Zweites Kapitel

Nach ein paar Tagen war das vergangene Khoschi schon nicht mehr Gesprächsthema Nummer eins, und die Erinnerungen verloren sich in meinem Unterbewusstsein. Meine Ausbildung stand jetzt erst einmal wieder im Vordergrund, genau so lange, bis das nächste Fest anstand. Heute war ich gut drauf, und jetzt nach dem Training kribbelten meine Hände seltsam. Ich hätte gern noch länger trainiert. Aber ich hatte jeden Tag nur zwei Hor lang Unterricht.

Putzen stand heute wieder an, und so wunderte es mich nicht, einer jungen Wasserbändigerin mit einem metallenen Gefäß zu begegnen. Sie senkte schnell den Blick, als sie mich kommen sah. Gekränkt sah ich zu dem Springbrunnen im Innenhof, der immer kleiner wurde, je mehr Treppenstufen ich hinauf stieg. Ich war immer noch nicht darüber hinweg gekommen, dass mich manche Bändiger geradezu zwanghaft mieden. Doch langsam fragte ich mich nicht mehr warum.

Ich wandte mein Gesicht wieder dem Flur vor mir zu, in dem auch mein Zimmer lag. Nun müsste es schon geputzt sein, denn ich war heute später dran als sonst. Gerade, als ich eiligen Schrittes mein Zimmer betreten wollte – die Tür war nur noch zwei große Schritte entfernt – kam Sienna heraus.

Ich musste wohl etwas verwirrt geschaut haben, weil die Putzarbeit eigentlich jede Woche neu vergeben wurde und es nur selten vorkam, dass derselbe Bändiger zweimal dasselbe Zimmer säuberte, deshalb meinte sie gleich etwas leiser: „Strafarbeit."

Ich nickte verstehend und wollte in mein Zimmer gehen.
„Warte!"
„Ja?"
„Kaya wünscht dich in ihrem Arbeitszimmer zu sprechen."
„Okay, danke", sagte ich nur, drehte mich um und zog die Tür hinter mir zu. Ich schlug den Korridor zur Treppe ein. Die Zimmer der Priester lagen im untersten Stock, wenngleich Kaya eigentlich nur die wichtigste Dienerin und Schreiberin von Aristopholes war.

Der Gang hier im zweiten Stockwerk war auf der Innenseite offen und gab den Blick auf den gegenüberliegenden Korridor und den Innenhof frei. Der im Innenhof angelegte Garten war quadratisch und symmetrisch ausgerichtet, in dessen Mitte ein wunderschön verzierter Springbrunnen aus rein-weißem Marmor stand. Das Geländer, als Ersatz für die fehlende Wand, war aus feinem, grau-schwarzem Stein, in dem filigrane Schnörkel und Blüten eingearbeitet waren und nur ab und an von einer prunkvollen Säule unterbrochen wurde. Der Tempel war massiv gebaut und sah - zumindest von innen - doch grazil aus. Insgesamt war es symmetrisch und berechenbar, bald schon so viel, um wieder interessant zu wirken.

Ich ging zwei Treppen mit sehr poliertem Geländer hinab, und unter der Empore entlang. Ich begegnete einem anderen Bändiger, den ich mit einem ehrfürchtigen Nicken begrüßte. Dann bog ich in die Grünanlage ein. Das Gras hier war immer frisch und grün, wie Gras im Frühling, obwohl es hier recht kalt war.

Der Springbrunnen erschien von oben zwar fein und grazil, doch je näher ich kam, desto mehr nahm ich seine stabile Bauweise wahr. Das Wasser glitzerte in den wenigen Sonnenstrahlen, die ihren Weg in den Innenhof fanden, atemberaubend schön, fast wie ein durchsichtiger Kristall. Das war das Wasser des Lebens, dessen Quelle direkt neben dem Großen Baum entsprang, einer Esche, auch Weltenbaum. Ich verspürte ein merkwürdiges Verlangen, das Wasser zu bändigen. Noch nie hatten ich oder jemand, der mir sonderlich nahestand, das Wort von Aristopholes gebrochen – er war hier sozusagen der oberste Befehlshaber, und sein Wort war Gesetz – und ich wollte es nicht darauf ankommen lassen. Niemand wusste so richtig, was es darauf für eine Strafe gab, es gab nur Gerüchte. Manche sagten, man würde seiner Fähigkeiten beraubt und von Korelan verbannt. Aber wie man weiß, sind Gerüchte eine Übertreibung der Wirklichkeit.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als sich Schritte auf dem Kies näherten. Es war Jake und ich stöhnte lautlos auf. Er wirkte sonderbar abwesend, bestimmt hatte er Heilkunde und Hypnose-Unterricht gehabt, danach war man nämlich immer etwas durch den Wind. Ich nutzte die Gelegenheit und wollte mich an ihm vorbeischleichen, doch er taumelte in diesem Moment auf mich zu und die Bücher, die er trug, blieben an einem Stoffzipfel meines Umhanges hängen. Sie fielen mit viel Lärm auf den steinigen Weg. Das schien Jake aus seiner Trance zu erwecken und nun blickte er nicht durch mich hindurch, sondern sah mich direkt und unverwandt an. Sein Gesicht zeigte seltsame Überraschung.

„Es tut mir aufrichtig leid", tat ich kund und bückte mich sogleich, um seine Bücher aufzuheben, ehe er es tun konnte.
„Ihr braucht Euch für nichts zu entschuldigen", meinte er nur und verbeugte sich leicht.
Erzürnt über seinen falschen Respekt hob ich drohend die Hand. „Wer gab dir die Autorität zu entscheiden, wer mit 'Ihr' anzusprechen ist?", brauste ich auf. „Diese Ehre gilt ausschließlich den Priestern und Bändigern in höheren Positionen!"
Jake zuckte kaum merklich zusammen ob meiner wütenden Worte, doch ich schien ihn nicht sonderlich einzuschüchtern. „Ihr seid dieser Ehre würdig, das wisst Ihr genau so gut wie ich."
Zorn brodelte in meinem Bauch und drohte überzulaufen. Wenn ich die Kontrolle verlor, ... Ich wagte nicht diesen Gedanken weiterzudenken. Alle könnten getötet werden. Zwar hatte ich nur einmal, bis jetzt, die Kontrolle verloren, doch die Priester hatten mich ausdrücklich davor gewarnt. Ich war die Zwillingsschwester einer Halbbändigerin und hatte somit eine besondere Macht, die Macht über die vier Elemente. Ich wusste nicht, ob es Segen oder Fluch war. Einige Bändiger begegneten mir so feindselig, dass ich nicht glauben konnte, dass meine Kraft einen Nutzen bringen sollte. Ich war eine extreme Seltenheit wie ein exotisches Tier, noch seltener als meine Zwillingsschwester und ihr Freund Caleb. Doch ich fühlte mich so ausgeschlossen und wünschte mir inbrünstig, normal zu sein.

„Wenn ich jetzt bändigen dürfte, solltest du besser auf der Hut sein", knurrte ich. „Jemand wie dich sollte man aus dem Tempel werfen!" Mit diesen Worten drückte ich ihm grob die Bücher in die Hand in stapfte von dannen. Ich sah noch, wie er mir mit offenem Mund hinterher schaute. Er war äußerst verblüfft und fragte sich, ob ich meine Worte wirklich so meinte.
Er war schwer in mich verliebt. Man musste keine Gefühle spüren können, um das zu wissen. Selbst ein blinder Krüppel hätte das bemerkt.

Ich schüttelte den Kopf und trat in den Schatten der Empore. Dort öffnete ich eine Tür, die zu den Gemächern der ranghöheren Bändiger führte. Vor mir lag ein beinahe identischer Flur wie der aus dem zweiten Stockwerk, nur leerer und stiller. Mir stieg der Geruch von Weihrauch in die Nase und ich verlängerte meine Schritte. An den vielen gleichartigen Türen waren goldene Schildchen befestigt, in denen verschiedene Name eingraviert waren. Kayas Zimmer war fast am Ende des Flurs, und ich klopfte schüchtern an die schwere Eichentür.

Ein unerwartet kräftiges „Ja?" ertönte und ich trat ein. Es war ein helles Zimmer mit Möbeln aus dunklem Holz. Ich kannte es schon von meinen Besuchen bei Aristopholes. Höflich knickste ich und ging bis kurz vor ihren Arbeitstisch. „Ihr habt mich hergebeten?", fragte ich freundlich, obwohl ich die Antwort darauf längst kannte. Es war mehr eine formelle Sache.
Sie strich sich ihre ebenholz-farbenen Haare aus der Stirn und deutete auf einen freien Platz. „Setz dich doch", meinte sie und räusperte sich, bevor sie gleich ihr Anliegen äußerte. „Ich habe deine Ausbildung während des letzten halben Jahres beobachtet und du hast erstaunliche Fortschritte gemacht. Glückwunsch." Erfreut ob des Lobes neigte ich den Kopf. Kaya faltete ihre Hände auf dem Tisch und fuhr fort: „Auch alle Priester einschließlich Aristopholes sind dieser Meinung." Mit leicht erstauntem Blinzeln nahm ich dies zur Kenntnis. „Ich soll dir gegenüber von Aristopholes aus ein besonderes Lob aussprechen. Er sagt, nun haben wir eine starke, junge Elementar-Bändigerin zum Schutze Korelans auf unserer Seite."
Überrascht hob ich den Kopf. „Wieso sollte dem nicht so sein?"
Kaya schien nachzudenken, ehe sie antwortete: „Viele Elementar-Bändiger wollen lieber für sich sein und werden zu Einzelgängern. Nicht viele haben bisher in der Vergangenheit an unserer Seite gekämpft. Verstehe mich nicht falsch, aber nicht alle hatten Grund zu bleiben wie du." Sie hustete kurz. „Zurück zum Thema. Der Hohe Rat hat beschlossen, dich auf eine Mission an das Dunkle Tor zu schicken. Du sollst herausfinden, ob von den Thorraken eine Gefahr ausgeht, denn genau das befürchtet der Hohe Rat." Die Thorraken waren viele kleine Zirkel aus Trollen und Gnomen, die die nördliche Hälfte des Neidorgebietes (Ansammlung von Pendusecten, Korelan befindet sich im südlichen Teil) bewohnten. Es war eine raue Gegend mit wenig Vegetation und kalten Winden. Diese Reise würde bestimmt alles andere als gemütlich werden.

„Und wann soll es losgehen?", fragte ich mit gerunzelter Stirn.
„Morgen, vor Sonnenaufgang begleitet dich eine Garde von Bändigern bis zu dem westlichen Wald. Ab da wirst du alleine reisen müssen."
Ich lachte. Ich wusste nicht, was mit mir los war, doch ich lachte wie eine Irre. „Ich soll im Training vorsichtig sein, doch der Hohe Rat darf mich allein zu den Thorraken schicken?"
Kaya durchbohrte mich mit dem scharfen Blick ihrer schwarzen Augen. „Du bist die Einzige auf Korelan, die Gefühle spüren kann. Und die Garde wird dich deshalb nicht bis zu deinem Ziel begleiten, weil dann die Gefahr größer wird gesehen zu werden!"
„Trotzdem", beharrte ich, „ist es so, als würdet Ihr mich in einem sicheren Haus mit Samthandschuhen anfassen und dann, sobald ich vor die Tür trete, den Löwen zum Fraße vorwerfen."
Kaya sprang von ihrem Stuhl auf und eine Zornesfalte zeigte sich auf ihrer Stirn. „Darüber müssen wir jetzt nicht diskutieren! Du bist wie ein roher Diamant, von großem Wert, doch dir fehlt der Schliff! Halte deine Zunge im Zaum, junge Bändigerin! Und jetzt hinfort mit dir! Wir erwarten dich morgen vor Sonnenaufgang aufbruchbereit vor dem Tempel." Sie wedelte mit der Hand, als verscheuche sie ein lästiges Insekt. Entnervt sprang ich auf und flog förmlich zur Tür. Ich musste mich zusammenreißen, sie nicht zu knallen.

Draußen hetzte ich den Gang entlang Richtung Tür. Ich hatte nur einen Wunsch: Kaya und ihre dämliche Aufgabe hinter mir lassen. Ich riss die Tür auf und atmete tief durch. Eine wichtige Tugend der Bändiger war Besonnenheit. In normalem Tempo schritt ich zu dem großen Tor, trat hinaus und griff meinen Gleitschirm. Mit neuem Lebensmut rannte ich los und warf mich von den Felsen. Mein Gleitschirm schnappte mit einem ‚Flop' auf und trug mich über die wilden Lande von Korelan.  

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