18. Türchen - MaybeAnotherWraith

Anmerkungen:

Das Alter der Figuren in diesem Oneshot entspricht nicht ihrem tatsächlichen Alter. Einige Figuren sind jünger als in Wirklichkeit, andere älter.

Ich bin absolut kein Experte für die Thematik Polizei und Verbrechen; möglicherweise enthaltene Gesetzestexte sind rein fiktiv und allein zu Unterhaltungszwecken bestimmt.

Triggerwarnung:
Panikattacke; Tod

Der Fall Royal Flush

16:43 Uhr

„Ich glaube ... ich glaube, ich habe gerade eine ... eine Entführung beobachtet."

„Eine Entführung, in Ordnung. Mit wem spreche ich denn? Wo befinden Sie sich?"

„Da war ein Mann mit einer schwarzen Haube. Ich sah nur die Augen. Und er ... er ... hatte eine Pistole-"

„Um den Mann kümmern wir uns. Nennen Sie mir jetzt bitte ihren Namen."

„Oh, ja, ja, natürlich. Ich heiße Nam Hyori."

„Hyori-ssi, wann und wo haben Sie den Mann gesehen?"

„Vor ... vor drei Minuten? Ich habe ihn nur ganz kurz gesehen, dann bin ich weggelaufen. Im Industriegebiet Eunpyeong-West an der Druckerei Joo Jonghyun, er ist in eine der Hallen rein und er hat drei Mädchen vor sich hergetrieben und sie müssen ja solche Angst haben und ... ich hätte ihnen helfen sollen, nicht wahr? Oh, großer Gott ..."

„Sie haben alles richtig gemacht. Es sind bereits Kollegen auf dem Weg. Bitte bleiben Sie in der Nähe und halten sich für Rückfragen zur Verfügung, aber gehen Sie nicht näher an das Gelände heran."

„Ja. Ja, in Ordnung. Ich muss nur ..."

„Sie müssen gar nichts, bleiben Sie wo Sie sind. Wir werden gleich bei Ihnen sein."

17:12 Uhr

„Leider können wir die Aufzeichnungen des Verkehrsüberwachungssystems in der direkten Umgebung nicht abrufen, die entsprechenden Kameras wurden möglicherweise manipuliert. Das betrifft einen Umkreis von rund 300 Metern."

Das würde auf eine geplante Tat hinweisen. Seungmin unterdrückte ein Stöhnen. Es war Sonntag, der vierte Advent, er hatte höllisch Kopfschmerzen und seit neun Stunden nichts mehr gegessen. Seine Familie saß gerade in dem süßen kleinen Restaurant in Dongjak, in dem seine Lieblingstante heute ihren Geburtstag feierte.

Nun, und Seungmin war auf dem Weg zu einem Entführungsfall. Oder Erpressung. Oder weiß der Himmel was – es gab jedenfalls eine Geiselnahme und damit war er im Spiel.

Einem Spiel mit ungewissen Regeln, einem unbekannten Gegner und unendlich hohem Einsatz.

Einem Spiel mit potenziell tödlichem Ausgang.

Der Teamleiter vergrößerte den entsprechenden Ausschnitt des Stadtplans von Seoul auf dem Bildschirm im vorderen Bereich des Polizeibusses. „Die Zielpersonen befinden sich vermutlich in einem dieser Gebäude." Drei graue Gebäudeflächen wurden angeklickt und färbten sich in einem hellen Rot. „Das Fabrikgelände ist von einem Zaun mit Stacheldrahtkrone umgeben und der einzige Hinterausgang wird seit der dritten Minute nach dem Notruf polizeilich überwacht. Die Streife befand sich gerade in der Nähe. Den vorderen Eingang haben wir vom Hauptsitz der Firma aus elektronisch verschließen lassen. Es ist nahezu unmöglich, dass Geiselnehmer oder Geiseln das Gelände in der Zwischenzeit verlassen haben."

Für Seungmins Geschmack ein „nahezu" zu viel.

Außerdem lief ihm die Zeit davon. Er musste sich auf seinen Job vorbereiten, verdammt nochmal! Als der Teamleiter zur geplanten Aufteilung der Einsatzkräfte überging, riss ihm der Geduldsfaden.

„Entschuldige Eunkwang-ssi, aber wie sieht es mit den Personen aus? Wie viele Täter sind es? Ist ihre Identität bekannt? Wie viele Geiseln sind es? Gibt es Verletzte?"

Der Teamleiter quittierte die Unterbrechung mit einem ungeduldigen Blick.

Aber für die Verhandlungen bei einer Geiselnahme war es essenziell, dass Seungmin über Situation, Hintergrund und Motive der Täter Bescheid wusste. Je weniger Informationen er besaß, desto eingeschränkter waren sein Handlungsspielraum und desto riskanter war jeder einzelne Schachzug. Jedes Wort, das er sagte, jedes Angebot, das er unterbreitete.

Zudem war er direkt dem Einsatzleiter unterstellt, nicht dem Teamleiter Seo Eunkwang, und arbeitete als Polizeipsychologe und Verhandlungsführer deutlich eigenständiger als etwa die Mitglieder des Spezialkommandos. Seine Aufgabe waren der Kontakt und die Verständigung mit dem Täter. Damit lag ein möglichst gewaltfreier Ausgang der Geiselnahme in seiner Verantwortung.

„Wir wissen nicht viel. Die Zeugin hat einen vermummten und bewaffneten Täter sowie drei Geiseln gesehen. Die Identitäten sind nicht bekannt. Wir versuchen-"

Eunkwang unterbrach sich selbst, als sein Diensthandy klingelte. Mit zusammengezogenen Augenbrauen lauschte er dem Anrufer, stellte zwei knappe Nachfragen und beendete das Gespräch. Seungmin sah, wie sich seine Schultern anhoben, als er tief einatmete und senkten, als er die Luft wieder ausstieß. Nur einmal. Das war der Moment, in dem Seungmin wusste, dass etwas im Argen war.

„Bei den Geiseln handelt es sich um die Mitglieder der Kpop-Gruppe Royal Flush, namentlich Lee Chaeryeong, Choi Jisu alias Lia, Lee Felix und Han Jisung sowie die Geschwister Hwang Yeji und Hwang Hyunjin. Möglicherweise befindet sich auch einer ihrer Manager unter den Geiseln, Seo Changbin. Die Gruppe erfreut sich seit ihrem Debut im letzten Jahr stetig wachsender Beliebtheit, in Südkorea und international. Dem CEO ihres Labels Up and Up Entertainment zufolge sollten die sechs sich nun eigentlich in ihrem Warteraum bei den Seoul Music Awards am anderen Ende der Stadt aufhalten. Ihr Fernbleiben wurde dort natürlich bemerkt, zumal die Gruppe wohl hervorragende Chancen auf mehrere Preise hat. Die Presse weiß von einer Entführung; unsicher ist, ob sie bereits eine Adresse haben."

Wunderbar. Ein Geiseldrama mit Personen des öffentlichen Lebens, dessen Verlauf Millionen Musikfans, Sensationsgierige und Missgünstige überall auf den Zehenspitzen haben würde. Und seine Verhandlung mittendrin.

„Wollen wir den Einsatz nicht gleich im Fernsehen übertragen lassen?"

„Sicher, vielleicht wird dann weniger spekuliert."

„Welcher Idiot hat bitte schön die Presse informiert?"

Die anwesenden Kräfte des Spezialkommandos teilten offenbar Seungmins Fassungslosigkeit. Eunkwang erlaubte ihnen den Moment der Empörung, bevor er mit der Einteilung der Teams und Positionierung der Scharfschützen fortfuhr, den Grundriss der Gebäude einschließlich Keller, Fenster und inaktiver Kameras erörterte und die Techniker einwies. Dann wurden ein letztes Mal Ausrüstung und Schutzkleidung kontrolliert, ehe die Männer und Frauen aus dem Wagen sprangen und ausschwärmten. Sie trafen als letzte von sechs Einheiten an dem abgeriegelten Fabrikgelände ein und ein kurzer Rundumblick zeigte Seungmin, dass auch sein Arbeitsplatz bereits stand – das Kommunikationszentrum. Wie immer würde er sich den kleinen Lieferwagen der Polizei voller blinkender Lämpchen und flimmernder Bildschirme auch heute mit ein paar Technikern teilen. Gemeinsam hielten sie ihre Hälfte der mobilen Einsatzzentrale am Laufen und unterstützten die Kommandozentrale. Na ja, die Kommandozentrale und Seungmin, denn Technik lag ihm wirklich nicht.

17:39 Uhr

Draußen erhob sich eine aufgeregte Stimme über das geschäftige Treiben, dann gab es einen dumpfen Schlag, als jemand oder etwas gegen die Seite des Einsatzwagens stieß.

Die Hecktür wurde aufgerissen. Seungmin nahm den schlanken, jungen Mann erst nur aus dem Augenwinkel wahr – er hatte lange hellblonde Haare und trug keine Uniform. Hinter ihm stieg ein Polizeiobermeister ein, der für Zugangssicherung und Absperrung des Einsatzortes zuständig war.

Warum ließen die Zivilisten herein?

„Zum Teufel, Taemin! Was soll das?"

Der Obermeister murmelte etwas von „durch die Absperrung gebrochen" und „völlig hysterisch".

„Wenn ich mich nicht irre, ist es Ihr Job, genau das zu verhindern", versetzte Seungmin scharf. „Schaffen Sie ihn hier raus!"

Doch er hatte seine Rechnung ohne den – gar nicht mehr so hysterisch wirkenden – Zivilisten gemacht. Der Mann stand inzwischen an dem Tisch mit den Kommunikationsapparaturen, die das Bindeglied sämtlicher Einheiten darstellten, das Herzstück der mobilen Einsatzzentrale und-

Seungmin blinzelte. Der Mann hatte sich einen dicken Strang Kabel um die Hand gewickelt und einen entschlossenen Gesichtsausdruck aufgesetzt. War das eine Drohung? Was wollte dieser Mensch? Ihm musste bewusst sein, dass er aus dem abgeriegelten Bereich nicht so einfach wieder hinauskam, wie er hereingekommen war. Doch ein paar Steine konnte er ihnen zweifelsohne in den Weg legen. Die Stecker ziehen – eine Verzögerung von zehn Minuten im besten Fall. Das konnten die zehn Minuten sein, die am Ende fehlten. Wenn er aber ein Messer in der Tasche hatte ... die Kabel durchschnitt ... nicht auszudenken. Dann konnten sie einpacken.

„Ich bin Hwang Hyunjin", begann der Mann mit honigweicher Stimme und grenzenlosem Selbstbewusstsein. Dann sagte er nichts mehr. Seungmin war nicht sicher, ob die folgende Stille eine bedeutungsschwere Pause sein sollte, deren Bedeutung er nicht verstand. Oder ob Hwang Hyunjin vielleicht der Meinung war, dass sein Name allein alle Fragen zu beantworten vermochte. Nun, da musste Seungmin ihn enttäuschen. Obwohl er ihm irgendwie bekannt vorkam. Doch, er hatte den Namen definitiv erst kürzlich gehört. Wenn er nur wüsste ...

„Hwang Hyunjin", wiederholte der Mann eindringlich, jede Silbe einzeln betont. „Meine Schwester heißt Hwang Yeji."

Oh. Da klingelte etwas. Oh scheiße. Ja, jetzt erkannte er auch sein Gesicht. Er hatte den Fotos der Geiseln nur einen flüchtigen Blick gegönnt, Herkunft und Familie waren ihm wichtiger gewesen. Nur, dass der hier anscheinend keine Geisel war?

„Sie ist eine der fünf Geiseln da drin." Die letzten Worte wurden von einem weitschweifenden Rudern des freien Arms begleitet, das vage in Richtung der Geiseln wies, der Tonfall erinnerte an das Klagegeheul eines Wolfes. Oder zumindest an Seungmins Vorstellung vom Klagegeheul eines Wolfes.

„Sie sollen sie doch da rausholen! Und Sie tun überhaupt nichts, habe ich recht?" Hwang Hyunjin wurde mit jedem Satz lauter. Vielleicht war er doch hysterisch. Ein kleines bisschen.

„Hyunjin-ssi", sagte Seungmin ruhig und noch einmal: „Hyunjin-ssi, können Sie mir bitte zuhören?" Er lehnte sich an dem Tisch in seinem Rücken an. Senkte die Körperspannung. Atmete. Die Rückwärtstendenz in der Bewegung gab Hyunjin Raum, das sollte ihn beruhigen. Seungmin glaubte nicht mehr, dass er die Kabel tatsächlich ziehen würde, viel wichtiger waren jetzt ein paar Antworten.

Der Mann öffnete den Mund, wollte protestieren, schien es sich dann aber anders zu überlegen.

„Hyunjin-ssi, unseren Informationen zufolge sind es sechs Geiseln, nicht fünf, und eine davon sind Sie. Ich frage mich nun – sind Sie entkommen oder wurden freigelassen? Wenn ja, wie, warum? Oder waren Sie gar nie in der Gewalt des Täters?"

Seungmins Gegenüber schnappte nach Luft.

„Natürlich war ich nie bei dem Geiselnehmer! Wäre ich sonst so gelassen?" Dabei stieß er beide Hände wiederholt in Richtung seiner Brust. Na bitte, die Kabel hatte er schonmal losgelassen.

„Warum hat ihr CEO dann behauptet, Sie seien eine der Geiseln?"

Der Mann zog einen Schmollmund.

„Vielleicht hat er das ja geglaubt?"

Er drehte den Kopf zur Seite und ließ die Haare vors Gesicht fallen.

Er gluckste.

Er sah in Seungmins Richtung, kämmte sich mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht und schenkte ihm von unten herauf einen Augenaufschlag, den er in jedem anderen Kontext als lasziv bezeichnet hätte.

„Ich hätte nämlich mit den anderen fünf im gleichen Auto sitzen sollen, um zu der Award-Show nach Yangcheon-gu zu fahren. Vielleicht hätte ich das ja sogar, wäre ich nicht noch mit Manager-nim ... beschäftigt gewesen."

Er leckte sich die Lippen.

Nur die Ruhe. Seungmin hatte in seinem Leben schon mit vielen kranken Menschen gesprochen, er würde nicht wegen dieser ignoranten, eitlen, selbstbezogenen Diva die Beherrschung verlieren.

„Um welchen Manager geht es? Seo Changbin?"

„Na was denken Sie denn? Sehe ich aus, als würde ich Jeon Soohyun länger ansehen als notwendig?"

Seungmin könnte kotzen.

„Hyunjin-ssi, mich interessiert nicht, was sie mit wem am Laufen oder nicht am Laufen haben. Es steht die Möglichkeit im Raum, dass der Entführer auch ihren Manager Seo Changbin in der Hand hat. Wenn Sie mir bestätigen, dass er bei ihnen war, lässt sich diese Eventualität ausschließen. Begreifen Sie das?"

„Letzte Woche hat sie Sungie an den Hintern gepackt! Die ist echt unangenehm."

Das Funkgerät auf dem Tisch rechts von Seungmin erwachte knackend zum Leben. Eunkwang berichtete knapp von einem Seo Changbin, der sich als Manager von Royal Flush ausgewiesen habe und angeblich, sehr zu seiner Verwunderung, nach dem Idol Hwang Hyunjin suchte.

„Hwang Hyunjin ist im Kommunikationszentrum", bestätigte Seungmin. „Schicken Sie den Manager her, dann tragen wir alle Informationen zusammen." Und er wurde hoffentlich endlich diesen Lackaffen los.

Besagter Lackaffe riss die Augen auf und schüttelte verzweifelt den Kopf. Mit erhobenen Armen kam er auf Seungmin zu – als ob er sich an ihm festklammern, ihn umarmen wollte. Dem bettelnden Ausdruck in seinem Gesicht nach war es wohl kein Angriff, aber ... hatte dieser Mann denn noch nie von Grenzen gehört, von Respekt, zumal Respekt gegenüber bewaffneten Beamten? Das ging zu weit. Als Hyunjin in Reichweite war, schlug Seungmin ihm die Arme weg und tat einen Schritt zur Seite, sodass er ihm den rechten Arm auf dem Rücken verdrehen und ihn bäuchlings gegen den Tisch stoßen konnte.

„Reißen Sie sich zusammen", fauchte Seungmin. Er ließ eine sorgsam kalkulierte Menge Ärger in die Worte fließen. „Was sollte das gerade?"

„Ich will doch nur helfen, Yeji und Sungie und Felix und die anderen zu retten. Aber wenn Changbin-hyung kommt, darf ich bestimmt nicht hierbleiben."

„Sie können sowieso nicht hierbleiben. Und ich bin nicht Ihr Freund." Seungmin ließ seinen Arm los und trat zurück. Hyunjin wirkte zittrig, als er sich umdrehte – gut so. „Viele meiner Kollegen hätten Ihnen das als körperlichen Angriff ausgelegt. Sie können froh sein, dass ich es war."

„Es tut mir leid", murmelte Hyunjin und diese Worte wirkten aufrichtiger als alles, was Seungmin bisher von ihm gehört hatte. In seinen Augen schwammen Tränen. „Es ist bloß, die meisten Menschen mögen am liebsten, wenn ich anhänglich bin."

Seungmin nickte knapp. „Passen Sie einfach ein bisschen auf."

Er wies Hyunjin an, sich in eine Ecke zu setzen, solange sie warteten – der Mann hatte in den letzten fünfeinhalb Minuten mindestens vier so grundverschiedene Gemütszustände durchlebt, wie sie die meisten Menschen in einem Monat nicht erfuhren. Er tat ihm leid. Es wurde Zeit, dass der Manager kam.

Wo war eigentlich dieser Obermeister hin verschwunden? Anscheinend war es ihm nicht mal in den Sinn gekommen, Verstärkung zu schicken. Und wieso brauchte Sowon so lange? Die Technikerin hatte doch nur ein fehlendes Verbindungsstück besorgen wollen, eines mit intakten Steckern.

Seo Changbin stellte sich als breitschultriger Mann heraus, der eine ungeheure Ruhe ausstrahlte – Ruhe und Sicherheit und eine Aura, die sagte „Alles wird gut". Er war der Typ Mensch, dem Seungmin ohne zu zögern sein Leben anvertrauen würde. Der Typ Mensch, der fast nie wütend wurde und in dessen Umlaufbahn sich niemand befinden sollte, wenn es doch geschah. Außerdem schien ihm die Dringlichkeit der Situation bewusst – er hielt sich nicht mit Förmlichkeiten auf, sondern entschuldigte sich in der knappsten angemessenen Weise für die Umstände. Dann bestätigte er, dass Hyunjin und er sich eigentlich in dem entführten Auto hätten befinden sollen, aufgrund gewisser Umstände, auf die er nicht näher einging, aber erst später losgefahren seien. Und die ganze Zeit über ruhte seine Hand auf Hyunjins Schulter, den Seo Changbins bloße Anwesenheit zu beruhigen schien. Das war gut. Unstet wie er war, konnte Hyunjin jede emotionale Stütze gebrauchen.

Seungmin stellte ihm noch einige Fragen, bevor er die beiden mit der Bitte entließ, sich für mögliche Rückfragen bereit zu halten. Anschließend funkte er einen der Kommissare an – wusste man denn gar nichts von dem sonstigen Personal? Es musste doch einen Chauffeur geben und wahrscheinlich auch Bodyguards. Doch an dieser Front verliefen die Ermittlungen stockend, so berichtete Lee Minho. Vor Ort gab es keine Spur von einem Chauffeur oder Bodyguards, im Büro des Entertainment Labels bekamen sie niemanden ans Telefon und der CEO war noch nicht eingetroffen, da er wohl außerhalb der Stadt gewesen war und nun im Stau stand.

„Natürlich könnten sie ebenfalls als Geiseln festgehalten werden, dann gäbe es zwei oder drei Geiseln mehr, als wir dachten", schloss Minho.

„Dann müssen es aber mehrere Geiselnehmer sein", gab Seungmin zu bedenken. „Einer allein kann unmöglich sieben oder mehr Personen entführen. Das wäre bei fünf schon schwierig, aber da ist zumindest kein ausgebildeter Bodyguard dabei. Oder aber sie hängen selbst in der Sache mit drin. Könnte nicht einer von ihnen der Entführer sein?"

Minho bestätigte, dass auch das eine Möglichkeit war, die nicht außer Acht gelassen werden durfte, und beendete das Gespräch. Frustriert klickte Seungmin sich durch die Informationen, die er bislang zusammengetragen hatte – fast alles zu Royal Flush sowie das Entertainment Label, über den Entführer wusste er noch immer nichts. Die Situation war so verdammt offen. Es gefiel ihm überhaupt nicht.

Und dann brach die Hölle los.

„Ich habe einen Link geschickt, den ihr euch anschauen müsst. Unser Geiselnehmer ist online", rasselte der Einsatzleiter herunter, als er sich per Funk im Kommunikationszentrum meldete. Und wenn sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstanden, was er damit meinte, so änderte sich das schneller, als ihnen lieb war.

Die Internetseite brauchte einige Sekunden, um sich aufzubauen. Zunächst erschien ein Videofenster, wie Seungmin es von YouTube und einschlägigen Portalen kannte; dann eine Kommentarspalte, die sich so schnell bewegte, dass es schwerfiel, einzelne Kommentare zu entziffern. Das Bild war zu körnig, als dass Seungmin viel hätte erkennen können, aber auf Sowons hochauflösendem Monitor sah das anders aus. Die Kamera war auf fünf Personen gerichtet, die nebeneinander an ein Geländer gefesselt waren.

Drei Frauen – Hwang Yeji, Lee Chaeryeong, Lia.

Und zwei Männer – Han Jisung und Lee Felix.

Fünf Gesichter voller Angst und Verzweiflung, fünf Gesichter mit schwarzen Streifen von unterschiedlich stark verlaufener Wimperntusche. Hier eine Frisur, die an ein Vogelnest erinnerte, dort ein Gesicht mit einem tiefroten Abdruck in Form einer großen Hand, da eine zerrissene Jacke.

Die Kameraqualität war ausgezeichnet, jetzt, wo er einen ordentlichen Computer vor sich hatte; die Aufnahme war gestochen scharf.

Sowon deutete auf eine Zahl links unter dem Video, die ständig größer wurde.

„Es sind schon mehr als zwei Millionen Zuschauer", sagte sie tonlos. „Dabei läuft der Stream gerade mal seit 36 Minuten."

„Ist das live?", wollte Seungmin wissen.

„Davon gehe ich aus. Warum tut er das? Sein Verbrechen dokumentieren?"

Seungmin zuckte mit den Schultern. „Vielleicht gibt es ihm einen Kick? Die ganze Aufmerksamkeit, er fühlt sich jetzt wichtig. Aber das werden wir sicher noch herausfinden. Wichtig ist erstmal, dass die Geiseln unverletzt sind. Und dass wir diesen Stream stoppen."

„Oh", stieß Sowon aus und drückte ein paar Tastenkombinationen, bis auf einem zweiten Monitor eine Aufnahme aus der Kommandozentrale erschien. „Die Besprechung sollten wir wohl nicht verpassen."

Der Einsatzleiter sprach bereits, als Sowon den Ton zuschaltete. Wie zu erwarten gewesen war, bekam ihr neuester Teamzuwachs – ein junges Computergenie namens Yang Jeongin mit Hintergrund in der Hacker-Szene – den Befehl, den Stream schnellstmöglich zu stoppen, oder ihn am besten gleich vom Netz zu nehmen. Die Kollegen Choi 1 und 2 würden ab sofort kein Auge mehr von dem abwenden, was im Stream passierte und sämtliche Informationen herausziehen, die zur Identifikation des Täters beitrugen sowie Aufschluss über seine Bewaffnung und sein weiteres Vorgehen gaben. Der Geschäftsführer der Druckerei hatte für sie bereits identifiziert, in welchem der in Frage kommenden Gebäude die Geiseln festgehalten wurden. Die neu gebaute Lagerhalle befand sich in der nördlichsten Ecke des Geländes, sie sollte erst in den kommenden Wochen in Betrieb genommen werden. Das Geländer, an dem die Geiseln festgemacht waren, gehörte zu einer Metallbrücke, die sich wie eine Galerie an der Westseite der Halle entlang zog. Eine starke Position – erhöht und zu mehreren Seiten abgeschirmt, war sie selbst von einer Person gut zu verteidigen. Dafür gab es an beiden Enden der Plattform einen Treppenaufgang, sodass der Zugang im Falle einer Stürmung von zwei Seiten möglich wäre.

Sungjae – Sowons Technikerkollege, der sich gerade neben Seungmin quetschte und ihm ein Stück Pizza anbot – sollte die Lautsprecher verkabeln. Seine Versuche, einen unauffälligen Kanal zu schaffen, über den der Verhandlungsführer mit dem Geiselnehmer Kontakt aufnehmen konnte, waren fehlgeschlagen. Also würde Seungmin es auf diesem Wege versuchen müssen. Dem lauten, dem öffentlichen Weg, bei dem jeder in einem Umkreis von 400 Metern auf Seungmins Worte lauschte und betete, dass er die richtigen fand.

18:18 Uhr

„Die Befragung im Entführungsfall Royal Flush führen die Kommissare Bang Chan und Lee Minho. Bitte nennen Sie für die Audiodokumentation ihren vollen Namen."

„Kim Hyunsik, ich bin der CEO von Up and Up Entertainment."

Seungmin verfolgte die Befragung am Monitor – so sparte er wertvolle Minuten. Außerdem vertraute er Chan und Minho blind, nicht umsonst arbeiteten die drei schon seit der Ausbildung zusammen.

„Hyunsik-ssi, fünf Mitglieder ihrer Musikgruppe Royal Flush befinden sich derzeit in der Gewalt eines Entführers. Haben Sie-"

„Sie meinen sechs."

„Wie bitte?"

„Royal Flush besteht aus sechs Idols."

„Hwang Hyunjin gehört glücklicherweise nicht zu den Geiseln."

Für einen winzigen Moment verlor Kim Hyunsiks Gesicht jeden Ausdruck.

„Oh. Ha, so ein Glück! Na, das wird die Fans ja freuen!", rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch. Der Moment war vorbei. „Dieser Geiselnehmer wird sich vielleicht ärgern, dass er nur fünf erwischt hat."

Ganz bestimmt. Fünf Menschenleben reichten für eine Erpressung ja nicht aus.

„Zurück zu Kommissar Bangs Frage: Gibt es Forderungen? Geld? Hat der Entführer Kontakt zu ihnen aufgenommen?"

„Nein, das hat er nicht."

„Haben Sie eine Ahnung, um wen es sich bei dem Täter handeln könnte? Haben Sie Streit mit jemandem? Feinde?" Das war wieder Chan.

„Ich und Feinde?", fragte der Mann mit einem Schmunzeln. Dann lachte er laut. „Was glauben Sie denn? Ich arbeite in der Unterhaltungsbranche – ziemlich erfolgreich sogar, wenn ich das so sagen darf. Der Konkurrenzdruck ist groß. Da gibt es viele Neider, wissen Sie?"

„Nein, das wissen wir nicht", sagte Minho. „Erzählen Sie doch mal. Wem würden Sie denn eine Entführung zutrauen?"

„Nun, ich möchte keine Namen nennen. Hab ja keine Beweise, nicht wahr? Aber natürlich habe ich sehr von JYP Entertainments Insolvenz profitiert. Und bei Woolim kenne ich eine ganze Menge Leute, die ihre neue Boygroup sicher gerne da sähen, wo Royal Flush jetzt ist. Aber wissen Sie was? Sie haben mein volles Vertrauen. Sie sind die Polizei, sie werden die fünf schon da rausholen."

Der Mann lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände vor dem Bauch. Die Ruhe in Person. Das war doch nicht zu fassen. Was glaubte dieser Mann denn? Dass der Entführer eine Wasserpistole trug?

„Wir tun, was wir können", sagte Chan diplomatisch.

Kim Hyunsik nickte. „Davon gehe ich aus. War es das dann? Ich muss mit meinen PR-Leuten das weitere Vorgehen besprechen."

„Klären Sie das bitte zunächst mit dem Einsatzleiter ab. Er entscheidet, welche Informationen freigegeben werden. Hier sind wir fürs Erste fertig."

Kim Hyunsik erhob sich noch vor den beiden Polizisten. Er richtete sein Jackett, lehnte sich vertraulich über den Tisch und murmelte: „Ich verlasse mich auf Sie. Sie werden das Ding schon schaukeln", bevor er sich zur Tür wandte und ging.

Seungmin fragte sich, ob der Mann eigentlich begriffen hatte, dass es hier nicht um eine gewöhnliche Dienstleistung ging, nicht um irgendeinen Auftritt seiner Gruppe oder die Renovierung seines Büros. Dass sie sich in einer prekären Katastrophensituation mit einer sehr realen Geiselnahme befanden. Was stimmte nur nicht mit diesem Tag?

18:30 Uhr

Mit angehobenen Armen stand Seungmin im Kommunikationszentrum, während Sungjae um ihn herumwuselte, Kabel und Ersatzlautsprecher und ein Aufnahmegerät an ihm befestigte und das Headset einhängte, dass er nur brauchen würde, falls das große Mikrophon ausfiel. Er kontrollierte gerade, ob sein Funkgerät auch nicht mit dem Mikrophon interagierte, als Chan hereinstürmte und wie wild mit dem Handy in seiner linken Hand herumfuchtelte. Anscheinend hatte der Geiselnehmer beschlossen, selbst Kontakt aufzunehmen.

Seungmin atmete tief durch. Er war für das hier ausgebildet; er lebte dafür. Er konnte endlich tun, wofür er hier war.

„Guten Abend", meldete er sich am Telefon, „mein Name ist Kim Seungmin. Ich werde für heute Ihr Ansprechpartner sein."

„Halten Sie Ihren Schnüffler von meinem Stream fern. Wenn ihr den Stream ausschaltet, werde ich eine der Geiseln erschießen. Und wenn ihr ihn dann nicht weiterlaufen lasst, erschieße ich noch eine. Verstanden?"

Darum ging es also.

„Ich habe Sie verstanden", bestätigte Seungmin. „Ich werde sehen, was sich tun lässt. Aber überlegen Sie gut, ob Sie das wirklich wollen. Ihre Position wird schwieriger, wenn Geiseln sterben. Dann könnten meine Kollegen die Geduld verlieren und das Gebäude stürmen, um die restlichen Geiseln zu befreien."

„Dann lasst einfach den Stream weiterlaufen!"

Das war wohl eine rote Linie, eine Grenze. Ihm in dieser Hinsicht Zugeständnisse abzuringen, dürfte schwierig werden.

„Wie schon gesagt – ich schaue, was machbar ist. Wie darf ich Sie ansprechen, Ahjussi?"

Der Mann zögerte. „Sie können mich Rob nennen."

Ein englischer Name? Seungmin hörte keinen Akzent, aber der konnte auch vom Stimmverzerrer verschluckt werden oder der Name sollte ihn in die Irre führen.

„Sehr gerne, Rob. Verraten Sie mir, ob es den Geiseln gut geht?"

„Sie sind unverletzt. Denken Sie an den Stream!"

Damit legte Rob auf. Seungmin sah zu Sowon hinüber, die das Gespräch zum Anrufer zurückverfolgt hatte. Sie zuckte mit den Schultern.

„Leider nicht sein Handy, so dumm ist er nicht. Es gehört einer der Geiseln, Hwang Yeji."

Wäre ja auch zu schön gewesen. Seungmin beschloss, dem Geiselnehmer fünfzehn Minuten zu geben, bevor er ihn zurückrief.

Der Anruf wurde weggedrückt. Wie auch alle weiteren.

18:55 Uhr

Aber Rob hätte sich keine Sorgen machen brauchen.

„Es ist längst überall. YouTube, Twitter, TikTok, in den gängigen sozialen Medien. Wir sind in den aktuellen Nachrichten weltweit, im Fernsehen und bei den Online-Magazinen. Es gibt schon Sondersendungen. Vor Ort rennt die Presse uns fast die Türen ein – die Absperrung wurde verstärkt und die gesamte zweite Hundertschaft ist abgestellt, um die Barrikaden aufrecht zu erhalten. Neben den Journalisten gibt es auch hunderte von Schaulustigen und sie alle sind nicht zimperlich, wenn es darum geht, einen Blick auf den Tatort zu ergattern", berichtete der Einsatzleiter.

Und sie konnten nichts dagegen tun, konnten es nicht stoppen, nicht verlangsamen. Der Stream war so gut geschützt, dass Jeongin keinen Angriffspunkt fand, keine Lücke in der Verteidigung, keine schwache Firewall.

Sie konnten nichts tun.

19:15 Uhr

„Fuck", hauchte Sowon und ja, das traf es ganz gut.

Der Anblick bereitete Seungmin beinahe körperliche Schmerzen.

Han Jisung zitterte. Er stand völlig unter Strom, jeder einzelne Muskel an seinem Körper schien zum Zerreißen gespannt. Seine Atmung kam unregelmäßig, stoßweise, das Gesicht glänzte vor Schweiß, die Haare hingen klatschnass herunter. Lia, die Jisung am nächsten angebunden war, redete mit beschwörender Stimme auf ihn ein. Immer wieder warf sie sich gegen die Fesseln, streckte sich nach Jisung. Er reagierte wohl positiv auf Körperkontakt, vermutete Seungmin, das war bei Panikpatienten häufiger der Fall. Aber es reichte nicht, der Abstand zwischen den beiden war zu groß.

Irgendwo außerhalb des Sichtfelds der Kamera fiel eine Tür ins Schloss, dann hörte man Schritte auf einer Treppe.

„Bleib weg von ihm."

„Er hat eine Panikattacke! Sehen Sie das nicht?"

„Ich sagte: bleib weg. Bleib-"

Jetzt schaltete sich der zweite Mann ein, der ganz rechts angebunden war, am weitesten von Jisung entfernt. „Aber Jisung braucht Hilfe. Er könnte gleich hyperventilieren und das Bewusstsein verlieren. Er hat seine Medikamente heute Abend noch nicht genommen, es geht ihm wirklich nicht gut."

Lee Felix' ruhiger Bass schien dem Rob zu gefallen – jedenfalls unterbrach er ihn kein einziges Mal.

Der Entführer zögerte. Einige Sekunden lang hörte man nur flache Atemzüge und inkohärentes Gebrabbel aus Jisungs Richtung.

Lia witterte die Chance und wagte einen weiteren Versuch.

„Vielleicht könnten Sie ihn ja an einer anderen Stelle festmachen? Er hat nämlich auch so furchtbar Höhenangst. Und hier am Geländer geht es hinter ihm sicher vier Meter in die Tiefe."

Das machten die beiden gut – kompromissbereit und mit konstruktiven Vorschlägen auf den Geiselnehmer zuzugehen, die diesen nicht zu viel kosten sollten und für Jisung doch die größtmögliche Erleichterung bedeuteten.

Mit halbem Ohr bekam Seungmin mit, wie der Entführer den Vorschlag ablehnte – Jisung befände sich dann nicht länger im Sichtfeld der Kamera und wäre nicht mehr im Stream zu sehen. Warum war dieser Stream bloß so wichtig?

Seungmin funkte den Einsatzleiter an. Wie schnell war ein Zugriff möglich? Wie hoch das Risiko? Da Rob konsequent jegliche weitere Kommunikationsaufnahme verweigerte, konnte Seungmin nichts mehr tun. Jisungs Zustand erforderte sofortiges Handeln, doch Seungmin war machtlos.

Und dann begann er zu schreien.

„Hör auf", befahl Rob und dann nochmal, lauter: „Hör auf!"

Aber Jisung hörte nicht auf. Erstmals seit Beginn des Streams trat Rob ins Sichtfeld der Kamera. Er trat Jisung gegen das Schienbein, dann gab er ihm einen Stoß vor die Schulter.

„Warum machst du das?", brüllte er. „Hör auf damit!"

Jisung schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen, genauso wenig wie die Rufe seiner Freunde zu ihm durchdrangen. Er hatte die Augen zusammengekniffen und schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück, soweit die Fesseln es zuließen.

Ohne den Blick vom Geschehen auf dem Bildschirm abzuwenden, sagte Seungmin ins Funkgerät: „Wenn es eine Möglichkeit gibt, die Geiseln da rauszuholen, tut es jetzt."

Der Entführer presste sich die Hände auf die Ohren. Seine Bewegungen kamen stakkatoartig, die Augen huschten in alle Richtungen. In diesem Moment war er unberechenbar – die Anspannung, unter der auch er in den letzten Stunden gestanden hatte, brach sich Bahn.

„Seid still! Alle!"

Vier Geiseln gehorchten.

Seungmin war nicht sicher, wo er die Pistole hergenommen hatte. Auf einmal war sie da und die Mündung wies auf Jisung.

„Halt die Klappe! Ich halte das nicht mehr aus!"

Aber Jisung schrie. Und schrie. Und schrie.

Die drei Schüsse erfolgten aus nächster Nähe, der Entführer konnte nicht verfehlen.

Und dann wurde es still. Seungmin hatte versagt.

„Verdammte Scheiße", brüllte Rob, nur um Sekunden später in manisches Lachen auszubrechen. „Einer weg, bleiben noch vier."

Endlich gab der Einsatzleiter die nötigen Befehle, um das Gebäude zu stürmen. Nach wie vor war das mit einem enormen Risiko verbunden, denn von den drei Zugängen waren zwei Notausgänge, die sich eigentlich nur von innen öffnen ließen, während das Haupttor möglicherweise verbarrikadiert war, um der Polizei das Eindringen zu erschweren. Die Notausgänge sollten möglichst unbemerkt mit Trennschleifgeräten geöffnet werden, sodass zwei Teams gleichzeitig eindringen konnten. Die acht Scharfschützen auf den Dächern der umliegenden Gebäude hatten den Schauplatz durch die hoch angebrachten Fenster der Lagerhalle im Visier.

Der Einsatzleiter endete mit den Worten: „Finaler Rettungsschuss freigegeben, Elimination des Geiselnehmers nach eigenem Ermessen."

Seungmin hatte so was von versagt. Noch nie zuvor waren seine Verhandlungen so fehlgeschlagen, dass es Tote gegeben hatte – und jetzt das. Hoffentlich passierte den anderen Geiseln nichts. Er sah auf den Bildschirm. Zwei der Frauen und Felix weinten leise vor sich hin, Hwang Yeji starrte mit leerem Blick in die Ferne. Verdammt, sahen die alle jung aus. Der Entführer hatte sich für den Moment beruhigt – oder stellte zumindest keine akute Bedrohung dar. Er sang. Ein ... war das ein Kinderlied?

Fünf kleine Fische, die schwammen im Meer

Da sprach die Mutter: ‚Ich warne euch sehr

Ich wär viel lieber in nem kleinen Teich

Denn im Meer gibt es Haie und die fressen euch gleich'

Ach du Schreck! Ein Fisch ist weg.

Na los, meine kleinen Vöglein, singt! Das könnt ihr doch so gut, oder? Schwap, schwap, schwapschwabidua schwap, schwap ..."

Rob kniete sich neben Chaeryeong und löste die Kabelbinder um ihre Handgelenke, dann zog er sie auf die Füße. Sie war ein bisschen grün im Gesicht.

Vier kleine Fische, die schwammen im Meer ...

Warum singst du denn nicht mit? Fang schon an!"

Tapfer begann Chaeryeong zu singen, ihre Stimme bebte. Immerhin – der Geiselnehmer war auf diese Weise abgelenkt. Er bemerkte nicht, wie die beiden Notausgangstüren hinter ihm aufgeschoben wurden oder wie immer mehr Polizisten hindurch huschten und sich links und rechts an den Wänden entlang auf die Treppenaufgänge zubewegten, die zu der Plattform führten.

Seine erhöhte Position verschaffte dem Geiselnehmer den Vorteil der besseren Übersicht. Aber sie bedeutete auch, dass er in der Falle saß. Wie auf dem Präsentierteller. Sobald die Treppenaufgänge gesichert waren, gab es keinen Fluchtweg mehr. Wenn er das begriff, konnte absolut alles passieren. Von Kapitulation bis zu haltlosem Umherschießen – seine Reaktion war nicht vorherzusehen.

Seungmins Wissen um das Geschehen in der Lagerhalle war begrenzt – das Sichtfeld der Kamera sowie die knappen Funkkommandos von Einsatz- und Teamleiter definierten seine Wahrnehmung in diesen entscheidenden Sekunden. Dabei sollte er da drin sein, bei dem Spezialkommando. Mit dem Geiselnehmer sprechen, die Herausgabe der Geiseln erwirken. Stattdessens saß er hier fest, dank einer dämlichen Regel aus einem längst überholten Vorschriftenkatalog vom letzten Jahrhundert.

Der Verhandlungsführer bei einer Entführung, Geiselnahme oder Erpressung begibt sich nicht in die direkte Umgebung des Verhandlungspartners, es sei denn dies wird von ebenjenem ausdrücklich gefordert und auch dann nur in dem Falle, dass ebenjener die Verhandlung über einen Mittelsmann verweigert ...

Sie brauchten eine Reform. Es wurde ständig reformiert, überall. Warum nicht bei der Polizei?

Das Team, das durch den nördlichen Notausgang eingedrungen war, erreichte seinen Treppenaufgang zuerst – nur Sekundenbruchteile, nachdem es entdeckt worden war. Der Entführer – er befand sich nach wie vor im Sichtfeld der Kamera – riss Chaeryeong an sich und setzte ihr die Mündung der Pistole an den Hals.

„Polizei! Lassen Sie die Waffe fallen", rief einer der Männer unten.

Der Entführer dachte nicht daran. Chaeryeong fest im Griff hechtete er auf das Geländer zu und ließ sich zwischen Lia und Yeji fallen. Zu drei Seiten von Geiseln abgeschirmt, konnten das Spezialkommando unmöglich auf ihn schießen. Das Risiko, eine der Geiseln zu treffen, war zu hoch.

„Haut ab! Raus hier! Ich leg die Kleine hier um, wenn ihr nicht verschwindet." Dabei klang er verblüffend beherrscht – als hätte er beschlossen, die Zeit für Spielchen sei um.

Gleichzeitig kamen Informationen über Funk herein. Der Einsatzleiter forderte die Scharfschützen auf, bei Gelegenheit zu schießen. Doch die Antwort war immer das gleiche frustrierende „Kein freies Schussfeld" oder auch „Person in der Schusslinie".

„Wir können das alles klären. Lassen Sie nur das Mädchen los", sagte eine tiefere Stimme vom südlichen Treppenaufgang her.

Rob fuhr herum; es klickte, als er die Waffe entsicherte.

„Ich habe eine andere Idee", begann er grinsend. Er schob Chaeryeong ein paar Handbreit nach links.

Und dann hieß es auf einmal „Schusslinie frei". Seungmin wusste, er würde sich später dafür verabscheuen, aber in diesem Moment; als Rob in sich zusammensackte – er verspürte nur Erleichterung.

19:38 Uhr

Die verbleibenden Geiseln hatte man von ihren Fesseln befreit und aus der Lagerhalle nach draußen eskortiert, wo sie von den wartenden Rettungssanitätern in Empfang genommen wurden. Sie saßen nun eng aneinander gedrängt vor den Krankenwagen, in Schweigen gehüllt und in wärmende Aludecken. Seungmin hatte erwartet, Hwang Hyunjin bei ihnen zu sehen. Vielleicht mit seiner Schwester im Arm, in gemeinsamer Trauer um Jisung. Doch Fehlanzeige, er war nirgends zu entdecken – und genauso wenig der Manager, Seo Changbin.

„Hey, Sie! Ahjussi! Ich weiß ihren Namen nicht mehr, aber sie müssen mir helfen!"

Diesmal erkannte er den Mann mit der weißblonden Mähne sofort – er rannte in Seungmins Richtung. „Bitte", fügte er keuchend hinzu, als er ihn erreicht hatte, „es ist wirklich, wirklich, wirklich dringend."

Wahrscheinlich war Dramatik bei Hwang Hyunjin genetisch veranlagt. Eine Werkseinstellung.

„Wir müssen Changbin-hyung aufhalten, bevor er den CEO umbringt. Kommen Sie?"

Na großartig, hoffentlich war auch das eine Übertreibung.

„Das hätte er natürlich verdient. Aber er ist es nicht wert, dass Changbin-hyung Ärger bekommt", stellte Hyunjin noch klar, bevor sie den schwarzen Kleinbus von Up and Up Entertainment erreichten, aus dem Changbins wutentbrannter Bariton erklang.

Seungmin forderte vorsorglich erstmal Verstärkung an, denn anscheinend hatte er richtig gelegen. Einem zornigen Seo Changbin sollte man nicht in die Quere kommen.

Hyunjin zog erfolglos am Türgriff, dann hämmerte er gegen die getönte Fensterscheibe. Über die Schulter meinte er: „Sicher hat Changbin-hyung die Türen verriegelt, damit er nicht abhauen kann."

Es klackte, Hyunjin schob die Tür zur Rückbank auf und nun verstand Seungmin auch deutlich, was gesprochen wurde. Das Erste, was er hörte, war die weinerliche Stimme von Kim Hyunsik, irgendwo zwischen Angst und Empörung.

„Er sollte doch nicht schießen. Allerhöchstens einen kleinen Warnschuss, für den Effekt. Aber er sollte ihnen doch nichts tun!"

Er sollte?

Changbin musste den Kopf einziehen, doch das tat seiner Präsenz keinen Abbruch. Er hatte sich vor dem CEO aufgebaut, voll von kaum beherrschter Wut und er schien in der Tat kurz davor, dem korpulenten Mann vor ihm an die Kehle zu gehen. Gemessen an dessen leicht käsigem Teint und der Tatsache, dass es beinahe aussah, als sei er mit dem Sitz verschmolzen, schien der sich der Gefahr durchaus bewusst. Anders als Hyunjin, der – je nach Interpretation todesmutig oder lebensmüde – zu Changbin in den Bus kletterte, ihn am Arm fasste und auf ihn einredete.

Schließlich sah Changbin zu Seungmin herüber. „Er war es", knurrte er. „Er steckt hinter der Entführung."

Kim Hyunsik wollte die Ablenkung nutzen, um sich an dem Manager vorbeizuquetschen, doch Changbins Reflexen war er nicht gewachsen. Der Manager schubste ihn zurück in den Sitz und spie ihm ein kompromissloses „Sie bleiben sitzen" entgegen. Hilfesuchend sah der CEO zu Seungmin.

„Was stehen Sie da so rum? Sorgen Sie dafür, dass er mich loslässt."

„Zunächst hätte ich gerne ein paar Fragen beantwortet."

„Aber das ist Freiheitsberaubung!"

„Wie ich das sehe, sitzen wir in gemütlicher Runde zusammen und unterhalten uns nett. Die Kekse sind leider aus. Aber in ein paar Sekunden werden meine Kollegen hier sein – wenn Sie das vorziehen, können Sie sich auch von denen festhalten lassen."

„Das ist doch völlig haltlos! Wie ist Ihr Name? Ich werde mich beschweren."

Seungmin ignorierte ihn.

„Changbin-ssi, wie kommen Sie darauf? Das sind schwere Anschuldigungen."

Und genau deswegen war Seungmin sicher, dass mehr dahinter steckte als nur heiße Luft. Warum sonst würde Changbin seinen Vorgesetzten auf diese Weise angehen, wenn nicht, um die Idols zu schützen, die für ihn wie Familie sein mussten?

„Hyunjin, gib ihm das Handy", sagte er und nickte in Richtung des Handschuhfachs, ehe er Seungmin die PIN mitteilte. 1218. Wie er an die gekommen war, interessierte ihn allerdings auch, aber das konnte warten.

Kim Hyunsik schluckte. Eine Schweißperle rann über seine Stirn und wurde von einer Augenbraue aufgehalten.

„Es ist alles da drauf", begann Changbin. „Die Entführung ist von langer Hand geplant – er hat einen Mann als Entführer engagiert und alles bis ins Detail mit ihm abgesprochen. Seit Monaten hat er Chauffeure und Bodyguards eingestellt, die bereit sind, bei der Entführung wegzusehen und im richtigen Moment zu verschwinden."

Der Manager schnaubte.

„Jetzt weiß ich auch, warum er unbedingt wollte, dass ich Urlaub nehme. Es hat einfach keinen Sinn ergeben, so kurz vor der Award Show-Saison."

„Er lügt", sagte Kim Hyunsik plötzlich, „er war eingeweiht. Er hat alles gewusst."

Changbin explodierte.

„Glauben Sie im Ernst, dass Ihnen das jemand abkauft? Sie kommen nicht mehr raus aus der Nummer. Ihretwegen ist Jisung tot. Ihretwegen sitzen da drüben vier wunderbare junge Menschen, die in ihrem Leben nie wieder vergessen werden, was sie heute gesehen und erlebt haben. Sie werden für das geradestehen, was Sie getan haben. Dafür sorge ich und wenn ich Sie jeden einzelnen Tag an den Haaren ins Gericht-"

„Wollen wir die Sache an dieser Stelle nicht etwas abkürzen?", unterbrach ihn Seungmin. Changbin redete sich noch um Kopf und Kragen. „Wir werden das Handy untersuchen und sollten wir darauf tatsächlich die entsprechenden Beweise finden, können Sie es uns überlassen, ihn vor Gericht zu bringen, hm?"

Changbin nickte. Auf einmal wirkte er gar nicht mehr so wütend – bloß müde. Müde und traurig. Seungmin reichte das Handy an die Beamtin weiter, die inzwischen neben ihm an dem Wagen lehnte; sie würde es so schnell wie möglich in die Technik bringen.

„Nur eine Frage noch – warum das Alles? Warum haben Sie ihre eigene Musikgruppe entführen lassen?"

Kim Hyunsik schien wenig erpicht, noch mehr zu dem Gespräch beizutragen – schließlich rang er sich zu einem „Ohne meinen Anwalt sage ich gar nichts mehr" durch. Das war Seungmin auch Recht. Auffordernd sah er Changbin an – Hauptsache, er bekam eine Antwort, ein ungefähres Motiv.

„Geld. Aufmerksamkeit. Eine aufregende Story, Exklusivinterviews. Vielleicht auch, um ein Alleinstellungsmerkmal zu schaffen? Die Konkurrenz ist stark. Am Ende geht es doch immer um Geld und Berühmtheit und noch mehr Geld." Changbin hielt inne, zögerte. „Außerdem war es sehr wichtig, dass die Entführung genau heute stattfindet. Er liegt wohl seit Jahren mit einem hohen Funktionär von Seoul Music Awards im Clinch. Vielleicht dachte er, er könnte dem eins auswischen, ein bisschen Aufmerksamkeit von seiner Show ablenken. Aber das ist nur eine Vermutung."

Das erklärte so einiges. Wie die Presse so schnell von der Entführung erfahren hatte, Kim Hyunsiks an Unbekümmertheit grenzende Gelassenheit bei der Befragung, die Wichtigkeit des Streams – warum er so gut geschützt gewesen war. Warum sich keine der Geiseln aus dem Sichtfeld hatte entfernen dürfen.

Seungmin ordnete an, Kim Hyunsik festzunehmen, sobald Sowons Bestätigung bezüglich des Handys da war. Im Grunde hatte er zwar schon zugegeben, hinter der Entführung zu stecken, aber sicher war sicher. Die Verurteilung durfte nicht daran scheitern, dass sie bei der Festnahme zu ungeduldig waren und irgendeine Vorschrift missachteten.

Er wandte sich von dem schwarzen Wagen ab, lief in Richtung der Einsatzzentrale. Hundert Meter weiter eilte eine sehnige Gestalt mit weißblondem Haar auf die vier befreiten Geiseln zu, schloss sie in die Arme. Seungmin wollte die Verzweiflung in ihren Gesichtern nicht sehen, diese düstere Hoffnungslosigkeit, und auch nicht den Schmerz und den Horror der vergangenen Stunden. Zum Teil war es seine Schuld. Er war zu langsam gewesen, ihm war es nicht gelungen, die richtigen Schlüsse ziehen. Dann wanderten seine Gedanken zu dem Mann, den er gerade in dem schwarzen Bus zurückgelassen hatte.

Eine Farce. Die Entführung, die am Ende zwei Menschen das Leben gekostet und mindestens vier weitere zerstört hatte, gefaket. Eine Geiselnahme als Pressegig – gestellt, auf eine Art. Nicht echt.

Nicht echt – bis sehr lebendige Menschen starben.

Nicht echt, außer für die fünf Geiseln, deren schlimmster Albtraum in diesem Moment von Millionen Menschen überall auf der Welt begafft, geteilt, analysiert und geliket wurde.

Nicht echt.

Wieder sah Seungmin zu dem Grüppchen bei den Krankenwagen hinüber, inzwischen war er ihnen näher. Im Licht der Autoscheinwerfer tanzten Schneeflocken. Still und leise. Voller Leben.

Es wirkte surreal. Widersinnig.

Doch es war echt.

Seungmin würde später mit ihnen reden.

Später.

MaybeAnotherWraith

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