Krieg in Venedig

In Venedig war Krieg. Punkt. Daran konnte man nichts mehr schön reden oder anders darstellen. In Venedig war Krieg und die Leute standen sich gegenüber. Mit ihren Geschützen feuerten sie auf ihre eigenen Landesmänner, auf die eigenen Landesfrauen und verwundeten sich selbst.

Vor Jahren hatte der Junge das schon niedergeschrieben und gemerkt. Der Winter kam in Venedig. Eine Kälte machte sich breit, die Flüsse vereisten, die Pflanzen erfroren und die Türen wurden verschlossen. Er hatte es gewusst. Er hatte es gewusst und gemerkt, was dort alles auf ihn zugekommen würde. Nun war es Realität. Nach einer Zeit voll Ungewissheit und Ruhe, einer Starre, löste sich die Spannung in einem blutigen Gefecht. Menschen standen Feinden gegenüber. Auch der Junge ist ein Kämpfer, die Schlachten erlebt er am eigenen Leib. Er hat Angst. Angst vor dem, was vielleicht noch kommen mag und so schreibt er:

»Was ich in diesen Tagen erlebe, schreibe ich nun hier nieder. Der Krieg ist ausgebrochen, die Häuser werden angegriffen, unsere einst so festen Fundamente organisiert beschossen. Sie graben sich in den Keller, die Feinde, sie kommen von unten. Keiner weiß, welches Haus als nächstes einstürzt, welche Institution bereits unterwandert ist. Sie sind überall, sie sind vernetzt.

Venedig gleicht in diesem Tage einem Splitterhaufen. Mein so schönes, mein so blühendes Venedig liegt zertrümmert am Boden. Die Scheiben, die schönen Kirchenfenster, sind ausgeschlagen, das Rathaus steht in Flammen, die Fliesen auf dem Marktplatz zerbrochen. Wie konnte es soweit kommen? Wie konnten Menschen die Macht erhalten, die unsere Schönheit zerstören? Warum spielen wir so sehr mit der Kälte, wenn das Glück und die Zuversicht doch so nah ist? Wir sind naiv, wir sind verrückt, wir haben es nicht anders verdient.

So viele haben sie entschuldigt, die, die die Kälte befürwortet haben, die die Ausgrenzung und Zerstörung als Reaktion auf das derzeitige System erklärt haben. Das ist es aber nicht und das ist es niemals gewesen. Es ist unmöglich, derart kognitiv-unfähig zu sein, um das nicht zu verstehen. In der Kälte brennt es, eiskaltes Feuer umgibt sie. Und wir, die dagegen ankämpfen, sollen Schuld daran sein? Sollen wir die Schuld haben, weil wir Venedig in eine bessere Stadt verwandelt haben? Nein, das sind wir nicht. Wir sind nicht Schuld daran, dass Menschen dem Nationalsozialismus hinterherlaufen. Sie haben es niemals aus Protest gemacht, sie haben ihn niemals aus Spaß gewählt, sie haben bewusst ihre Entscheidung getroffen. Aktiv haben sie sich dafür eingesetzt, dass wir Demokraten, wir anderen, wir geistreichen und Hoffnungsvollen vor ihnen flüchten sollen. Kann das die Welt sein, in der ich lebe?

Sie vergifteten das Klima. Alles starb, weil sämtliche Errungenschaft erfror. Jegliche Tempel und Gebilde, sämtliche Gebäudeteilen in sich zusammen, ganze Reihen waren es, weil sie mit ihrer Sprache und mit ihrem Verhalten alles unter sich begruben, was ihre in dem Weg stand. So war es auch, dass man bemerkte, sich gemeinsam gegen sie zu stellen. Aber würde man nicht seine eigenen Ideale verraten, wenn man dies tat? Ich bemerke den Fehler und die Schwierigkeit dieser Tage. Es ist schwierig. Ich weiß das«

Wieder fühlte er sich alleine. Wieder war er auf sich alleine gestellt. Wieder wusste er nicht, ob er richtig oder falsch lag. Auf dem Markusplatz in wenig stieg ihm das Wasser bis zu den Knien, und doch waren die Kanäle gefroren! Die Menschen spielten damit. Sie spielten mit ihrem Schicksal und fuhren auf dem gefrorenem Wasser Schlittschuh! Merkten sie nicht, was passierte?

»Was ist die Frage, die uns in dieser Zeit leitet? Können Sie es sagen? Ich habe meine Antwort gefunden. Wir streiten uns um die Frage, wie wir mit Antidemokraten, mehr noch, der Intoleranz umzugehen haben. Ist es legitim, dass wir die Antidemokratie zulassen müssen um der Demokratie Willen? Ist es das, was wir müssen? Ein Scheideweg, ein Paradox, das wir zu lösen haben. Muss die Toleranz die Intoleranz akzeptieren? Wie kann sich Toleranz »Toleranz« nennen, wenn es nicht alle Kräfte »toleriert«? Aber wie können wir uns »Menschen« nennen, wenn wir andere ausgrenzen? Können Menschen unmenschlich sein? Wir sind aus der Ruhe ausgebrochen, Ruhe in Venedig gibt es nicht mehr. Wir zeigen die Fehler auf und ziehen dagegen, aber unsere Feinde schweigen dadurch nicht.

Sind die Menschen wirklich so naiv, zu denken, dass Rassisten aufhören würden, rassistisch zu sein? Wer weiß denn, wo das Ende ist? Erst sind es die anderen, dann die Demokraten und dann? Dann sind es die eigenen Wählenden. Dann wird weiter selektiert, immer weiter, bis kaum noch einer übrig bleibt. Das ist kein neues Phänomen, das hat schon Hannah gewusst. Aber Bildung ist in diesen Tagen schon lange nicht mehr derart angesehen.«

Er atmete schwer und sah aus dem Fenster. Am Horizont leuchtete es rot auf, blitzartig schossen die Wörter wie Lunten aufeinander ein. Es waren unglückliche Zeiten, die er durchlebte. Aber machte es ihn nicht nur stärker, machte es nicht jeden nur stärker? Die Gefahr erkannte man nicht. Fehler wurden gemacht, die sich in diesem Moment rächten.

»Unsere Feinde sind Eure Feinde. Unser Kampf ist Euer Kampf.« Er schrieb so viel an diesem Tag, ganze Bücher schrieb er voll, um aufzuzeigen, weshalb die Gefahr um sie herum steht. Es gab Menschen, die sich nicht informierten, Menschen, die es wussten und Menschen, die sich nicht schämten. Was sollte man nur noch mehr tun, als zu zeigen, was passierte? Spätestens in diesem Zeitpunkt war es faktisch belegt, dass niemand mehr aufgrund einer vermeintlichen Opposition sich ihnen anschließt, sondern ganz bewusst, um den Grundkonsens niederzulegen.

»Eines Tages wird man hierauf zurückblicken. Man wird zurückblicken und fragen: gab es nicht wichtigeres? Und ja! Das gab es! Wir halten uns an Themen auf, die uns nicht weiterbringen. Doch obwohl die Ruhe in Venedig längst vorbei ist, der Winter in Venedig angekommen, schaffen wir es nicht, de Probleme anzufassen. Wir schlafen, wir ruhen, wir sind diejenigen, die in eine Schockstarre gefallen sind und wir warten darauf, dass uns jemand befreit. Doch wer ist es? Wir müssten es selber sein. Doch sie trauen sich nicht. Sie trauen sich nicht aufzustehen, weil sie vermuten, dass es sich nicht lohnen würde. Ist das nicht verwunderlich?«

Als er wieder hoch sah, bemerkte er, dass der rote Horizont ihm immer näher entgegen strahlte. »Sie kommen«, sagte er dann und beobachtete das Schauspiel am Ende seines Blickes noch weiter. Aufmerksam verfolgte er die Kämpfe und sah auf beiden Seiten erste Opfer fallen. »Sie kommen«, wiederholte er sich dann.

»Wir stehen vor einer der größten Herausforderung der Menschheit, es geht um unser überleben. Es geht um das Überleben von uns allen, von unseren Kindern, unseren Enkeln. Wir haben keine Zeit! Und dennoch befassen wir uns mit anderen Dingen, mit diesem Kampf gegen die dort draußen! Sind wir wirklich so ignorant und denken, wir könnten derart mit der Zeit spielen? Sind wir wirklich so arrogant und denken, wir sind Gott? Es ist Zeit, aufzustehen und unsere Welt zu verändern. Wenn nicht wir, wer dann? Bemerken sie denn nicht die Taktik?«

Als die Kämpfe schon vor seinem Hause waren, sein Fundament beschossen wurde und er an der reihe, war, seinen Schutz und seinen Ort zu verteidigen, da schrieb er seine letzten Worte voller Ungewissheit.

»Wir werden gewinnen, das weiß ich. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Gerechtigkeit und Menschlichkeit immer siegen wird. Wir werden den Ansturm entgegenhalten, jeder für sich, jeder auf seiner ganz eigenen Weise. Wir werden die Häuser befreien und ihre Wunden versorgen. Die niedergefallenen Pfeiler werden wir aufrichten und unter ihnen Maifeste feiern. Wir werden tanzen, wir werden uns freuen - wir werden über sie lachen. Eines Tages wird alles wieder besser werden.

Wir werden die Welt retten.«

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