Fluchtversuch
Was sollte das jetzt schon wieder sein? Wer war Siegfried? Lennox stieß einen kurzen Frustschrei aus. So viel war ungeklärt, er konnte sich kaum bewegen und er hatte genug andere Sorgen als irgendwelche Scheinverbündeten und skurrile Nachrichten.
„Ruhe da drinnen!", brüllte jemand von draußen.
Lennox war versucht, zurückzuschreien, sah allerdings keinen Nutzen darin. Er fühlte sich schwach, das hielt ihn allerdings nicht davon ab, sich mit aller Kraft irgendwie aufzurappeln. Er lief in dem winzigen Schuppen hin und her, nutzte jede Bewegungsfreiheit, die er aufgrund der abwesenden Fesseln besaß. Am Anfang taumelte er noch etwas, dann wurden seine Schritte immer sicherer. Schmerzvoll war die Bewegung immernoch, trotzdem machte er weiter. Er begann zu grübeln. Was hatte es mit Siegfried auf sich? War er einer von Orions Männern oder ein Außenstehender. Was waren die wahren Absichten von Hagen? Hingen Hagen und dieser mysteriöse Siegfried vielleicht sogar zusammen? Wie weit war Orion mit dem Magischenvirus? Wie ging es Nelani? Was war mit Cassaras passiert? War er nun wirklich auf ihrer Seite, oder ein Verräter? Hatte er noch andere Ziele, als den Silberumhang? Wie erging es McDonnahall? Tat der Doktor ihm etwas an? Das musste Nelani irgendwie verhindern! Hatte sie eventuell mehr Informationen über Siegfried und Hagen als er selbst?
So viele unbeantwortete Fragen quälten sein Bewusstsein. Es musste doch einen Weg geben, sie irgendwie zu beantworten, oder?
Dass man ihn mal nicht gefesselt hatte, musste Lennox unbedingt ausnutzen, auch wenn er noch nicht genau wusste, wie. Wahrscheinlich dachte Orion, dass er in seinem jetzigen Zustand sowieso nichts ausrichten konnte... Doch der Doktor unterschätzte die Willenskraft des Oblivion. Wenn er etwas tun wollte, dann war jetzt der richtige Zeitpunkt. Aber Lennox wusste auch, dass dieses Lager voll von kampferprobten Männern war. Dennoch...nur jetzt hatte er die Chance zur Flucht. Er konnte Nelani und McDonnahall nicht einfach zurücklassen, allerdings half es ihnen auch nicht, wenn Lennox hier weiter festsaß. Es gab keine andere Möglichkeit. Er musste einen Fluchtversuch wagen!
Lennox wartete bis zur Dunkelheit in der Hoffnung, dass es in der Nacht weniger Wachen gab. Sein Vorhaben war extrem waghalsig und wahrscheinlich leichtsinnig, aber anders ging es nicht. Er wusste nicht, wie lange er all das noch ertrug. Es war, als würde man ihn immer wieder verbrennen, er fühlte sich wie ein eingesperrter Phönix. Sein Körper heilte, er wurde immer wieder aus seiner aus seiner Asche geboren, nur um in der selben Hölle aufzuwachen. Doch seine Seele verlor er Stück für Stück. Er erinnerte sich, wie er sich bei seinem Vater geführt hatte. Er hatte nie richtig zurückgeschlagen, weil er nicht die Kontrolle verlieren und ihn ernsthaft verletzen wollte. Allerdings war das an diesem Ort anders. Er wollte, dass Orion und alle, die ihm freiwillig dienten am eigenen Leib den Schmerz zu spüren bekamen, den sie anderen zufügten. Den sie ihm zufügten und seinen Freunden zugefügt hatten. Ja, er verspürte ein regelrechtes Verlangen danach, ihnen alles zurückzuzahlen. Er wollte sie leiden sehen. Und er verabscheute, dass er so empfand. Er wusste, dass es falsch war, doch er konnte nichts gegen dieses Gefühl tun.
Als er durch den Türspalt erkennen konnte, dass der Tag sein Ende gefunden hatte, ballte er die Hände zu Fäusten und atmete noch einmal tief durch. Würde er versagen, hätte er ein weitaus größeres Problem als bisher. Orion würde zwar toben vor Wut, wenn sein Oblivion floh, was Lennox zugegebenermaßen sehr beglückte. Scheiterte er jedoch, würde der Doktor sich sicherlich daran erfreuen, ihn die Konsequenzen dessen spüren zu lassen.
Erstmal musste Lennox die Aufmerksamkeit der Wachen gewinnen. Er hatte die letzten Tage ihr Verhalten und ihre Anzahl beobachtet und festgestellt, dass es immer zwei oder drei waren, die vor dem Schuppen standen. Weitere befanden sich im Lager verteilt, wenn er die Männer vor der Tür allerdings ausschalten konnte und dann rannte, hatte er eine - wenn auch geringe - Chance, zu entkommen. Sich auf einen größeren Kampf einzulassen, stand nicht zur Debatte, denn er würde zweifelsfrei gegen so viele Gegner verlieren. Soweit Lennox es beurteilen konnte, befanden sich fast alle Darkoner im Lager und das waren verdammt viele. Lärm machen durfte er ebenfalls nicht, da das geschärfte Gehör der Meermenschen ihn sofort wahrnehmen würde. Er musste strategisch vorgehen.
Leise klopfte der Oblivion an die Tür des Schuppens. Welch ein Segen, dass man ihm keine Fesseln angelegt hatte!
„Was hast du, Junge?", ertönte eine Stimme von außerhalb.
Lennox konnte mittlerweile gut erkennen, dass es sich um die von Zeirus, dem Darkonerchef handelte.
„Ich muss auf's Klo.", gab Lennox trocken zurück und verfluchte Zeirus Lautstärke.
Konnte der Typ nicht ein bisschen leiser sein?! Doch sein Plan schien bis zu diesem Punkt tadellos zu funktionieren. Denn kurz darauf hörte Lennox einen Schlüssel, der sich im Schloss drehte, und die Tür schwang auf. Sobald genug Platz war, hechtete Lennox vorwärts und verpasste dem überraschten Zeirus einen Schlag gegen den Kiefer, der den Mann taumeln ließ. Der Oblivion setzte mit einem hohen Tritt gegen seinen Brustkorb nach, der den Darkoner rückwärts zu Boden gehen ließ und wandte sich den anderen Wachen zu, welche begonnen hatten, ihn anzugreifen. Entgegen seiner Erwartungen waren es sogar fünf Männer. Doktor Orion, dieser Mistkerl, musste die Wachen verstärkt haben und das obwohl Lennox durch die Folter geschwächt war! Trotz seiner sichtlich noch nicht wiederhergestellten Kampfkraft, sprang Lennox wie eine Raubkatze auf einen der Typen los und riss ihn mit sich zu Boden. Ein Hieb in den Nacken ließ den Landgänger bewusstlos zusammensacken. Seine übrigen Gegner waren alle Darkoner und durch Orion stärker als herkömmliche ihrer Art. Ein Gefecht bis alle vollständig besiegt waren, konnte der Krieger der Elvarion sich in seiner körperlichen Verfassung nicht leisten.
Die übrigen Wächter schlugen nun Alarm und Panik machte sich in Lennox breit. Er musste hier weg! Sofort!
Er rammte dem Darkoner, welcher ganz rechts stand, den Fuß in die Seite, wodurch dieser aus dem Weg taumelte. Das Lager war durch viele Lampen beleuchtet und auch in den kleinen Häuser wurde das Licht eingeschaltet, sowie in Orions Residenz. Jetzt stürmten auch Männer aus den Zelten und Unterkünften auf sie zu. Das war Lennox' Stichwort!
Blitzschnell schoss er an seinen Wachen vorbei, in Richtung einer kleinen Baumgruppe, welche ihm hoffentlich die Möglichkeit gab, die Darkoner abzuhängen. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er bei seiner Planung nicht bedacht hatte, dass er sich auf einer Insel befand, keine Kommunikationsmittel hatte und zudem die Umgebung nicht kannte. Doch alles war besser als weiter von Orion gefangengehalten und gefoltert zu werden! Der Doktor und seine Männer hatten viele Boote und auch Hubschrauber, immerhin liebte der Dreckskerl den Luxus und nutzte jede Gelegenheit, sich wie ein König aufzuspielen. Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass er regelmäßig Gretzer losschickte, um Müll auf dem Meer abzuladen. Die Frage war eher, wie Lennox die teuren Boote des Doktors zum Laufen brachte. Er war sich jedenfalls ziemlich sicher, dass Orion motorbetriebene Gefährte besaß und davon ordentlich gebrauch machte. Und es konnte doch auch nicht sein, dass der Doktor und seine Leute die einzigen Menschen auf Korsika waren, nicht wahr?
Also rannte Lennox. Während seines Straßenlebens hatte er bereits oft vor der Polizei und manchmal auch vor feindlichen Straßengangs fliehen müssen, allerdings hasste er es, wegzulaufen, anstatt zu kämpfen. Ein guter Krieger stürzte sich jedoch nicht in eine sinnlose Schlacht, wenn es eine andere Möglichkeit gab, die kein verheerendes Ende zufolge hatte. Lennox konnte nicht sagen, dass er nicht gerne kämpfte, doch je mehr man zu kämpfen hatte, desto mehr Narben zeichneten einen. Und es gab nicht bei allen die Garantie, dass sie nicht wieder aufrissen, sondern heilten. Manche Narben blieben ein Leben lang, während die meisten verblassten. Für einen Krieger symbolisierte eine Narbe vielleicht einerseits eine Stärke, ein Überbleibsel aus einem harten Kampf, welches ihn noch mehr stählte. Doch jede Medaille hatte zwei Seiten und hinter Stärke steckte immer auch Schwäche. Es war wie ein doppelschneidiges Schwert. Es konnte alles außerhalb verwunden und niederstrecken, nahm man sich allerdings nicht in Acht, schnitt man sich selbst und zerstörte sich Stück für Stück obwohl man es nie wollte.
Darkoner stellten sich dem Oblivion entgegen, packten seine Arme, zerrten ihn zurück und versuchten ihn mit Schlägen und Tritten zu treffen, allerdings gab Lennox nicht auf. Immer wieder riss er sich los. Unglaubliche Kraftlosigkeit erfasste ihm, sämtliche Verletzungen machten sich bemerkbar und wurden von den Angriffen erneut strapaziert. Sein Kopf dröhnte und das Laufen viel ihm schwer, als würde er Gewichte tragen, die er nicht ablegen konnte.
Wie aus dem Nichts tauchte auf einmal Zeirus vor ihm auf und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen Lennox, woraufhin beide zu Boden gingen. Ein wildes Gerangel entstand, bis der Oblivion es schließlich schaffte, den massigen Darkoner von sich zu treten und aufsprang, um weiterzurennen. Die Schreie der Männer verfolgten ihn, als er die Baumgruppe erreichte, die sich als kleiner Wald entpuppte. Ohne zu zögern stürzte Lennox trotz der Dunkelheit zwischen den Stämmen entlang, wobei er immer weniger erkennen konnte. Nur Mond und Sterne spendeten etwas Licht, als er das Lager hinter sich ließ.
Irgendwann verließ ihn endgültig die Kraft und er stürzte. Lennox rutschte einen kleinen Abhang hinunter und prallte gegen die aus der Erde ragenden Wurzeln eines großen Baumes. Er stöhnte schmerzerfüllt auf und blieb einen Moment liegen. Grillen zirpten im Unterholz und er hörte die Rufe von nachtaktiven Vögeln. Hier und da raschelte etwas im Gebüsch, leise genug, dass Lennox es als ungefährlich einstufen konnte. Seine Atmung ging schnell und das Adrenalin strömte noch immer durch seinen Körper. Hatte er es wirklich geschafft? Der erste Teil seines Plans größtenteils erfolgreich gewesen, allerdings war es ein Problem, dass das ganze Lager sofort aufgewacht war und nun Dutzende von Orions Männern nach dem Geflohenen suchten. Der Wald war daher auch keine langfristige Lösung, denn früher oder später würden sie ihn hier finden. Außerdem waren die Nächte kalt, besonders für Lennox in seiner ramponierten Kleidung. Er wusste zudem nicht, wie viel Rofus ihm der Doktor verabreicht hatte. Es könnte also theoretisch jederzeit passieren, dass der Schutz verflog und dann wäre allein schon ein kleiner Regenschauer sein Untergang. Nelani und McDonnahall waren auch noch im Lager und ohne sie würde Lennox sowieso nicht fliehen, dass würde seine Yavani ihm nie verzeihen.
Der Oblivion stützte sich am Baumstamm ab, um aufzustehen. Er brauchte irgendeinen Unterschlupf! Plötzlich knackte etwas laut in Gebüsch! Lennox wirbelte herum, doch er konnte in der Dunkelheit keine Ursache für das Geräusch erkennen. Jedenfalls bis plötzlich ein schneeweißen Kaninchen vor ihm auftauchte, dessen Fell in der Schwärze der Nacht hell strahlte. Lennox stieß erleichtert den Atem aus, den er unbewusst angehalten hatte.
Dann jedoch erstarrte er. Irgendetwas war seltsam. Ein schneeweißes Kaninchen im Wald? Und das ganze auch noch bei Nacht? Er machte einen Schritt auf das Tier zu und meinte, einen schwarzen Fleck auf seinem Rücken zu erkennen.
Die Stelle sah seltsam aus, irgendwie fehl am Platz, als wäre...
Plötzlich packte ihn jemand von hinten! Lennox erschrak heftig und riss die Hände hoch, doch die Person zerrte sie ihm brutal auf dem Rücken und er hörte das Geräusch von sich schließenden Handschellen, spürte das Geräusch von eisigem Metall auf der Haut. Der Oblivion wollte herumwirbeln, wollte seinen Gegner treten, wollte wegrennen, doch ein Arm schlang sich um seinen Bauch und hielt ihn erbarmungslos umklammert. Lennox rammte seinen Kopf nach hinten und spürte, wie er auf einen Widerstand traf, doch er verspürte alles andere als Erleichterung, als sein Gegner von ihm abließ, bloß Angst, dass er gescheitert war. Endlich konnte er sich losreißen! Lennox drehte sich um und erblickte einen Darkoner, der sich fluchend die blutende Nase hielt. Es war noch nicht vorbei! Lennox verpasste dem Mann einen gewaltigen Tritt, wodurch der Kerl gegen einen Baum knallte und bewusstlos zu Boden sackte. Er brauchte die Schlüssel für die Handschellen, schnell! Lennox wollte grade in die Hocke gehen, als er aus dem Augenwinkel einen Lichtschein erblickte. Sein Puls beschleunigte sich, Feuer schoss durch seine Adern und er rannte trotz Handschellen weiter. Jedenfalls solange, bis auf einmal eine Gestalt vor ihm auftauchte.
Jinx!
„Scheiße!", zischte der Oblivion.
Das war ja wieder klar, genau wie in einem Horrorfilm, wo in einem düsteren Wald plötzlich Gestalten erscheinen! Aber das ganze war sowieso schon wie ein Albtraum, nur dass er nicht aufwachen und alles wieder gut sein würde.
Lennox kam schlitternd zum Stehen und wollte kehrt machen, allerdings stieß er mit dem Rücken gegen irgendetwas. Innerhalb einer Sekunde presste ihn die Person in seinem Rücken mit einer Hand gegen sich und hielt ihm mit der anderen den Mund zu.
Lennox leistete Gegenwehr, erstarrte jedoch, als die Person zu sprechen begann.
„Na na, was sollte das denn werden?", zischte sein Peiniger gefährlich ruhig in sein Ohr.
Orion!
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