an der steinernen Brüstung herunter und ließ den Tränen freien Lauf.
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Mein zweit liebster! <3
Was sagt ihr? Ich freu mich über Kommentare! :)
Marie <3
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