Kornblumen
"Noura! Noura!"
Ich ignoriere Icars Rufe. Stur gehe ich geradeaus.
"Noa!"
Ich drehe mich nicht um. Nicht wieder. Nicht noch einmal. Das ertrage ich nicht.
Seine Rufe werden von der Gasse geschluckt. Dunkle Häuser zwischen denen ich hindurch stapfe.
Es stinkt. Nach menschlichen Exkrementen, nach Moder, nach Tod.
Ich weiß das es stinkt. Aber ich rieche es nicht.
Auf meinen Armen Gänsehaut. Ich ziehe meinen zerschlissenen Umhängen enger um mich.
Doch ich spüre die Kälte nicht. Ich bin bereits gefroren. Gegen mein Inneres ist es außen warm. Kalt ist mir immer. Aus meinem Innersten breitet sich die Kälte aus. Kälte, gegen die ich nichst tuen kann. Kälte, die mich verschlingt. Wenn ich nicht bereits verschlungen bin. Ich würde es ja glauben.
Wäre da nicht der Schmerz. Das einzige, was mir in meinem Leben geblieben ist.
Ich bin gefroren. Ein Eisklotz. Nur das dieser zerspringen kann. Ich kann es nicht.
Alles was ich kann ist weglaufen.
Im Frühling, unserem Frühling, unserer Revolution, da war ich jemand. Ich bin nicht gerannt.
Nun ist der Frühling vorbei. Niedergedrückt, von eisiger Hand. Der Winter.
Es war zu früh.
Der Princeps, wie wir ihn nennen müssen, mit seiner Armee. Er war stärker. Mächtig. Alles, aber auch alles, in seiner Hand.
Es war verloren. Zu früh für den Frühling, für die Veränderung. Zu früh für unsere Revolution.
Länger warten konnten wir nicht. Doch nun sind sie wieder in der Gosse. Die für die wir kämpften. Genau wie wir die kämpften.
Wie konnten nicht mehr warten. Es war die einzige Chance, die einzige Chance, die uns geblieben war. Oder die einzige, die wir je gehabt hatten?
Bitter lache ich auf.
Warten konnten wir nicht, den Frühling bringen konnten wir nicht. Was konnten wir denn überhaupt?
Es war verloren, doch unsere Hoffnung. Unser aller Hoffnung, liegend in unserem Fühling. Dafür kämpften wir, mit allen Mitteln. Stehen nun in den Trümmern.
Wer nicht unter der Erde liegt. Dich mittlerweile sehe ich den Tod als Erlösung.
Ruhe.
Frieden.
Ewigkeit.
Denn wofür lebe ich? Ich hatte einen Grund zu leben.
Der Frühling. Meine Familie, meine Freunde.
Ich muss schlucken. Es kratzt in meiner trockenen Kehle. Unkontrolliert beginne ich zu zittern.
Wir wollten es ändern. Den hilflosen Gestalten in den Elendsvierteln helfen. Den Skelettartigen Menschen Nahrung geben.
Ihnen ein Leben bieten. Einen Grund zu leben. Eine Möglichkeit zu leben.
Alles eine Frage der Definition.
Ich stoße einen erstickten Schrei aus. Meine Schwester. Meine kleine Schwester. Die ich nie mehr sehen werde.
Ihre Stimme, die nur noch in meinem Kopf existiert.
Ich presse mir die Hände auf die Ohren. Als könnte ich so die Gedanken aussperren. Die Stimmen.
Denn sie sind fort. Sie alle, alle die mir etwas bedeuteten.
Fort. Für immer.
Sie werden nie wieder kehren. Der Winter hat sie mir genommen. Meine Schwester, die Sanfte, die Zarte. Die, die so viel besser war als ich. Meine bessere Hälfte. Mein Alles.
Alles hat der Winter mir genommen.
Mein Atem geht stoßweise. Flach.
Wieso sollte ich noch leben? Wieso lebe ich noch?
Sterben wäre Friede. Und den durfte ich nicht erlangen.
Nicht ich, Noura, mit den Kornblumen in den Augen.
Nicht ich, die Rebellin.
Die, die aufgestanden war gegen die Tritte des Regimes. Die, die es versucht hatte. Die, die dem Princeps die Stirn geboten hatte. Die, die stand. Die, die es wagte. Die, die es ändern wollte. Die, die den Frieden störte.
So nannten sie es. Frieden. Doch auf der Unterdrückung kann kein Friede entstehen. Wir wussten es, glaubten es zu wissen. Wir wollten etwas tun!
Ich hatte es versucht, mein äußerstes gegeben. Wir alle hatten das.
Doch als mein Blick durch die leer scheinende Gasse schweift und ich die in den dunklen Winkeln kauernden, gekrümmten Menschen sehe, frage ich mich, ob es ihnen nicht vorher besser ging. Ohne die enttäuschte Hoffnung. Den unendlichen Verlust.
Wäre es nicht besser gewesen, hätten wir es nie probiert?
Hunger, Qual, Unterdrückung, Tod.
Wir dachten, es könnte nicht mehr schlimmer kommen. Alles, was blieb war Hoffnung. Hoffnung auf eine bessere Welt. Jede Welte müsste besser sein, dachten wir.
Hinterher ist man immer schlauer. Keiner wusste es besser.
Ich nicht, Icar nicht, Yena nicht, niemand. Nicht einmal mein Vater oder meine Mutter.
Wir alle waren blind. Hatten uns blind in etwas gestürzt. In ein Unterfangen, das nie gelingen konnte. Es war von Anfang an verloren.
Zu früh.
Mitten im tiefsten Winter sollte der Frühling ausbrechen. Getragen von Hoffnung.
Denn Hoffnung war alles was wir hatten. Wir alle hofften. Daher vertrauten wir in die Revolution. So konnte es nicht weiter gehen.
Doch Hoffnung reichte nicht.
Sie war das, was uns selbst in den Dunkelsten Tagen blieb. In den Tagen, in denen wir hungriger vom Tisch aufstanden als wir uns gesetzt hatten. Oder dann, wenn wir nach Eintritt der Ausgangssperre am Fenster saßen und die exerzierenden Soldaten beobachteten. Selbst bei den Hinrichtungen.
Wir hatten noch Hoffnung. Hoffung, unser loderndes Feuer in der Winternacht.
Und wir hatten uns. Ich hatte sie, meine Hoffnung.
Nun ist die Hoffnung zerstört, zerschossen, zerplatzt wie ein Luftballon. Zu voll. Zu viele Erwartungen.
Ich habe keine Hoffnung mehr.
Alles ist gescheitert. Die Träume geplatzt. Sie sind fort.
Sie waren meine Hoffnung. Ohne sie bin ich ein Nichts. Die bunten Fetzen eines geplatzten Ballons. Luftleer, zerstreut, unnütz.
Nur noch interessant für die, die aufräumen. Die, die mit uns schlussmachen. Die, die uns beseitigen. Die, die für den neuen 'Fireden' einstehen.
Für sie war ich interessant.
Denn meine Fetzen haben die Farben von Kornblumen.
Es sind Fetzen der Hoffnung. Fetzen der Revolution.
Noura ist zerfetzt. Zurück bleibe ich. Ein niemand. Fliehend, vor allem und sich selbst.
Noa.
Meine Schritte führen mich in Richtung des Platzes. Es ist der Platz, an dem die Soldaten aufmarschierten. Der Platz, an dem der Princeps redete. Der Platz, an dem auch wir Aktionen starteten. Flashmobs, Flugblätter. Worte waren es, sie Kraft der Worte war unser. Doch er stoppte uns. Lies uns abführen. Verbrannte die Blätter. Exekutierte die, die damit erwischt wurden. Wer sie las wurde ausgepeitscht.
Doch die Schritte sind schwer. Nicht mehr so leicht wie früher. Ich lief lautlos, verborgen, federleicht. Getragen von Hoffnung.
Jetzt sind sie schwer. Doch ich muss mich nicht mehr verstecken. Egal was sie sagen. Wozu verstecken. Um mein Leben zu retten? Es ist nicht nötig. Ob ich es kann, das weiß ich nicht.
Ich will nicht mehr.
Die Kälte, die mein Herz umfangen hält, lässt meine Bewegungen grob und schwer werden.
Für mich gibt es keine Leichtgkeit mehr. Alles ist schwer, kalt und schwer. Als läge eine dicke, schwere Eisschicht über allem.
Gletscher, die alles verschlingen. Die letzten Spuren des Frühlings auslöschen. Eisige Fäuste. Gestärkt von ganz oben. Uns chancenlos überlegen. Doch wir wussten es nicht. Nichts wussten wir. Nichts hatten wir. Außer Hoffnung.
Sie suchen, sagte Icar heute. Sie suchen immer noch. Auch nach mir.
Sollen sie mich doch finden. Verlieren kann ich nichts mehr.
Ich presse die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
Früher dachten wir das gleiche. Doch jetzt, jetzt hab ich nur noch mein Leben. Ich habe niemanden mehr. Mein Leben ist also ohnehin sinnlos.
Denk nicht so! perlt Yenas sanfte Stimme an mein Ohr. Die Stimme, die mir immer Auftrieb gab. Die mich bestärkte. Die mich hielt.
Doch sie sind fort. Sie wollten, dass ich es schaffe. Die Hoffnung nicht aufgebe. Ironie, das sie, die sie meine Hoffnung waren, fort sind.
Es hat uns kalt erwischt. Doch im Frühling steigt auch die Gefahr für Lawinen. Wärme, die den Schnee zum schmelzen bringt. Sie verschütteten uns. Chancenlos.
Es kann nicht mehr weitergehen. Wir sind zerstört. Hoffnungslos zerstört. Trümmer.
Nur noch Trümmer.
Es geht nicht mehr.
Meine Beine wollen nicht mehr. Das eine, das, in dem die Kugel steckte, schmerzt. Es zerfrisst mich. Warscheinlich müssen sich mich gar nicht mehr erschießen.
Icar hat es aufgegeben. Er ruft nicht mehr. Doch wieso auch.
Als ich um die Ecke trete wird mir schwarz vor Augen.
Ein Bild schiebt sich vor die Wirklichkeit.
Meine Schwester und ich. Weihnachten. Warmes Licht, das vom Platz hinüber leuchtet. Doch dort wollen wir nicht sein. Wollen nicht den Princeps feiern. Wir sitzen an der Hauswand, angelehnt. Unseren Stolz haben wir überwunden, eine Weihnachtstüte hält jede in der Hand. Feucht vom Schnee, in dem sie lagen. Unsere Bäuche sind voll, wir lachen. Glücklich.
Nie wieder.
Kalte Tränen kullern mir die Wangen hinab. Ich kann nicht mehr hoffen oder glücklich sein. Nicht ohne sie.
Sie sind nicht mehr. Und werden nie wieder sein. Nie.
Der Frühling brachte Hoffnung. Er sollte sie erfüllen. Stattdessen zerstörte er sie. Hätten wir es doch nie versucht.
Ich hätte sie noch. Ich hätte sie noch.
Könnte ich das Rad der Zeit zurückdrehen, ich würde alles geben. Das größte Elend ertragen, wenn ich sie nur wieder hätte. Ich würde sterben, für sie.
Doch nicht ich bin gestorben.
Meine Hand wischt die Tränen weg. Sie bringen sie nicht zurück. Nichts kann sie zurückbringen. Sie sind fort.Sie sind da, wo ich sein sollte.
Es ist vorbei.
Auf dem Platz stehen die Galgen, doch ich wende den Blick ab. Kann es nicht ertragen hinzusehen.
Selbst durch das Eis in meinem Herzen spüre ich die Angst. Angst, einen Bekannten zu sehen. Denn ich habe viele gekannt. Morgen könnte einer von ihnen hier lang gehen. Wer weiß, wen er dann sehen würde. Ich will es mir nicht ausmalen.
Ich bin schwach. Ängstlich und schwach. Wie habe ich nur denken können, hoffen können, auf unseren Frühling?
Verzweifelte Hoffnung. Verfluchte Hoffnung. Doch sie hielt uns am Leben. Uns. Uns? Mich bis zum Schluss. Bis sie mir genommen wurden. Bis es kein uns mehr gab. Uns hielt sie am Leben. Mich auch? Lebe ich noch?
Mein Herz schlägt, ich atme. Doch lebe ich?
Mein Herz ist gefroren.Mein Atem getränkt mit der eisigen Trauer des Verlustes.
Ich existiere noch. Doch ohne sie lebe ich nicht.
Ich kann es nicht.
Ohne mich würden sie noch leben. Ohne uns. Ohne unseren verzweifelten Versuch. Hätten wir es doch nicht versucht.
Ich werde langsamer. Der dunkle Bogen kommt näher.
Meine Schritte werden unsicher, stolpernd. Bei jedem Schritt splittert etwas in mir.
Denn ich komme ihnen immer näher. Und doch ereiche ich sie nie. Niemals, in Ewigkeit.
Nur ihre letzte Ruhestätte. Am Nächsten an ihnen, und doch so fern. Zu fern. Wäre ich doch bei ihnen. Mich hält nichts mehr. Aber ich kann nicht. Ich darf nicht, er lässt mich nicht. Lies mich nicht.
Mich will der Princeps. Mich wollte er fangen, quälen, zerstören. Er hat sie getötet um mich zu töten. Mich, an die er nicht herankam. Mich, die sie nicht retten konnte.
Hoch und drückend ragt der Bogen vor mir auf. Mächtig. Kalt.
Das schwere Tor quietscht, als ich es langsam öffne.
Es klingelt in meinen Ohren. Ich kann das nicht.
Aber ich muss. Für sie. Meine Schuld.
Der Boden hinter dem Tor ist bedeckt von weißen Steinen. Knirschende reiben sie aneinander, als ich darüber gehe. Die Steine, die seitlich von mir aufgereiht sind, nehme ich nicht wahr.
Nur einen.
Ihren.
Ich schwanke. Falle auf die Knie. Mit zitternder Hand greife ich unter den Umhang.
Kornblumen.
Sie waren unser Zeichen. Sie sollen auch das letzte Zeichen sein. Sie waren das Symbol der Hoffnung. Nun liegen sie hier. Dort, wo meine Hoffnung begraben liegt.
Es ist vorbei. Die Kornblumen liegen auf der Erde. Ich sinke nieder.
Vorbei. Sie sind fort.
Ich werde sie nie wieder sehen. Sie nie wieder in den Arm nehmen. Nie wieder mit ihnen reden.
Nie. Es ist vorbei.
Die Tränen beginnen zu fließen. Still und leise tropfen sie auf die kalte Erde. Zu ihnen.
Wie Tautropfen liegen die Tränen auf den Blüten. Der letzte Tau, Moräne des Frühlings.
Ich kann nicht mehr. Ich kann es nicht ertragen. Sie sind tot. Verloren.
Wäre ich doch mit ihnen gestorben!
Hemmungslos fließen die Tränen, sie vermischen sich mit der dunklen Erde an meiner Wange. Eisig kalt und brennend wie Feuer.
Ich will zu ihnen. Mehr nicht. Bitte!
Verzweifelt bohre ich meine Finger in die Erde.
Bitte...
Doch es ist niemand da, niemand der mein Flehen erhören könnte. Der mich erlösen könnte.
Ich bin allein. Werde alleine sein, bis ans Ende. Und das Ende kann nicht mehr fern sein. Bald bin ich bei ihnen. Bald.
Bald, bitte, bald.
Bald.
Dann höre ich ein Wimmern. So leise, dass ich denke, es mir ein zu bilden. Es vermischt sich mit meinen lautlosen Schluchzern.
Wieder. So leise, doch es durchschneidet die Stille, zieht einen Sprung durch das Eis.
Ich sehe auf. Langsam stütze ich mich hoch. Feuchte Erde unter meinen aufgeschrammten Handballen.
Und plötzlich bin ich wieder Noura.
Mit einer Handbewegung wische ich mir Schmutz und Tränen vom Gesicht. Mein Blick scannt die Umgebung ab. Jede Bewegung wird registriert. Mechanisch.
Im Busch bewegt sich ein Blatt. Winzig klein ist die Bewegung, doch sie kommt nicht vom Wind. Lautlos stelle ich mich auf die Füße, gehockt kauerte ich da.
Da ist es wieder. Dieses verzweifelte Wimmern. Ein unerträgliches Geräusch, bei dem mich eine Gänsehaut überfährt. Vorsichtig pirsche ich mich an.
Angst. Ich weiß nicht, wer oder was dort ist. Ich bin nicht mehr Noura.
Doch ich will nicht mehr. Ich habe nichts zu verlieren. Was auch immer mich erwartet, es kann mir nichts anhaben. Und wenn es eine Armee wäre, die könnte mir nichts nehmen, was ich noch wollte. Sie würden mir nur meinen Weg erleichtern. Noura hätte nie so gedacht. Doch ich bin nicht mehr Noura.
Mit einem Ruck schiebe ich die Äste zur Seite.
Und sehe ein Baby.
Ich blinzele. Tatsächlich. Es ist kein Streich, den mir meine augen spielen. Da liegt ein Baby. Ein kleines Baby. Und es liegt vor mir im Busch. Ein Baby.
Ein Mädchen, das weiß ich. Meine Intuition verrät es mir. Ich sehe ihr ins Gesicht, dem kleinen Mädchen vor mir.
Sie hat aufgehört zu wimmern. Erschreckt starrt sie mich aus ihren großen Augen an.
Ein Baby. Ein Kind. Allein, wie ich. Allein unter Toten. Voller Angst.
"Hey"
Meine Stimme klingt weich und sanft. Ich bin gut darin, das Beben in ihr zu verstecken. Nur ganz leicht hört man das Schwanken. Das verräterische Kratzen. Aber die Kleine soll keine Angst haben. Nicht vor mir. Ich tue ihr nichts. Ich tue niemandem was. Ich bin harmlos.
"Keine Angst. Ich tu dir nichts. Keine Angst"
Behutsam streichele ich ihre winzige Hand.
"Was ist denn mit dir? Was machst du denn hier?"
Leise rede ich mit ihr. Ohne wirklich darauf zu achten, was ich sage. Die Angst schwindet aus ihrem Blick.
"Hat man dich hier gelassen?"
Beruhigend rede ich weiter mit ihr, als ich sie hoch hebe. Sie ist in eine Decke gewickelt, aus der ihre zarten Ärmchen ragen.
Ich wiege sie hin und her, während ich darüber nach denke. Was macht ein Baby auf dem Friedhof? In einem Busch?
Hätten ihre Eltern sie hier versteckt? Doch dann hätten sie sie doch wieder geholt. Niemand würde sie hier lassen. Niemand.
Wenn ihre Eltern sie hier versteckt haben, dann können sie sie wahrscheinlich nicht mehr holen. Weil es ihnen geht wie meinen Eltern.
Ich sehe sie prüfend an. Alleine ist sie. Wie ich.
Erneut schleichen sich leise Tränen auf meine Wangen. Das winzige Mädchen verzieht sein Gesicht.
"Nicht weinen..." bringe ich flüsternd hervor.
Sie hat niemanden mehr. Niemanden, der sie holen könnte. Niemanden, der sich um sie kümmern kann.
Aber sie kann nicht leben, nicht alleine. Sie braucht jemanden. Sie braucht ihre Familie.
Doch die kann ihr nicht mehr helfen. Ohne sie wird sie sterben. Hier.
Ich kann das nicht zulassen. Vielleicht haben ihre Eltern gewusst, dass sie nicht mehr zurückkommen würden. Vielleicht haben sie gehofft, dass ihr jemand helfen würde.
Und ich habe sie gefunden. Sie hier lassen kann ich nicht. Es geht ihr wie mir. Doch sie ist noch so klein.
Nein. Ich kann sie nicht gehen lassen. Nicht auch noch sie. Denn ich bin ihre letzte Chance.
Für mich muss ich nicht mehr leben. Doch sie muss es. Sie hat es verdient. Hat noch alles vor sich. Ich kann sie nicht gehen lassen.
Nein. Nie wieder.
Durch unsere Schuld hat sie alles verloren. Vielleicht ist sie meine Chance. Denn ihr kann ich helfen. Ich kann helfen. Etwas tun, etwas gutes. Etwas für das winzige Mädchen in meinen Armen. Etwas für die Hoffnung.
Sanft wiege ich sie hin und her, lasse meinen Blick schweifen. Steine, Gräber, Ruinen und Trümmer. Hier kann ich nicht bleiben. Hier ist kein Ort für uns. Hier erinnert mich alles an sie.
Ich wende mich erneut dem Grab zu.
"Ich werde es versuchen."
Mehr sage ich nicht. Doch ich werde es versuchen. Weiter zu leben.
Als mich vom Grab wegdrehe zerreißt es mir das Herz. Wieder splittere ich. Ein Teil von mir wird immer hier sein.
Noura.
Dann verlasse ich die Grabstätte. Verlasse ich sie. Zunächst langsam, doch dann werden meine Schritte sicherer. Der Anblick des kleinen Mädchens in meinen Armen bestätigt mich in meinem Entschluss. Es war das Richtige. Sie wollten es so. Es ist richtig.
"Weißt du was? Wir gehen weg. Zusammen." teile ich es der Kleinen mit.
Sie sieht mich an, als würde sie alles verstehen. Doch sie weint nicht. Sie weint nicht, und das, obwohl ich, die ich ihr eine völlig Fremde bin, gerade mit ihr weg gehe. Sie vertraut mir. Dieser Gedanke macht mich schwindelig.
Sie vertraut mir. Und ich hoffe so sehr, dass ich dieses Vertrauen verdiene.
"Aber dann brauchst du einen Namen" spreche ich meinen nächsten Gedanken laut aus. Denn ich kenne ihren Namen nicht.
"Nili" spreche ich sie an. Als ich den Namen ausspreche muss ich unwillkürlich lächeln. Sie lächelt auch.
"Also Nili" bestätige ich es. Und Nili lacht. Ein helles, zwitscherndes Lachen glockenhell und klar.
Wir werden weggehen. Weit weg.
An einen Ort, an dem Nili in Sicherheit lachen kann.
Noa wird leben. Wieder.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top