für immer

Es existierte Leben. Schwaches Leben, unwürdiges Leben. Doch es lebte. Und es wollte mehr. Es wollte wachsen. Es sollte stark werden. Es brauchte Zeit und Kraft. Neue Lebenskraft.
Neues Leben.

Mehr Leben.

5. März 1871

Otto rannte durch den Wald, schneller und schneller, so schnell wie ihn seine kleinen Beine trugen. Er stolperte über Wurzeln, landete im Dreck und sprang sofort wieder auf. Die Rufe hinter ihm wurden leiser. Ein Feld von Blaubeerbüschen versperrte ihm den Weg. Der kleine Junge sah sich noch einmal um und schlug sich dann durch die vom Tau noch nassen Büsche. Er kam nur langsam voran. Immer wieder stolperte er und landete in einem Chaos aus Ästen, die ihn festzuhalten schienen. Und wieder und wieder kämpfte er sich frei. Er rannte, er keuchte, er schlug sich seinen Weg durch die Büsche. Alles besser als umzukehren. Alles besser als sich umzudrehen und zurück zu gehen. Dann war er endlich durch das Feld der Büsche hindurch. Er war übersäht mit Kratzern, seine Kleidung war dreckig und nass und in seinen Haaren hingen Ästchen und Blätter. Doch er lächelte. Heftig atmend lief er langsam weiter. Er hatte es geschafft.

...

Es wurde langsam dunkel. Ein leichter Windzug wehte durch den Wald und Otto zitterte. Seine kalte, nasse Kleidung klebte ihm am Körper. Er war schon mehrere Stunden hier im Wald. Alleine. Er hatte sich durchs feuchte Unterholz gekämpft und war gerade in der Mitte einer Lichtung gewesen, als ein Regenschauer kam. Sein Magen knurrte. Mit schwachen Schritten kämpfte er sich vorwärts in den unbekannten Wald. Oder war er hier schon gewesen? Die dunklen Schatten der Bäume, die zahlreichen Wurzeln und Sträucher. Alles sah so ähnlich aus. Und dann, ganz plötzlich, lichtete sich der Wald und Otto stand auf einer Lichtung. Das weiche Abendlicht viel durch die Baumwipfel auf das Gras und Otto stellte sich ins Licht, um das letzte bisschen Wärme noch zu genießen. Die Linie zwischen Licht und Schatten verlief direkt durch die Mitte der Lichtung. Ein kleines, dünnes Bäumchen stand genau in der Mitte und bekam gerade noch die letzten Sonnenstrahlen des Tages ab. Otto kam ein paar Schritte näher und sah sich das Bäumchen an. Es war das einzige auf der großen Lichtung und es stand fast perfekt in der Mitte. Einige Blätter leuchteten Orange und Gelb in der untergehenden Sonne, während die Blätter die bereits im Schatten lagen beinahe blau und lila schimmerten. Erschöpft lies sich Otto auf das Gras fallen und starrte nach oben. Er wusste nicht mehr, was er tun sollte. Er war so müde, dass er einfach nicht mehr aufstehen wollte.

Mit einem mal tat sich der Himmel auf. Tausende von Sternen rieselten auf die Erde herab wie Regen und ein Wirbel aus den buntesten Farben senkte sich auf die Lichtung hinab. Doch Otto fürchtete sich nicht. Das ganze passierte nicht mit einem lauten Tosen und Donnern, sondern mit einer leichten, sanften Melodie. Die Farben wirbelten nicht wie ein Sturm sondern schienen mehr zu tanzen und zu fliegen wie der Wind. Die leuchtenden Sterne landeten sanft und brachten alles um ihn herum zum leuchten.
Der Himmel hatte sich aufgetan um ihn einzulassen und Otto war mehr als bereit zu gehen.

29. Juni 1923

Gemütlich schlenderten Rosie und Anne durch den Wald. Es war ein wunderschöner Sommertag. Die Sonne schien warm und hell durch die Baumwipfel und brachten jedes kleine Insekt zum Leuchten. Es war der perfekte Tag zum Picknicken und Rosie hatte sich schon die ganze Woche darauf gefreut. Sie warf einen Blick in ihren Picknickkorb. Es würde ein schöner Tag werden, da war sie sich sicher.

Anne atmete die Waldluft ein. Sie genoss es hier zu sein. Die letzte Woche war es anstrengend gewesen. Zuhause war es laut und stressig gewesen. Sie freute sich auf etwas Ruhe und Frieden.
„Was hast du eigentlich noch vor zu machen?", fragte Sophie gerade.
„Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass ich Arbeiten möchte. Ich würde eigentlich nur gerne heiraten und eine schöne Familie gründen", sagte sie nach kurzer Überlegung.
„Wirklich? Also ich werde mich definitiv nach einer Position als Sekretärin umschauen.", Rosie lachte „Aber du hast ja schon immer das getan was die Älteren Herrschaften von dir wollten". Anne schaute zur Seite, auf die zahlreichen Himbeersträucher am Wegrand. Sie antwortete nicht. Rosie schien es aber nicht zu bemerken. Fröhlich wie immer blickte sie umher, verfolgte hier einen Schmetterling mit den Augen, sah sich dort ein Blümchen genauer an. Anne schloss für einen Moment die Augen und genoss den Duft des Mooses und der Bäume.
Es hatte gerade die richtige Temperatur um nach draußen zu gehen. Noch war die Mittagshitze nicht gekommen und hier im Wald war es gerade angenehm.

Nach kurzem Fußmarsch erreichten die beiden Freundinnen eine schöne Lichtung. Sie hatten sich schon als kleine Kinder immer hier getroffen und gespielt. Es war wohl keine richtige Lichtung, denn in der Mitte der fast kreisrunden Grasfläche stand ein schöner, großer Baum der heute seinen kühlenden Schatten wurf. Der Blätter waren grün und kräftig und die wenigen im Schatten gelegenen glänzten in einem dunklen Blau.

...

Als die Mittagshitze kam und die Sonne hoch am Himmel, direkt über dem Baum stand, legten sich Rosie und Anne unter den Baum und sahen nach oben. Die Blätterdecke schien zu glitzern und die Blätter leuchteten in schönen Grün- und Gelbtönen.
„Ist es nicht schön hier?", seufzte Rosie. Anne lächelte.
„Ja, es ist so ein schöner Platz. Man kann einfach all seine Sorgen vergessen und einfach nur hier liegen. Es ist schön".
„Ja, ich wünschte fast, wir könnten für immer hierbleiben ", schwärmte Rosie. Ein lauer Windhauch brachte die Blätter des Baumes zum rascheln. Es klang fast wie eine sanfte Melodie, die langsam immer lauter wurde. Gerade wollte Anne anmerken, dass das Rauschen der Blätter irgendwie unheilvoll klang, da vielen plötzlich alle Blätter vom Baum und umkreisten die jungen Frauen, die nun erstaunt aufgesprungen waren. Immer und immer dichter wirbelten die Blätter um sie herum. Vorsichtig streckte Rosie die Hand aus um die blauen und grünen Blätter beiseite zu schieben, da packte sie plötzlich der Wirbel. Ihr Schrei verlor sich im immer lauter werdenden Rauschen, Summen und Flüstern der Blätter. Anne konnte nichts tun als mit weit geöffneten Augen die undurchdringliche Blätterwand anzustarren, als der Kreis um sie langsam kleiner wurde.

07.03.1958

„Aber warum genau hier?", fragte Lukas Rinninger noch einmal während er versuchte mit dem energischen Schritt seines Partners mitzuhalten. Julius MacArthur war wie immer elegant gekleidet, hatte eine perfekte Haltung und schien sogar den alten Bäumen im Wald überlegen zu sein. Seine weißen Haare waren perfekt frisiert und Lukas sah zu ihm auf. Auf sprichwörtliche und auch auf wörtliche Art und Weise, denn Julius MacArthur war mindestens einen Kopf größer als er. Zudem lief Lukas immer ein wenig gebückt und schräg, was den Unterschied verstärkte.
„Es ist der perfekte Platz, Sie werden schon sehen. Es ist ruhig und schön, nicht zu weit weg von der Zivilisation und trotzdem hat man hier seine Ruhe."
Lukas konnte ihn verstehen. Ruhe hatte Julius MacArthur wahrscheinlich seit seiner Einreise aus Großbritannien nicht mehr gehabt, und die war immerhin schon 7 Jahre her.
„Und billig ist es auch, haben Sie gemeint?"
„Fast zu billig. Und nur, weil wohl vor dem Krieg hier ein paar Mädchen verschwunden sind. Es soll uns nicht stören." Lukas antwortete nicht und wendete seinen Blick zu den Unmengen an Stachelbeeren die hier wuchsen.

Einige Minuten später schritt Julius MacArthur zielstrebig aus dem Wald und auf eine Lichtung mit einem schönen, alten Baum in der Mitte. Er strahlte eine gewisse Ruhe und Sicherheit aus, er war ein Zeichen, dass hier auch während den Kriegen alles sicher war und es auch so bleiben würde. Lukas bestaunte kurz den Baum der schon viele Knospen trug. Ja, der Baum strahlte eine gewisse Lebenskraft aus. Er war standhaft und er würde hier noch für viele Jahrzehnte stehen.
„Der alte Baum da kommt natürlich weg und der kleine Weg muss noch ausgebaut werden, aber es sieht schon sehr gut aus", sagte Julius MacArthur in diesem Moment.

„Wirklich? Es ist fast schade um den Baum, nicht?", antwortete der junge Sekretär. MacArthur rollte mit den Augen. Jung und idealistisch. Suchte noch nach der Schönheit der Natur. Fast so wie er es mal gewesen war. Er sah sich um und genoss für einen Augenblick die Stille im Wald. Ja, hier herrschte Ruhe und Frieden. Hier würden ihn keine Erinnerungen heimsuchen. MacArthur warf einen Blick auf den Baum. Groß und kräftig war er, blühte fast schon. Es war ein starker Baum der Jahr für Jahr überlebt hatte und ohne ihn wohl noch lange gelebt hätte. Aber es war nun mal ein Baum und von denen gab es viele. MacArthur wandte sich ab. Nein, dieser Baum würde ihm keine Gewissensbisse bereiten.

„Sicher, aber es ist nur ein Baum.", antwortete Julius MacArthur „Von denen gibt es hier genug und dieser Platz ist perfekt für einen kleines Häuschen. Hier können Rita und ich entspannt unsere letzten Tage verbringen, finden Sie nicht?", beinahe erschien ein Lächeln auf seinen starren Lippen.
„Ach, bis zu Ihren letzten Tagen haben sie sicher noch viel Zeit. Sie werden mit Sicherheit noch viele Orte sehen ", antwortete Lukas leichtfertig. Er wusste nicht, wie alt genau Julius MacArthur war, aber er war noch stark und gut in Form. Er hatte definitiv nicht den Anschein eines Mannes, der bald sterben würde. Physisch stand einem langen Leben seines Chefs nichts im Wege.
„Das will ich hoffen, aber man muss sich irgendwann eine Ort suchen, an dem man bleiben kann. Und hier kann man für den Rest seines Lebens bleiben, dass sehen Sie doch sicher auch ein".
Selbstverständlich, er verstand es schon. Aber für seinen Geschmack war es doch ein bisschen zu ruhig und friedlich.
Doch in diesem Moment war es vorbei mit dem Frieden und der Stille. Mit lautem knarren schossen dicke Wurzeln aus dem Boden und packten sich Julius MacArthur. Sein Sekretär versuchte weg zu rennen, doch er verlor plötzlich den Boden unter den Füßen und viel in einem dunkles Nichts, erleuchtet von rot funkelnden Sternen. Sein Schrei verhallte ungehört als die Wurzeln ihn packten und zerrissen, bis nichts mehr als Staub von ihm übrig war.

13.08.2009

Hastig schmiss Lea ihre Tasche neben den großen Stamm und setzte sich mit einem großen Seufzen hin. Dann schloss sie die Augen und genoss einfach nur die Stille. Es war exakt 16:39 Uhr und 17 Sekunden und es war bei weitem nicht ihr erster Besuch auf der Lichtung. Schon seit Jahren besuchte sie mindestens einmal täglich diese Lichtung und setzte sich unter den Baum der dort in der Mitte stand. Ausnahmen gab es nur selten. Die Zeit hier allein im Wald war genauso streng geregelt und auf die Sekunde genau berechnet wie der Rest ihres Lebens. Und Lea hatte genug.
Jedes mal, wenn sie hier war konnte sie einen gewissen Frieden spüren. Nur kurz natürlich, aber hier, mitten im Wald schien die Welt einfach langsamer zu laufen. Gerne wäre sie auch im Sommer lange hier geblieben und hätte sich den Sonnenuntergang angesehen, aber sie hatte nie die Zeit dafür gehabt.
Sie schlug die Augen wieder auf und sah sich um. Es hatte sich nichts verändert. Der alte Baum stand beständig, die Johannisbeersträucher am Waldrand standen noch genau da, wo sie vorher waren.
Natürlich.
Was sollte sich auch ändern?
Sie schaute auf ihre Uhr. 16:42 Uhr und 37 Sekunden. Lea seufzte. In letzter Zeit wünschte sie sich oft mehr als 24 Stunden am Tag. Sie würde gerne hier bleiben und den Sonnenuntergang und die Sterne sehen. Ja, sie würde gerne hierbleiben. Für immer.
Sie fragte sich oft, wie viele Menschen wohl im Verlaufe ihres Lebens auf diese Lichtung gekommen waren. Und heute fragte sie sich auch, wie viele den Wunsch verspürt hatten, für immer hier zu bleiben.

Mit einem mal fühlte sie sich seltsam, fast so, als wäre sie nicht mehr allein. Nein, sie war sich sogar sicher, es waren andere Menschen hier! Oder zumindest hier gewesen. Sie glaubte fast, sie sehen zu können. Ein kleiner Junge, zwei hübsche junge Frauen, ein eleganter Geschäftsmann und sein junger Begleiter. In diesem Moment war sie sich sicher, dass alle von ihnen existiert hatten und dass sie alle einmal hier gewesen waren.
Ein Windstoß fuhr durch die Blätter und brachte diese zum rascheln.
Es klang fast wie ein leises Raunen oder Flüstern vieler Stimmen.

„Wir sind noch hier.
Wir sind alle noch hier"

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2033 Wörter
Prompt: Schreibe über eine (magische) Lichtung
Blutkralle

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