13. Türchen - -Dreizehn-
Snow On The Beach
(Gewidmet an das BangtanUniverse, iamspringday_fiction mit ihrer Geschichte »Kirschblütenregen« and of course my one and only Taylor Swift)
»And it's like snow at the beach
Weird but fucking beautiful
Flying in a dream, stars by the pocketful
You wanting me tonight feels impossible
But it's coming down, no sound, it's all around«
Taylor Swift – Snow On The Beach
trigger warnings:
drug use | strong language | mental health issues
❄︎ ❄︎ ❄︎
Als Jeongguk das erste Mal auf Park Jimin getroffen war, war es Winter gewesen. Ein bitterkalter, aber dennoch sehr trockener Winter, während dem sich die Sonne tagtäglich hinter milchigen Wolken versteckt hatte. Die Luft war vom erdigen Duft gefallener Blätter erfüllt gewesen und der Sehnsucht nach einem Ende der unendlichen Melancholie. Und Jimins erste Worte an ihn hatten »Verpiss dich von hier, du Kleinkind« gelautet.
Es war die Zeit gewesen, in der Jeongguk es fast nicht mehr ausgehalten hatte. Wenige Monate vor seinem Schulabschluss, seinem endgültigen Entlassungstermin aus Koreas militantem Schulsystem. Damals, als er zum ersten Mal beim Herumstreunen auf die Gruppe an Jungs getroffen war, die in ihrer Freizeit immer zusammen auf einem verlassenen Fabrikgelände abhingen.
Zunächst war Jeongguk dort nicht wirklich willkommen gewesen. Er wäre zu jung, um mit den Straßenkids abzuhängen, hatten sie ihm gesagt. Aber Jeongguk war hartnäckig geblieben. Und irgendwann hatten sie wohl akzeptiert, dass es keinen Sinn machte, weiter die Türen vor ihm zu verschließen.
Park Jimin war einer von dieser Gruppe. Sie nannten sich BTS, kurz für kugelsichere Pfadfinder. Ein ziemlich komischer Name, aber Jeongguk hatte ihn vom ersten Moment an irgendwie gemocht. Genauso wie er Jimin vom ersten Moment an gemocht hatte – auf eine brüderliche Weise, verstand sich. Und trotz der zahlreichen Beleidigungen, mit denen er ihn zunächst von der Fabrik hatte fernhalten wollen.
Jimin war schlussendlich dann sogar die Person gewesen, die sich dafür ausgesprochen hatte, dass er ein Teil ihrer Gruppe werden durfte. Die Person, die ihn kurz darauf am Handgelenk gepackt und durch die Ruinen geführt hatte. Zu ihrer geheimen Lagerfeuerstelle, der Halle, in der sie manchmal Choreografien lernten, einem alten Schwimmbad und ein paar Räumen mit intakten Fenstern, in denen sie oft übernachteten.
Zu guter Letzt waren sie auf das Dach der Fabrik gegangen. Im Nachhinein war sich Jeongguk nicht mehr so ganz sicher, ob er die Schmetterlinge nicht damals schon gespürt hatte. Schmetterlinge im Winter, das muss man sich mal vorstellen! Aber die Art, wie Jimin dort gestanden hatte...wie das von der leichten Wolkenschicht gefilterte Licht in seinen orange-gefärbten Haaren und auf seiner ebenmäßigen Haut geschimmert, wie er die Augen geschlossen und sich dem Wind hingegeben hatte. Jene Augen, die sich immer fast komplett schlossen, wenn er lachte. Jenes Lachen, dem trotz seiner Herzlichkeit immer eine Spur von Traurigkeit innelag.
Sie alle waren verlorene Seelen. Namjoon beispielsweise hatte es in seinem Leben nicht weiter als zu einem Job als Tankwart gebracht, obwohl er eigentlich schon seit Ewigkeiten davon träumte, Musik zu produzieren. Den Verstand und das Talent hatte er allemal dazu. Ähnlich war es bei seinem besten Freund Yoongi, der obendrauf ziemlich gut schreiben und rappen konnte. Die Tatsache, dass er so gut wie nichts besaß, seit sein Zuhause mitsamt seiner Mutter darin in Flammen aufgegangen war, kam ihm dabei nicht gerade zugute. Nun lebte er bei seinem Vater, der sich nicht für ihn interessierte. Zumindest lebte Yoongi dann dort, wenn er nicht gerade so tat, als hätte er keinen Ort, an den er gehen konnte. Auch Taehyung wies nicht die besten Familienverhältnisse auf und ging, wie Yoongi, so gut wie nie nach Hause. Sein Vater war nach dem Tod von seiner Mutter gewalttätig geworden und schlug ihn und seine Schwester, wenn er betrunken war.
Bei Jimin hatte es am längsten gedauert, bis er Jeongguk mehr über sein Leben offenbart hatte. Für Ewigkeiten hatte dieser nur gewusst, dass Jimin quasi nur für das Tanzen existierte und seine ganze Zeit neben BTS in Hongdae auf der Straße verbrachte, um mit Busking ein paar Won zu verdienen. Manchmal hatte er ihm dabei zugeschaut und war heillos verloren gegangen in Jimins Bewegungen.
Es war auf dem Dach der Fabrik gewesen. Jimin hatte einfach begonnen, darüber zu erzählen, ohne dass irgendetwas sie auf das Thema gelenkt hatte. Vielleicht waren es die Frühlingsknospen an den Bäumen gewesen, die ihn damals dazu ermutigt hatten. Die Hoffnung, dass aus dem Schritt, es nun laut auszusprechen, mehr wachsen konnte.
Jimin litt an Angstzuständen und Depressionen. Er hatte deshalb einen großen Teil seiner Jugend in geschlossenen Kliniken verbracht und nach seiner letzten Entlassung den Bildungsanschluss vollkommen verpasst. Seine Eltern finanzierten ihm eine kleine Wohnung, mit der Begründung, dass er sich dort mehr auf sich selbst konzentrieren könnte – in Wahrheit wollten sie sich einfach nicht weiter mit seinen Problemen herumschlagen. Deswegen hatte Jimin sich eben eine neue Familie gesucht. Und er hatte sie in BTS gefunden.
Jeongguk hatte ihm an diesem Abend auf dem Dach auch von seinem Leben erzählt. Davon, dass seine Eltern so gut wie nie zuhause waren, weil sie durch ihre Jobs so viel reisten. Dass sie wohl einfach davon ausgingen, dass er jetzt studieren würde, weil sie sich ohnehin nie nach ihm erkundigten. Jeongguk hatte ihre Ausgleichsgeschenke inzwischen so satt. Er wusste nicht, wohin mit seinem Leben und irgendwie war BTS gerade alles, woran er sich klammerte.
Es hatte sich so einfach angefühlt, mit Jimin über all das zu sprechen. So direkt, Gesicht zu Gesicht und nicht so, wie er über die Geschichten der anderen Mitglieder erfahren hatte. Über Anekdoten, die ab und an fallengelassen worden waren oder das, was man über die anderen so hörte. Jeongguk hatte sich Jimin in diesem Moment so nah gefühlt wie keinem anderen in ihrer Gruppe. Und das war auch der offizielle Tag gewesen, an dem er bemerkt hatte, dass da doch etwas mehr hinterzustecken schien. Dass seine aufrichtige Liebe zu Jimin Sprossen in eine Richtung geschlagen hatte, die so nicht von ihm vorgesehen gewesen war.
Jeongguk hatte sich zunächst davor gefürchtet. Hatte versucht, diese Empfindungen zu unterdrücken und irgendwo tief in sich zu verstecken, in der Hoffnung, dass sie irgendwann von alleine verschwinden würden. Dies war ihm allerdings nicht sonderlich gut gelungen. Wir schrieben nun den zweiten Dezember seit seiner ersten Begegnung mit Park Jimin. Den zweiten, trockenen Winter. Und Jeongguks Gefühle hatten inzwischen ein Ausmaß angenommen, das ihm manchmal fast die Brust von innen heraus zu zersprengen drohte.
Aber wem wollte er auch etwas vormachen? Er hatte im vergangenen Jahr keine Gelegenheit ausgelassen, mit Jimin Zeit zu verbringen. Nächtelang hatten sie sich auf dem Gelände der alten Fabrik herumgetrieben, zusammen Jeongguks bisher unerkannte Passion fürs Singen (und vielleicht auch ein bisschen fürs Tanzen) erforscht, die Poolbeckenwände mit weiteren Graffitis bemalt, Joints auf dem Dach geraucht und dabei Sterne gezählt. Wenn sie abends zusammen mit den anderen am Lagerfeuer gesessen hatten, war Jimins Kopf immer wieder auf Jeongguks Schulter gesunken und dort für wundervolle Ewigkeiten liegengeblieben. Und inzwischen wusste Jimin mehr über den Jüngsten ihrer Truppe als niemand anderes auf der Welt. Ob das wohl auch andersherum galt?
Jimin war eben eine Gestalt, der man sich nicht entziehen konnte. Weder seinem außergewöhnlich schönem Äußeren noch seinem charismatisch-liebevollen Wesen. Wenn Jeongguk bei ihm war, wollte er nichts anderes als ihm die Welt zu Füßen legen. Ihm alles geben, was das Leben versäumt hatte, ihm zu offenbaren. Er wollte, dass dieser Rest von Traurigkeit aus Jimins Lächeln verschwand. Und zu diesem Wunsch stand Jeongguk – Gefühle hin oder her.
Dass der heutige Tag ihn allerdings hart auf die Probe stellen würde, ahnte er auf der Fahrt aus Seoul raus nach Incheon noch nicht. Sie waren mit Jins Pick-Up unterwegs zum Strand. Auf die Insel Seongjae in Incheon, um genau zu sein. Weihnachten stand vor der Tür und keiner von BTS wollte dieses Fest zuhause verbringen. Stattdessen hatten sie sich zusammengerauft, um auf Seongjae eine gebührende Party zu veranstalten. Mit jeder Menge Lammspieße, einer nicht unerheblichen Menge Gras und literweise Alkohol. Familienfeierlichkeiten mussten schließlich entsprechend ausgereizt werden.
Jeongguk hatte sich eigentlich riesig auf den Tag gefreut. Es kam selten vor, dass sie sich solche ausschweifenden Partys »leisteten«, da diese doch immer mit sehr vielen Unkosten und nachträglichen Unannehmlichkeiten einhergingen. Klar hätten sie sich heute auch den Sprit sparen und auf dem alteingesessenen Fabrikgelände bleiben können, doch jeder von ihnen hatte sich nach einer Flucht aus der Stadt gesehnt. Selbst, wenn es nur für ein paar Stunden war.
Beinahe hätte ihnen das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht. Regen galt eher als eine Seltenheit in Südkoreas meist trockenen Wintern, doch natürlich waren genau für jenen geplanten Freitag Schauer angekündigt gewesen. Hoseok hatte zur Sicherheit ein paar Planen und Schirme mit auf den Pick-Up gepackt, doch bisher war der Himmel lediglich von einer dicken Wolkenschicht bedeckt gewesen.
Jeongguk störte sich eigentlich nicht an Regen und Matsch, aber heute war es irgendwie kälter als erwartet, was ein mögliches Nass-werden nicht gerade verlockend klingen ließ. Zudem es mit Regen auch nicht so einfach werden würde, Holz für ein Feuer zu finden. Und Lungenentzündungen waren echt das Letzte, was sie noch obendrauf gebrauchen konnten.
Vielleicht hatte das Wetter aber Jeongguks stillen Bitten wirklich zugehört und schlussendlich nachgegeben. Er glaubte fest daran. Vor allem aber glaubte er für Jimin daran, der seit Anfang Dezember von nichts anderem mehr sprach als dieser geplanten Feier. Gerade saß er mit Yoongi und Hoseok eingequetscht auf der Rückbank des Pick-Ups und zelebrierte mit den anderen lautstark den Song, den Namjoon über die kratzigen Speaker abspielte. All For You von Janet Jackson, wenn Jeongguk sich recht entsinnen konnte. Eins von Jimins Lieblingsliedern (von denen der Jüngere inzwischen zwanzig im Schlaf aufsagen konnte.)
»Hey, Gukkie, sing für mich«, rief Jimin ihm plötzlich zu. Er hatte sich auf die Rückbank gestellt und seinen Kopf durch das Dachfenster gesteckt. Eigentlich schlimm genug, dass sie mit zwei Personen – Jeongguk und Taehyung – auf der Ladefläche über die Straßen jagten, aber niemand aus der Gruppe scherte sich um das Risiko, erwischt zu werden. Heute war ein besonderer Tag und keiner von ihnen würde den Spielverderber markieren.
»It's all for youuuu«, sang Jeongguk deshalb ohne Umschweife und stemmte sich lächelnd mit den Händen am Dach auf die Füße, um mehr auf einer Höhe mit Jimin zu sein. Erst jetzt sah er, dass dieser sich Lametta umgewickelt hatte, der Jeongguk nun fröhlich ins Gesicht wedelte.
»If you really want it«, konterte Jimin fröhlich und tat, als wäre die Girlande eine Boa.
Jeongguk grinste noch breiter. »It's all for youuuu.«
»If you say you need it...«
»It's all for youuuu...«
»If you gotta have it...«
»It's all for you if you make a move...«
»It's all for youuu...«
»Sag mal, könntet ihr beiden Pissnelken da hinten mit dieser Show aufhören und euch wieder auf eure Ärsche setzen? Kein Bock, euch in der nächsten Kurve im Graben liegen zu sehen.«
Jins typisches aufgesetzt hysterisches Meckern brachte den Rest der Gruppe zum Lachen. Jeongguk wusste nicht besonders viel über Jins Hintergründe, da dieser als Ältester ihrer Gruppe sehr darauf bedacht war, den Starken zu spielen. Jimin hatte Jeongguk nur einmal erzählt, dass auch er in seinem Leben sehr viele Menschen verloren hatte – unter anderem seine Freundin bei einem Autounfall. Nach Jahren der Dunkelheit ging er nun auf eine Abendschule und machte ein paar Nebenjobs, um es vielleicht irgendwann mal doch noch zu etwas zu bringen. Manchmal scherze er abends am Feuer darüber, einmal Jimins und Hoseoks Manager zu werden, wenn diese ihre Durchbrüche als Tänzer haben würden. Namjoon und Yoongi könnten sich um die Musik kümmern, Taehyung mit seiner kreativen Ader um das Marketing und Jeongguk? Jeongguk sollte singen, wenn es nach den anderen ging. Er hatte ihnen dabei nie widersprochen, sondern immer gemeinsam mit ihnen angestoßen.
»Vielleicht machst du erstmal deinen Führerschein, Hyung«, kommentierte Yoongi unbeeindruckt von der Rückbank. »Wer keinen Lappen hat, sollte keine so hohen Ansprüche an seine Mitfahrer stellen.«
»Genau«, pflichtete ihm Jeongguk lautstark bei. »Immerhin riskieren wir mit dir so oder so unser Leben.«
»Sei nicht so frech, Kleiner, sonst kannst du den Rest des Wegs laufen!«
Jin machte seine Drohung natürlich nicht wahr. Stattdessen ließ er zu, dass sich auch Taehyung und Hoseok aufstellten, kaum war er mit dem Van von der Straße auf die riesige Sandfläche abgebogen. Die salzige Meerluft pfiff ihnen durch die Haare und fing ihr wildes Rufen und Johlen auf. Die Dunkelheit war längst über sie hereingebrochen und hatte das Meer vor ihnen in eine riesige schwarze Fläche verwandelt. Lediglich die Brandung hob sich noch ein wenig ab und ließ erkennen, wo sich die Wasserlinie befand.
Sie parkten den Wagen in den Dünen und hatten innerhalb einer halben Stunde genug Treibholz für ein anständiges Lagerfeuer beisammen. Als Jeongguk mit der letzten Ladung zu ihrem Rastplatz zurückkehrte, sah er ein paar der Mitglieder dicht zusammengedrängt um Hoseok stehen. Natürlich keimte sofort eine Vermutung in ihm auf, weshalb dies der Fall war. So viele Möglichkeiten gab es immerhin nicht.
Hoseok litt als Konsequenz daraus, dass seine Mutter ihn als Kind verlassen hatte, seit jeher unter seinem eigenen Verstand. Ob er die Pillen nun nahm, um von den Highs zu profitieren oder weil er wirklich dachte, dass er krank war, sei mal so dahingestellt. Jeongguk wusste, dass es hier kein Schwarz und Weiß gab. An einem Abend wie diesen war es gut möglich, dass die Pillen, die er bei sich trug, bunt und in irgendwelche ominösen Formen gepresst waren. Ganz besonders, wenn sie das Interesse der anderen weckten.
Jeongguk beobachtete das Ganze weiterhin aus den Augenwinkeln, während er sich dem Entzünden des Feuers widmete. Etwas zerknirscht stellte er fest, dass Jimin sich ganz schön dicht an Yoongi drängte, kaum hatte sich ihre mysteriöse Zusammenkunft wieder gelöst. Er hasste es, wenn die beiden so aneinanderklebten. Und das passierte leider des Öfteren.
Yoongi und Jimin hatte schon immer etwas Besonderes verbunden, doch Jeongguk hatte keine Ahnung, wie tief dieses Band ging. Er selbst war inzwischen sehr eng mit dem Rapper befreundet, der am Anfang immer so wortkarg, kühl und reserviert auf ihn gewirkt hatte. Aber eigentlich war Yoongi einfach nur ein sehr viel besserer Zuhörer als Erzähler. Er gab gute Ratschläge und hatte immer irgendwelche erstaunlichen Anekdoten parat. Manchmal glaubte Jeongguk, in ihm den großen Bruder gefunden zu haben, den er nie gehabt hatte. Aber nur solange er sich nicht an Jimins Seite klebte und ihm dabei auch noch einen Arm umlegte. Und schon gar nicht, wenn er sich mit ihm daran beteiligte, chemischen Drogen zu nehmen.
Jeongguks Abend war nun schon so gut wie gelaufen. Wenn er etwas hasste, dann wenn Jimin sich irgendwelche Pillen von Hoseok reinpfiff – auch wenn dies nur echt selten der Fall war. Trotz der Tatsache, dass die Wahrscheinlichkeiten dann immer höher standen, dass Jimin sich an ihn kuschelte und seine Nähe suchte. Jeongguk wollte einfach keine verfälschte Version von ihm. Keine von künstlichen chemischen Reaktionen erzeugte Version, die sich nüchtern wahrscheinlich nicht so angezogen von ihm fühlen würde. Und ganz sicher keine Version, die sich für diverse Kuscheleinheiten auch an so gut wie jedes andere BTS-Mitglied hängte.
Eigentlich wollte sich Jeongguk von so etwas wie Eifersucht nicht übermannen lassen, doch gerade fühlte er sich ihr hilflos ausgeliefert. Auch noch dann, als Yoongi und Jimin sich mit dem Rest der Gruppe zu ihm ans brennende Feuer gesellten. Der Rapper hatte sich genau zwischen Jeongguk und Jimin niedergelassen, die Beine, die in zerfetzten Blue-Jeans und Doc Martens steckten, weit von sich gestreckt. Seine auffällig mintgrün gefärbten Haare nahmen im Licht des Feuers einen seltsam grellen Ton an. Sein Blick war wie immer ausdruckslos und auf die Glut gerichtet.
Jeongguk zwang sich dazu, sich auf sein Bier und seinen Lammspieß zu konzentrieren. Nicht darauf zu achten, ob Jimin schon anfing, sich wegen der Pillen komisch zu benehmen. Die Tatsache, dass er ihnen allen zwischendurch Lametta und batteriebetriebene Lichterketten übergeworfen hatte, war definitiv noch nicht als seltsam für seine Verhältnisse zu werten. Und nun war Jeongguks Sicht auf ihn sowieso von jemand anderem abgeschirmt.
Er nagte gerade lustlos am letzten Rest seines Spießes herum, als Jimin aufsprang und Taehyung hinterher sprintete, der ihm beim Vorbeigehen seine Wollmütze geklaut hatte. Nun jagten sie kreischend durch die Dünen und nur noch ihre schwarzen Silhouetten waren zu erkennen. Jeongguk schielte zu Yoongi hinüber. Der Rapper hatte seinen Blick nur kurz dem Spektakel zugewandt, dann aber wieder zum Feuer gelenkt. Leider merkte er sehr schnell, dass der Jüngere ihn heimlich beobachtete.
»Was los, Babyface?«
Jeongguk fühlte sich ziemlich ertappt. »Ach, gar nichts, Hyung.«
»Du hast seit einer halben Stunde keine frechen Kommentare mehr abgelassen und immer wieder zu mir rüber geschaut. Ich bin nicht bescheuert, weißt du?«
Das war er absolut nicht. Jeongguk hätte sich wirklich besser ins Zeug legen müssen, nicht erwischt zu werden...
Yoongi ließ seinen Blick über die anderen Mitglieder schweifen, die alle ziemlich außer Hörweite saßen. Noch ehe Jeongguk sich überhaupt eine halbwegs plausible Lüge auf die gestellte Frage überlegen konnte, begann er erneut mit seiner tiefen, brummenden Stimme zu sprechen.
»Ich erkenne Eifersucht, wenn sie in der Luft liegt.«
Jeongguks Inneres fühlte sich an, als würde er sich in einem absackenden Fahrstuhl befinden. Schnell versuchte er, sich zusammenzureißen. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war noch mehr Verdacht auf sich zu lenken. Eine seiner schlimmsten Horrorvorstellungen handelte davon, dass seine Freunde herausfanden, was er für Jimin empfand. Nicht nur, weil alles, was von der heterosexuellen Norm abwich, in Korea nicht gerade von jedem gern gesehen wurde, sondern auch, weil er Angst hatte, irgendetwas zu riskieren.
Das letzte Mal, dass Jeongguk sich verliebt hatte, war vor circa drei Jahren gewesen. In ein Mädchen aus seiner Klasse. Die beiden hatten sich sehr gut verstanden, waren eine Zeit lang fast jeden Tag miteinander unterwegs gewesen. Jeongguk war sich damals so sicher gewesen, dass sie das Gleiche für ihn empfand wie er für sie. Voller Enthusiasmus hatte er damals all seine Schüchternheit beiseitegeschoben und ihr seine Gefühle verstanden. Damit hatte er das Ende ihrer Freundschaft besiegelt. Eine jene kann nämlich selten normal weiterexistieren, wenn bereits im Raum steht, dass eine Person mehr möchte...und die andere eben nicht.
Jeongguk wollte nicht, dass es wieder so lief. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen als die Vertrautheit, die Jimin und er pflegten, von einem Tag auf den anderen zu verlieren. Dies war erst der zweite Winter, den sie zusammen verbrachten. Der zweite trockene Winter, der sich aber trotzdem so viel weniger melancholisch anfühlte als der erste. Jeongguk hatte nun endlich ein Ziel im Leben. Einmal mit Jimin zusammen auf einer großen Bühne stehen und tanzen. Vielleicht als Background-Tänzer und -Sänger für irgendeine Idol-Band. Wen kümmerte es schon, dass Straßenkids wie sie es niemals in ein Main-Line-Up schaffen würden? Ihnen würden somit ohnehin sehr viele Unannehmlichkeiten erspart bleiben.
»Hey, Kleiner, träumst du oder was?!«
Jeongguk schreckte aus seinen Gedanken auf. »W-was?! Nein! Ich...ich wollte nur sagen, dass ich ganz sicher nicht eifersüchtig bin. Also nicht so wie du jetzt denkst!«
»Ach ja? Wie denke ich denn?«
»Ehm...also...«
»Interessant, dass du gleich in diese Richtung gehst...«
Jeongguk stieg die Hitze in den Kopf. Nun hatte er es sich durch sein eigenes Gedenke selbst vergeigt. Wie würde er das wieder ausbügeln können?
»Ich hab doch gesagt, dass ich nicht eifersüchtig-eifersüchtig bin... Jimin und ich stehen uns einfach sehr nahe. Als Freunde. Und ich...ich will ihn gerne als besten Freund behalten.«
Yoongi lachte sein typisches Lachen, das ein wenig an Testschläge auf ein Mikrophon erinnerte. »Frech und besitzergreifend wie immer, Babyface... Ich dachte schon, du sitzt in irgendeinem Depri-Drogen-Hole fest.«
»Hey, ich hab heute nichts genommen!«
»Meinen herzlichen Glückwunsch. Ich dagegen seh dich gerade doppelt, aber passt schon.«
Jeongguk schnaubte verdrießlich. Yoongi ließ es sich nie anmerken, wenn er konsumierte. Nicht einmal in seinen Augen konnte man es an geweiteten Pupillen ablesen, da seine Iris dafür viel zu dunkel war. Vielleicht verarschte er sie auch immer und behauptete nur, dass er auf irgendwas war. Zuzutrauen wäre es ihm mit seinem chronischen Sarkasmus allemal.
»Aber um jetzt nicht vom Thema abzulenken«, fuhr Yoongi unbeirrt fort. »Was genau ist das jetzt zwischen Jimin und dir? Und lege ich hier den Finger in eine offene Wunde?«
»Es ist nichts zwischen uns, hab ich doch gesagt!«
»Wow, chill... Ist ja nicht so, als ob ich dir gerade Mordpläne vorgeworfen hätte.«
Jeongguk biss sich auf die Zunge. Ihm war durchaus bewusst, dass er sich gerade wie ein trotziges Kind verhielt und Yoongi damit nur in die Karten spielte. Wahrscheinlich war es nun auch bereits zu spät, um zu verhindern, dass der Ältere seine eigenen Schlüsse zog.
»Sorry... Ich bin nur etwas gereizt, keine Ahnung, warum«, versuchte Jeongguk zu retten, was von seiner Ehre noch übrig war. »Vielleicht brauch ich einfach auch 'ne Pille, um wieder klarzukommen.«
Oder um wenigstens mit Jimin auf ein Level zu kommen.
»Schlechte Idee, Zwerg«, lachte Yoongi auf. »Dir geb ich keine Drogen. Ich seh's dir im Gesicht an, du bist einer der Typen, die davon am Ende unfassbar nervig werden und dann kotzen.«
»Wer sagt, dass ich dich nach Pillen fragen würde?!«
»Weil Hoseok mich seine Drugs verwalten lässt, um keinen Total-Absturz zu erleben.«
»...freiwillig?«
Yoongis Mundwinkel zuckten. »Sagen wir es so... Ich kann sehr überzeugend sein.«
Auch so überzeugend, dass Park Jimin sich am Ende für dich entscheidet?
Fragen über Fragen geisterten durch Jeongguks Kopf. Warum hatte Yoongi ihn überhaupt auf die ganze Sache angesprochen? Normalerweise übte sich der Rapper in höflicher Zurückhaltung bei solchen Themen. Dementsprechend war es mehr als verdächtig, dass er Jeongguk so vehement dazu befragt hatte.
»Okay, dann pfeif ich mir eben so viel Gras rein, dass es aufs Selbe rauskommt«, konterte Jeongguk, in der Hoffnung, dass sie so endgültig vom Thema Jimin abkamen. Da hatte er die Rechnung allerdings ohne Yoongi gemacht.
»Wenn du damit seine Aufmerksamkeit bekommen willst, muss ich dich enttäuschen. Ich kenne Jimin schon eine ganze Weile länger als du, schon vergessen? Kein Grund eifersüchtig zu werden, wenn er sich mal neben mich statt neben dich setzt.«
Jeongguk konnte die Welle an Traurigkeit nicht wirklich erklären, die ihn mit diesen Worten überrollte. Vielleicht war es der Gedanke, dass er vielleicht doch nicht Jimins erste Wahl war, nicht einmal freundschaftlich. Dass er das auch niemals sein würde, weil die anderen immer eine tiefere Verbindung zu ihm haben würden. Eine, die besiegelt worden war durch Zeit. Zeit, die Jeongguk niemals aufholen können würde.
»Ich glaube, ich geh eine Runde am Wasser spazieren«, murmelte Jeongguk, der die Gesellschaft der anderen lachenden Mitglieder und das Dröhnen der Musik aus Namjoons Bluetooth-Boxen plötzlich nicht mehr ertragen konnte. Von Jimin und Taehyung fehlte immer noch jede Spur. Wahrscheinlich rollten sie gerade irgendwo durch die Dünen und bewarfen sich als gegenseitige Rache mit Sand.
Jeongguk war aufgesprungen und davongehastet, noch ehe Yoongi irgendwas hätte erwidern können. Kaum hatte er das Feuer hinter sich gelassen, spürte er wieder die eisigkalte Brise vom Meer und auch das Rauschen der Wellen schaffte es wieder bis zu seinen Ohren. All das half Jeongguk, sich wieder etwas reinzuwaschen von all seinen toxischen Gedanken. Er wollte nicht so sein. Nicht so besitzergreifend und eifersüchtig, wie Yoongi ihn nun wohl ganz sicher einschätzte.
Trotzdem gelang es ihm nicht vollständig, sich von allen negativen Gedanken zu befreien. Manchmal gab es eben einfach solche Momente, in denen er für sich selbst zur größten Gefahr wurde. In denen er zuließ, dass ihn die Tatsache, in welcher Situation er sich hier befand, von innen heraus auffraß. Keine Brandung der Welt würde je diese Last von ihm waschen können.
»Hey, Gukkie... Was ziehst du denn so ein Gesicht?«
Jeongguk zuckte beim Klang von Jimins Stimme unwillkürlich zusammen. Wie es sich für einen guten Tänzer gehört, sah er sogar mit seinem Trab über den Strand noch unheimlich elegant aus. Als würde sich der Sand unter seinen klobigen Doc Martens extra für jeden seiner Schritte zurechtlegen. Seine Haare waren in einem so grellen Orange gefärbt, dass es selbst in der Dunkelheit noch deutlich hervorstach. Seine Mütze hatte er nicht wieder aufgezogen – vielleicht aus Sicherheitsgründen.
»Alles gut, mir wurde es nur etwas zu stickig am Feuer«, log Jeongguk und lächelte Jimin dabei vage an. Dieser legte nur den Kopf schief.
»Yoongi-hyung hat mich zu dir geschickt. Er meinte, du könntest etwas Gesellschaft vertragen bei...was auch immer du machst?«
Jeongguk konnte seinen Kiefer gerade noch daran hindern, nach unten zu klappen. Yoongi hatte Jimin geschickt?! Er hatte ihnen mit voller Absicht etwas Zweisamkeit verschafft?
»Ich...nun ja... Ich lauf hier einfach nur ein bisschen lang...also nichts Besonderes.«
Jimin lächelte ihn warm an. Wärmer als ein Lagerfeuer jemals flackern könnte. »Naja...an einem Strand entlangspazieren ist ja nichts, was du oft machst, oder? Wieso sollte es dann nichts Besonderes sein?«
Jeongguk versuchte einen Blick auf seine Pupillen zu erhaschen. Waren sie geweitet? Anders als bei Yoongi sah man es bei Jimin immer relativ schnell. Seine Iriden waren haselnussbraun.
»Nein...da hast du wohl recht... Aber es ist trotzdem nicht wirklich spannend.«
»Hmm...muss es denn immer spannend sein?« Jimin zwinkerte ihm zu und hackte sich ohne Umschweife bei ihm ein. »Komm, lass uns ein Stück gehen. Bevor Tae nochmal auf die Idee kommt, mir irgendwas zu klauen.«
Jeongguk konnte nicht widersprechen. Er wollte auch eigentlich gar nicht. Da war immer noch dieser bedrückende Verdacht, dass Jimin gerade geistig vielleicht in ganz anderen Sphären schwebte. Dies wurde allerdings von einem anderen Gefühl überwogen. Die Szene fühlte sich fast wie aus einem Film an und plötzlich wuchs in Jeongguk der Drang, nach Bildern der Aurora Borealis zu googeln. Die Nordlichter. Oh man, es wäre so schön, diese jetzt vor Augen zu haben...
»Glaubst du eigentlich, wir bekommen diesen Winter noch Schnee?«, fragte Jeongguk, gedanklich irgendwo auf Island oder am Nordpol.
»Wer weiß?«, gab Jimin zurück. »Ich fände es jedenfalls schön.«
Natürlich tat er das. Jimin fand alles schön, dem ein natürliches Wunder innelag. Schnee hatte etwas Friedliches...vielleicht war Schnee das letzte fehlende Puzzle-Stück, dass Jimin endlich nicht mehr traurig lächelte. Vielleicht war das Leben aber für immer zu emotional gewalttätig, als dass dies jemals wieder möglich sein würde.
Jimin lehnte leise vor sich hinsummend den Kopf gegen Jeongguks Schulter. Dieser traute sich nicht mehr, etwas zu sagen. Die Angst, diesen zerbrechlichen Moment zu zerstören, war zu groß. Diesen Moment, den er aus so vielen Gründen nicht wahrhaftig genießen konnte. Er traute sich noch nicht einmal, sich irgendwas zu erhoffen oder zu wünschen.
Inzwischen war das ferne Klingen der Musik völlig im Rauschen des Meeres untergegangen. Der Wind hatte dazu etwas nachgelassen, was die Kälte um einiges erträglicher machte. Vielleicht war es aber auch einfach nur Jimin. Ja...vielleicht war die Antwort für Jeongguk immer Jimin.
»Liegt es an mir, dass du so komisch bist?«
Jeongguk stolperte fast über seine eigenen Füße. Ganz klar musste sich Jimin irgendwas eingeschmissen haben. So direkt würde er sowas doch sonst nie fragen!
»Was? Um Himmels Willen, natürlich nicht...«
»Aber irgendwas muss ja passiert sein zwischen unserer Ankunft und jetzt. Du kannst es mir ruhig erzählen, wenn's an mir liegt, das weißt du doch.«
»Ich...«
Jeongguk fehlten schlichtweg die Ausreden. Und er war gehemmt, nach ihnen zu suchen. Vielleicht zu müde, vielleicht auch einfach zu selbstzerstörerisch. Er konnte Jimin nicht sagen, was er wirklich für ihn fühlte. Er durfte es nicht.
»...Es...es liegt wirklich nicht an dir...«
Jimin blieb urplötzlich stehen und zwang Jeongguk so dazu, ebenfalls innezuhalten. Immerhin war der Ältere nach wie vor bei ihm untergehakt. Diese Berührung löste er nun allerdings und schob seine Hände tief in die Taschen seiner hellblauen Jacke. Sie wirkte viel zu dünn, als dass sie ihn ausreichend vor der Kälte schützen könnte.
»Manchmal habe ich das Gefühl...«, sagte er plötzlich und sah dabei hinaus auf das schwarze Meer, »...Ich...ich glaube manchmal, dass du inzwischen noch verlorener bist, als damals, als du zu uns kamst. Und irgendwie...fühle ich mich verantwortlich dafür.«
»Das stimmt doch gar nicht!«, platzte es sofort aus Jeongguk. »Ich weiß endlich, was ich aus meinem Leben machen will. Und das nur wegen euch...«
»Ja, aber... Komm schon, Jeongguk-ah...das sind eben Träume, die wir haben. Träume, die sehr weit hergeholt sind und die wir wahrscheinlich nie erfüllen können. Wir trainieren in einer Fabrik, die uns irgendwann auf den Kopf fällt und... Ich meine, schau mich doch an. Ich bin ein Mängel-Exemplar und werde es immer sein. Jemanden, der Panikattacken bekommt, wenn nur ein paar Lichter anfangen zu flackern, der gehört auf keine Bühne. Ich träume davon, weil ich nicht weiß, was ich sonst träumen soll. Ich will es...aber das bedeutet nicht, dass ich dumm und blind bin.«
Jeongguks Muskeln spannten sich unwillkürlich an. Wie immer, wenn diese Wut in ihm aufstieg. Jene, die nur dann aufkam, wenn ihm wieder bewusstwurde, wie unfair die Welt zu Jimin war und wie dieser sich selbst der Position fügte, in die sie ihn zu drängen versuchte.
»Hyung, du tanzt besser als jede andere Person, die ich bisher gesehen habe... Und wenn die Bühne nichts für dich ist, dann gibt es auch noch mehr Möglichkeiten, wie du deinen Traum leben kannst. Als Tanzlehrer zum Beispiel. Und wenn dich keiner nehmen möchte, dann gründen wir eben unsere eigene Akademie. Wir haben doch schon so oft darüber gesprochen...«
Ein trauriges Lächeln kroch in Jimins Mundwinkel. »Das war doch alles nur Spaß, Gukkie... Luftschlösser, die wir uns besoffen gebaut haben.«
Inzwischen war sich Jeongguk nicht mehr sicher, ob Jimin wirklich unter Drogen stand. Er war in diesem Zustand eigentlich immer sehr aufgedreht und weniger pessimistisch. Aber als sich ihre Blicke erneut trafen, sahen seine Pupillen aus wie fliegende Untertassen. Eigentlich ein eindeutiges Zeichen...aber es hielt Jeongguk nicht davon ab, nach Jimins Armen zu greifen.
»Jetzt hör mir mal zu, ich werde uns noch dieses Jahr ein Ticket für den KTX nach Seoul buchen. Im Frühling werden wir gemeinsam hinfahren und wir werden bei jeder verdammten Schule vortanzen und -singen, die es dort gibt. Mag vielleicht sein, dass du dich damit abgefunden hast, so vor dich hinzuleben und Träume Träume sein zu lassen, aber ich werde nicht zulassen, dass du einen weiteren Sommer nur zwischen irgendwelchen Ruinen rumhängst und dich selbst runtermachst. Du hast noch ein ganzes Leben vor dir und du musst so schnell wie möglich anfangen, es wirklich zu leben.«
Jimins Augen waren weit aufgerissen, als Jeongguk seinen hitzigen Vortrag beendete. Er hatte gar nicht realisiert, wie nah er beim Sprechen an Jimin herangerückt war. Scheiße, hoffentlich schaute er ihn nicht so an, weil er ihm ausversehen ins Gesicht gespuckt hatte...
»Gukkie...seit wann bist du so...«
»So was?«
»So...weise?«
Jimin stieß ein unsicheres Lachen aus, doch seine Augen funkelten nicht belustigt. Viel mehr lag diese tiefe Zuneigung in ihnen, in der sich Jeongguk jedes Mal aufs Neue verlor. Trotzdem konnte er sich nicht zurückhalten, beleidigt den Mund zu verziehen.
»Machst du dich über mich lustig?«
»Neiiin, natürlich nicht! ...Ich finde es eher irgendwie...irgendwie süß.«
Jeongguk fühlte sich, als würde er plötzlich auf Treibsand stehen und radikal absinken. Aber halt, stopp... Jimin sagte immer solche Dinge, wenn er drauf war. Und seine Pupillen glichen nach wie vor UFOs. Jeongguk wollte gar nicht wissen, was die künstlich ausgeschütteten Endorphine gerade in seinem Kopf veranstalteten...offensichtlich nur unberechenbares Chaos.
»Ich wusste schon immer, dass du leidenschaftlich bist, auch wenn du dich nicht gerade leidenschaftlich um deinen eigenen Werdegang gekümmert hast. Aber wir haben alle mal diese Phase, oder? Wo man einfach nur wild um sich strampeln und keinen Verpflichtungen folgen will... Du wirst es mal zu etwas Großem bringen, Gukkie, da bin ich mir sicher. Bei mir allerdings...«
»Ach, jetzt hör doch endlich auf.«
Jeongguk verstärkte seinen Griff um Jimins Arme und drehte ihn in Richtung des Meeres. Dafür erntete er einen mehr als verwirrten Blick.
»Ich will, dass du es laut in die Welt schreist.«
»Bitte was?!«
»Ich, Park Jimin, bin keine Mangelware, sondern ein Einzelstück.«
»Du bist übergeschnapp–«
»Und ich werde es noch groß rausbringen, dafür lege ich meine Beine ins Feuer!«
»Ich werde niemals –«
»AH-AH-AH! Ich, Park Jimin...«
»Na, schön, meine Fresse... Ich, Park Jimin –«
»Lauter!«
»ICH, PARK JIMIN, BIN KEINE MANGELWARE.«
»DENN DU BIST WAS?«
»EIN EINZELSTÜCK!«
»UND WAS WIRST DU TUN?«
»DIR IN DEN ARSCH TRETEN, WENN DU NICHT GLEICH DIE KLAPPE HÄLTST.«
Ehe Jeongguk es wirklich realisieren konnte, war Jimin lachend zu ihm herumgewirbelt und hatte sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn geworfen. Seine Arme umklammerten ihn dabei von der Seite und er schaffte es tatsächlich, genug Schwung aufzuwenden, um den um einiges größeren Jeongguk ins Wanken zu bringen. Der Sand kam ihm dabei nicht gerade zu Gute. Ehe Jeongguk sich versah, hatte er tatsächlich komplett das Gleichgewicht verloren und stürzte mit Jimin auf sich zu Boden.
Letztendlich war sich Jeongguk nicht ganz sicher, ob wirklich der Schreck dafür sorgte, dass sein Herz raste. Jimin war mit ihm gefallen und lag nun halb über ihm. Nicht, dass das das erste Mal war, dass sie miteinander rangelten. Aber irgendwas war trotzdem anders. Als wäre irgendwas in der Luft plötzlich in eine bisher unbekannte Richtung gekippt.
»Was sollte das denn...«, murmelte er und klang dabei fast ein bisschen betrunken. Dabei versuchte er nur, die Beherrschung in seiner Stimme zu wahren.
Jimin lachte immer noch und ließ dabei seine Stirn auf Jeongguks Brust sinken. Hoffentlich konnte er dabei seinen Puls nicht spüren. »Keine Ahnung, es kam einfach über...«
Er unterbrach sich selbst, als seine Augen einem Fussel folgten, der zwischen ihren beiden Gesichtern auf Jeongguks Jacke landete. Dann noch einem. Und noch einem. War das etwa...?
»...Schnee?«, sprach Jimin es laut und richtete sich dabei etwas aus, um in den Himmel sehen zu können. »Schneit es?!«
Jeongguk blinzelte mehrfach und war schon drauf und dran, verneinend den Kopf zu schütteln. Allerdings waren aus den wenigen Fusseln inzwischen eine ganze Menge mehr geworden. Flocken. Es waren definitiv Flocken, die da auf seine Klamotten und die freiliegende Haut niedersegelten und in sich zusammenschmolzen. Sie kitzelten Jeongguk, aber nicht nur äußerlich.
Es war ein surreales Gefühl. Schnee am Strand. Das war noch absurder, als überhaupt die bloße Vorstellung, dass es diesen Winter überhaupt noch schneien würde. Aber hier saßen sie und weiße Kristalle verfingen sich in ihren Haaren, schmolzen auf ihrer Kleidung und auf ihrer Haut. Lautlos und ohne jegliche Eile.
»Schnee am Strand«, wiederholte Jimin Jeongguks Gedanken und wisperte die Worte dabei fast schon ehrfürchtig. »Das ist so komisch...«
»...aber wunderschön.«
Ihre Blicke trafen sich erneut. Und Jimins Augen waren mehr denn je UFOs von einem fremden Planeten. Nur konnte Jeongguk sich dieses Mal nicht davon abhalten, völlig in ihnen verloren zu gehen. Seine Hand wanderte wie automatisch zu einer Strähne, die sich in Jimins Stirn verirrt hatte und strich sie weg. Jimins Lider weiteten sich ein wenig, als die federleichte Berührung ihn traf. Sofort fühlte sich Jeongguk, als wäre er zu weit gegangen.
»T-tut mir leid ich –«
Ihm stockte der Atem, als Jimin selbst plötzlich eine unerwartete Bewegung tat. Seine eigenen, wie immer mit silbernen Ringen bestückten Finger taten es Jeongguks gleich. Ehe sich der Jüngere versah, fuhr ein Zeigefinger über seinen Nasenrücken ganz langsam bis hinunter zu seinen Lippen.
»Hattest du jemals solche verrückten Gedanken...wie zum Beispiel, dass wenn genau jetzt das und das passiert, du etwas ganz Bestimmtes tun würdest?«
Jimins Frage war nach wie vor nicht mehr als ein Wispern. Es klang mit seiner zarten Stimme, als würde Jeongguk ein Engel ins Ohr flüstern. Er musste heftig schlucken, um überhaupt fähig zu einer Antwort zu sein.
»Ich...ich weiß nicht, wovon du spricht.«
»Ich glaube, du weißt es genau.«
»Ich...«
Jeongguk konnte nicht mehr klar denken. Jimins Finger lag immer noch auf seiner Unterlippe und sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem eignem entfernt. Vielleicht war es der Moment, in dem Jeongguk einfiel, dass Augen wie Untertassen nicht immer nur von Drogen herrührten. Vielleicht wollte er es aber auch einfach noch nicht wahrhaben.
»It's all for you...if you make a move...« Das war alles, was Jeongguk herausbrachte...und eventuell war es sogar genug.
Jimin blinzelte mit leicht geöffneten Lippen. Schneeflocken verirrten sich dabei in seine Wimpern und auf seine Wangen. Es war zu absurd, um real zu sein. Ein Fiebertraum. Schnee am Strand. Das ging doch eigentlich gar nicht, oder?
Jeongguk wollte es nicht glauben. Auch nicht, als Jimin sich beherzt Zentimeter um Zentimeter vorbeugte und seine Nase gegen die seine treffen ließ. Sie war genauso kalt wie die Schneeflocken.
»Ich glaube, ich tue gerade etwas Verrücktes«, murmelte er und Jeongguk spürte seinen Atem auf seinen eigenen Lippen.
»T-tust du das...weil du high bist?«
»...was?«
»Hast du vorhin nicht...?«
»Ich...ich wollte erst...aber nein.«
»...und wieso nicht?«
»Ich weiß nicht. Irgendwas hat mir gesagt, dass ich es besser nicht tun sollte.«
Sie lagen immer noch da, Jeongguk auf dem Rücken, Jimin halb über ihm und ihre Nasen berührten sich. Sie waren wie festgefroren in diesem Moment, nur dank Jeongguks Frage. Aber sie war essenziell gewesen. Nun wusste er, dass die fliegenden Untertassen nicht von künstlichen Gefühlen getragen wurden. Diese hier waren real. So real wie die Schneeflocken, die den Strand gerade mit einer hauchdünnen weißen Schicht bedeckten.
»Ich hoffe, so denkst du nicht über das Verrückte, was du eigentlich gerade im Begriff warst zu tun«, hauchte Jeongguk und schloss die Augen. Hoffnung. Es war das erste Mal, dass er sich erlaubte, sie in sein Herz zu lassen.
Jimin lächelte. Zumindest hörte man das aus dem leisen »Absolut nicht« heraus, das seine Lippen verließ, bevor er eben jene auf Jeongguks treffen ließ.
Manchmal ist das Leben wie Schnee am Strand. Verrückt, aber unbegreiflich schön. So schön, dass man vielleicht sogar fast den Verstand verliert. Jeongguk war sich nicht sicher, ob die Gesetze der Natur noch greifen, wenn sie diesen Kuss wieder lösten. Für ihn gab es gerade kein oben und unten mehr, nur noch Jimin, überall. Jeongguks Hände in seinen Haaren, der Geruch nach Zuhause in seiner Nase und die Gewissheit, dass das hier gerade richtig und echt war. Es war so viel mehr als ein Kuss. Es war ein Ja. Ein Ja zu dem Leben, das Jeongguk Jimin aufgemalt hatte. Woher er das wusste? Tja...manche Dinge wurden eben nicht mit Worten gesagt.
»Ich verspreche dir, dass das nicht das letzte Verrückte ist, was ich tun werde«, grinste Jimin als Bestätigung, als sich ihre Lippen für einen kurzen Moment voneinander trennten.
Auch Jeongguk musste lächeln. »Ich will es schwer hoffen.«
Und somit hatte der Schnee es wirklich besiegelt. Das kommende Jahr würde der Beginn ihres Lebens sein. Und damit hoffentlich auch das letzte Bisschen Traurigkeit aus Jimins Lächeln waschen...
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