Sechzehntes Kapitel

Neben dem Weg plätscherte ein junges Bächlein, welches vor dem Regen wohl ganz und gar ausgetrocknet gewesen war. Eine Zeit lang verfolgte ich es mit den Augen. Es floss in einem Graben, wurde mal mehr, mal weniger von Binsengräsern und gelbblühenden Feuchtpflanzen verdeckt. Als ich es lange nicht entdecken konnte, dachte ich schon, es würde vom Weg wegfließen, doch plötzlich glitzerte und blinkte prismaähnlich ein Stückchen der wellenschlagenden Wasseroberfläche durch die dichte Krautschicht. Es kreuzte den Weg unter einer steinernen Brücke, die anscheinend schon viele Jahrzehnte gesehen hatte. Als wir hinüber ritten, hallten die Huftritte ungewohnt laut nach. Als ich zur Seite blickte, merkte ich, dass sich der Weg vor der Brücke gegabelt hatte.
Wenige Meter nach der Brücke - wir befanden uns in einem recht bewaldeten Gebiet - wuchs vor uns ein steinerner Bogen auf. Davor standen zwei wohl einst metallene, jetzt von Wind und Wetter geplagte Krieger mit je einem sehr spitzen Speer. Staunend durchquerten wir die Konstruktion und ich konnte meinen Kopf gar nicht genug drehen, da entdeckte ich einen versilberten Einhornkopf auf der anderen Seite. Das sehr blank polierte Horn blitzte unheilverheißend im durch die Äste brechenden Sonnenlicht.
"Wir sollten wachsam sein", empfahl ich den anderen möglichst unauffällig. "Hier in dem Wald besteht die Chance, Einhörnern zu begegnen."
"Diese Tiere machen sich aber auch überall breit", beschwerte sich Saphira, doch wir ignorierten ihren Einwurf, da Xantor in dem Moment sagte: "Theoretisch bestünde diese Gefahr in jedem Wald auf der Erde."
"Ja, aber ich habe einen eindeutigen Hinweis gesehen", beharrte ich.
"Von Menschenmassen halten sich die Einhörner normalerweise fern", gab er stirnrunzelnd zurück.
"Was ist jetzt noch normal", murmelte ich eher zu mir selbst und rückte in eine bequemere Sitzposition.
Ich wusste nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, als eine Stadtmauer auftauchte. Das rostige, dicke Eisengitter war hinauf gezogen, aber nichtsdestotrotz kreuzten die Wächte ihre blanken Hellebarden, als wir passieren wollten.
"Was wollt Ihr?", verlangte der eine barsch und ein bisschen genervt zu wissen.
"Wir suchen ein Bett für die Nacht. Dann ziehen wir weiter", teilte ihnen der alte Erdbändiger bereitwillig mit.
"Sicher, dass Ihr nur übernachten wollt?", erkundigte sich der andere Wächter abfällig.
'Freundliche Leute hier', stellte ich fest.
"Ja", antwortete Xantor mit einer anscheinend nie endenden Geduld.
"Wisst Ihr, Lügner fühlen sich schuldig", erzählte uns Ersterer mit in Falten gelegter Stirn. "Es gibt bestimmte Bewegungen, willkürlich oder nicht, die sie verraten."
"Was aber nicht heißt, dass ich ein Lügner bin", entgegnete der Bändiger. Ich konnte erkennen, wie er seine Hände zu Fäusten ballte.
"Und es heißt ebenso wenig, dass Ihr keiner seid."
Xantor seufzte. "Ja, das ist richtig."
Damit war das Gespräch für ein paar Sekunden unterbrochen, weil wir zur Seite traten, um eine Handvoll Händler mit ihren Karren vorbeizulassen.
"Die Gasthäuser in dieser Stadt sind alle belegt", warf sich der zweite unvermittelt in die Unterhaltung.
"Ja, genau", bestätigte der erste Soldat und nickte bekräftigend. Dann straffte er sich und kratzte sich hinter dem Ohr. "Tut uns leid, aber wir dürfen euch nicht durchlassen."
Jetzt war es mit Xantors Fassung aus. "Einen Dreck tut ihr", zischte er bedrohlich. Wir wendeten unsere Pferde und ich stieg ab. Fast beiläufig schlenderte ich zu der Wache. Ich merkte, wie sein Blick an mir hinunter glitt. Den Kopf gesenkt schmunzelte ich in mich hinein. Bei ihm angekommen blieb ich stehen und musste tatsächlich etwas hochblinzeln. Als ich den Mund öffnete, beugte er sich etwas zu mir. "Ihr habt doch gesagt, Ihr wisst immer, wann ein Mensch lügt", wisperte ich verführerisch, immer seine Schwachstellen im Kopf. "Gilt das auch für Euch selbst?", fragte ich ihn und blickte ihm offen in die Augen, in denen sich Unverständnis abzeichnete und die immer zwischen meinen Augen und meinen Lippen hin- und herflogen. Meine Hand wanderte von seiner Wange seinen Hals hinab und schließlich zu dem Kragen seiner Uniform.
Auf einmal brach ich den wundersamen Bann, indem ich heftig daran zerrte und er deutlich zusammen zuckte, aber keine Anstalten machte, handgreiflich zu werden. Immerhin war ich nur eine schwache, schwache Frau. "Denn gerade eben -" Meine Stimmlage änderte sich von einem verführerischen Hauchen zu einem bösen Fauchen. "- gerade eben habt Ihr gelogen." Ich schenkte ihm noch ein bittersüßes Lächeln, bevor ich mich umdrehte, auf Luna sprang und davon galoppierte.

~~~

Im Galopp kamen wir so viel schneller an den Abzweig, als ich geglaubt hatte. Ich stellte mich in die Steigbügel, zügelte Luna und ließ Xantor vorbei, der von nun an wieder die Führung übernahm. Erst dachte ich, er werde wieder bremsen, doch als ich Luna zügelte, merkte ich, dass dem nicht so war, und hieb ihr meine Schenkel in die Seiten. Dafür revanchierte sie sich mit einem kleinen Buckler.

Als es dunkel wurde, war noch immer keine Stadt in Sicht. Dann würden wir heute wohl draußen schlafen müssen. 'Na super', dachte ich und verdrehte die Augen.
Doch wir ritten noch ein ganzes Stück weiter, bevor Xantor langsamer wurde und abstieg. Mit unserer Hilfe errichtete er das Nachtlager. Noch immer befanden wir uns in einem Wald, oder eher gesagt einem weitläufigen Hain, in dem die Bäume weit auseinander standen. Zugegebenermaßen hatte ich noch ein bisschen Bammel wegen möglicher Einhörner. Aber die verflog recht schnell wieder. Hier war der Wald nicht dicht genug, als dass er keine ungewollten Blicke hindurch lassen würde. Trotzdem hatte Xantor sich in den Kopf gesetzt, Wache zu halten. Und zwar alleine. "Wenn ihr gegen Aaron antretet, werde ich nichts ausrichten können. Ihr braucht den Schlaf dringender als ich", meinte der alte Mann und ließ sich langsam nieder. Mir fiel wieder auf, wie alt er war. Ein Wunder, dass er so bereitwillig mit auf diese Reise gekommen war, selbst für einen Bändiger.
Die Nacht verlief zwischenfall- und traumlos. Am Morgen, als es heller wurde und die Vögel in den schönsten Tönen die Sonne begrüßten, öffnete ich meine Augen. Ich fühlte mich seltsam erholt, als hätte ich sehr viel länger geschlafen als sonst. Xantor saß an einen Baum gelehnt da und hielt die Augen geschlossen. Entweder er genoss die Strahlen der neugeborenen Sonne oder er war tatsächlich eingeschlafen.
Ich blieb auch noch etwas sitzen und beobachtete den Tau, der auf den Wiesen und in den Bäumen und Büschen jetzt nur so blitzte. Eine Armesbreit neben mir befand sich ein Spinnennetz zwischen den Grashalmen. Es war zwar nicht besonders schön von der Form her, aber die dutzenden Tautropfen hingen an den seidenen Fäden wie vergessene Diamanten. Entzückt beobachtete ich, wie die Tropfen das Licht brachen und tausende von Farbnuancen in sich bargen. Aus den Bäumen etwa hundert Meter vor uns kam ein Sprung von zehn Rehen und sie ästen auf der sonnenüberfluteten Wiese. Ich hatte noch niemals so viele der wilden, scheuen Tiere auf einmal gesehen. Auch Luna stellte ihre Ohren auf, während sie graste. Aber, wie sich bald herausstellte, nicht wegen der Rehe. Ramosch riss auf einmal den Kopf hoch und ging alarmiert ein paar Schritte zurück, ebenso Luna. Die Rehe ergriffen ob der heftigen Bewegung die Flucht, aber sie gingen nicht wieder in den Wald.
Stella, lass' uns gehen, meinte Luna angespannt.
Sofort reagierte ich und tippte Xantor und Saphira an. Der Erdbändiger verstand und stieg auf Ramosch. Wir taten es ihm gleich und trabten wenig später weiter durch die Landschaft. Die Bäume zogen an uns vorbei und irgendwann verschwanden sie ganz. Was auch immer Ramosch gehört hatte, er war anscheinend nicht willig, es uns allen mitzuteilen. Xantor erzählte uns allerdings, dass selbst er nur noch bedingt mit Ramosch reden konnte, weil sich der ehemalige Zengal nun mehr und mehr in ein Pferd verwandelte.
Nach mehreren Stunden, in denen wir eine kurze Rast einlegten, um zu essen, sahen wir am Horizont im Westen die Stadt. Im Norden erkannten wir die Silhouette von Aarons Feste. Mich graute es schon beim puren Anblick.
"Von hier sieht die Feste noch ziemlich weit weg aus. Aber ihr werdet merken, dass dem nicht so ist", merkte Xantor an. "Von der Stadt aus ist es nur noch ein Tagesmarsch zu dem Dorf, von dem aus wir Aarons Feste in wenigen Stunden erreichen sollten."
Wir nickten, und mich persönlich beunruhigte diese Tatsache ziemlich. Ich hatte immer noch keinen Plan, was ich machen sollte, würde ich Aaron gegenüberstehen.
"Also könnten wir Aarons Spitzeln begegnen?", versicherte ich mich.
Xantor schaute mich merkwürdig an. "Das hätten wir schon die ganze Zeit, Mädchen."
"Ja, aber jetzt ist das Risiko höher?", fragte ich weiter nach, ziemlich trotzig.
Er nickte ernst. "Je näher wir ihm sind, desto höher das Risiko, dass er uns bemerkt."
Saphira setzte zu einer Frage an, blieb dann aber doch still. Schweigend setzten wir unsere Reise fort.
Die Stunden flogen dahin, und die Stadt kam näher. Fast am Ende des Tages hatten wir die Tore erreicht. Wir waren etwas verwirrt, es unbewacht vorzufinden. Aber wir wollten auch nicht unser Glück herausfordern und ritten hindurch. In der Stadt zu sein war ein seltsames Gefühl, ein anderes als zuvor. Ich fühlte viele Augenpaare auf mir, die uns wissend zu beobachten schienen. Auch in dem Gasthaus begrüßte man uns viel zu herzlich und bot uns gleich ein Zimmer an. Xantor nahm das Angebot natürlich an, obwohl ich persönlich auf der Stelle die Stadt verlassen und zur Not unter freiem Himmel genächtigt hätte. Als wir die knarzenden mit Holzdielen ausgelegten Flure entlang liefen, sprach ich ihn elementar an.
Das ist sehr beunruhigend. Es könnte eine Falle sein.
Was?
Dass sie anscheinend weiß, wer wir sind und was wir wollen.
Vielleicht ist sie ja eine Fee.
Oder eine Hexe und wird uns verraten, entgegnete ich.
Er seufzte. Ich stimme dir zu, dass etwas faul ist, aber ich glaube nicht, dass sie etwas damit zu tun hat.
Ich blickte zur Decke. Sie war teilweise nass geworden. Wir werden sehen. Die Stimmung ist angespannt. Spätestens heute Nacht wird es gewittern.

~~~

Ich sollte Recht behalten, obwohl wir am Abend alle das Gegenteil hofften. Wir aßen noch eine Kleinigkeit und fielen dann erschöpft in unsere Betten. Diesmal teilten wir uns ein Dreierzimmer, was im Nachhinein gesehen wirklich gut war. Gegen Mitternacht rissen Soldaten unsere Zimmertür auf und marschierten auf. Es waren wohl gut ein dutzend Stück. Gegen alle hätten wir wohl kaum eine Chance, es sei denn, wir bändigten, aber Xantor wollte unsere Identität anscheinend zumindest für eine weitere Weile geheimhalten. Wir waren so verdutzt gewesen, dass wir nicht zu unseren Waffen gegriffen hatten und nun schritten die Männer zu unseren Betten. Zu spät. Ich konnte nicht einmal mehr einem der Soldaten schöne Augen machen und so eine Abmachung treffen, als mich zwei schon am Arm packten, und halb stolperte ich, halb zerrten sie mich mit sich.
Der Nachtwind draußen war unerwartet frisch und ich trug nur eine Leggins und ein T-Shirt. Luna und Kylla starrten uns ein bisschen verzweifelt nach, konnten sie doch nichts tun, und die Männer brachten uns in den Innenhof eines großen Gebäudes. Es roch streng nach etwas, das ich nicht zuordnen konnte.
Rauch, meinte Xantor nur, der nun neben mir lief, und nickte auf eine Rauchsäule hinter dem Haus.

Wir alle hatten keine Ahnung, was uns erwarten würde, bevor wir hinter das Haus gezerrt wurden. Dort stand mehrere weite Metallbehälter, in denen Feuer loderten. Außerdem wehten verlassen, ja, fast melancholisch geknüpfte Stricke im Wind. Aber wir wurden vorbei gezerrt, auf den freien Platz dahinter. Dort zwangen sie uns in die Knie und wir wehrten uns nicht.
"Bevor Ihr uns bestraft, würde ich gerne wissen, auf wessen Befehl hin und weswegen", ließ Xantor verlauten, und seine raue Stimme klang einsam, wie sie von den Wänden in dieser dunklen Nacht, von nichts als Feuern erhellt, zurückgeworfen wurde.
Einer, der scheinbar das Kommando zu haben schien, drehte sich um. "Ihr werdet auf den Befehl des Herrn dieser Stadt festgenommen. Es ist allein an ihm zu urteilen, ob Euch dieser Grund zu interessieren hat."
"Wer ist Euer Herr?"
Der Mann blickte Xantor offen an. "Aaron ist oberster Herr dieser Stadt. Er hat die Befehlsgewalt." Mein Mund klappte quasi intuitiv auf, erstaunt und entsetzt zugleich. Sollten wir etwa scheitern, bevor wir überhaupt einen weiteren Befreiungsversuch gestartet hatten? Mit diesen Worten verschwanden die Männer. Zumindest die meisten, zwei hielten immer Wache. Ich wusste nicht, ob das Übervorsicht war oder ob sie wussten, wer wir waren. Letzteres wäre undenkbar ungünstig, aber beide Varianten waren nicht sonderlich prickelnd. Obendrein waren wir noch an den Händen gefesselt, solange also ich nichts ausrichten konnte, konnte es niemand. Zwar hatte ich ein paar Mal geübt, nur mit den Gedanken zu bändigen, doch es war ziemlich schwierig, und ich wusste nicht, ob ich es diesmal auf Anhieb schaffen würde. Mit ein bisschen Glück hatte ich mehr als einen Versuch, wenn die Wachen nicht zu uns schauten, denn ich musste nur ein kleines Wassermesser hinter uns erzeugen, um die Fesseln zu durchtrennen. Auf einmal wurde mir warm, obgleich es ziemlich kühl war.
In dem Moment stöhnte Saphira auf und ihr Kopf sank an meine Schulter. Ich spürte, dass sie fast vollkommen kraftlos war. Xantor hob alarmiert den Kopf und blickte mich an. Es war ein hoffnungsvoller Blick und doch einer, der zeigte, dass er eigentlich schon alle Hoffnungen aufgegeben hatte. 'Oh, dieser Druck!' Ich schloss meine Augen. 'Dieser Druck, dieser Druck...' Auf einmal überrollte mich eine Welle von Wut. Wenn nun dies versaute, dass wir Caleb befreien konnten und Saphira Schaden davon trug oder gar starb - sie würden büßen. Nein, sie mussten, mussten büßen. Mein Atem verschnellerte sich und stockte, ging nur noch stoßweise. Doch ich durfte nicht die Kontrolle verlieren. Noch nicht.
Ich brauchte einige Versuche, aber schließlich gelang es mir, ein Wassermesser zu erzeugen. Es zu steuern war schwieriger als gedacht, aber letztendlich waren alle Fesseln durchtrennt. Langsam erhob ich mich, bis ich mich vom Boden abstieß und hoch in die Lüfte auf das Dach des Hauses sprang. Mit Saphira auf dem Arm war es ziemlich schwierig, den First zu erreichen, doch ich schaffte es. Sie war immer noch ohnmächtig, also lehnte ich sie an einen Baum. Ich hatte jetzt keine Zeit, um Luna und Kylla zu holen. Beim Zurückklettern sah ich, dass die Männer unsere Flucht bemerkt hatten und nun schnellen Schrittes auf Xantor zuliefen. Flink huschte ich über das Dach und rutschte, am Dachfirst angekommen, die Seite des Daches hinunter. Die Wachen schienen etwas verdutzt über mein Auftauchen, und diesen Moment nutzte ich, packte Xantor um den Bauch und sprang hinauf. Doch nicht hoch genug. Zwar gelangte ich auf das Dach, doch Xantor rutschte mir aus meinem Griff. Ich hielt ihn nur noch am Arm fest und durch sein Gewicht zog er mich zunehmend nach unten. Außerdem war ich einfach nicht stark genug, sein Gewicht für längere Zeit zu halten. Im ersten Moment fiel mir gar nicht ein zu bändigen, doch dann tat ich es. Leider zu spät. Die Soldaten hatten uns erreicht und packten Xantor am Bein. Und im nächsten Moment glitt er gänzlich aus meinem Griff.
"Xantor!", schrie ich verzweifelt.
"Fliehe, Stella, fliehe!"
"Ohne dich schaffen wir es nicht!", wimmerte ich und ich merkte gar nicht, welch große Anzahl an Tränen über meine Wangen rann.
"Natürlich schafft ihr es, domitrix initium!", rief er, bevor er von den Wachen in die Seite getreten und weggeschleift wurde.
Ich weinte immer noch. Wie sollten wir weitermachen? Wie sollten wir es schaffen? Jetzt wusste Aaron, mit wem er es zu tun hatte. Oder, wenn er Xantors letzte Worte nicht gehört hatte, wusste er zumindest, dass es mich gab, und das war schon schlimm genug.
Doch plötzlich wandelte sich die Trauer zu Wut. In endlose, hässliche, blanke Wut. Sie kam so schnell, dass ich nicht einmal von dem Haus klettern konnte. Ich wollte nur Rache. Ich dachte nur an Rache.
Ein Feuerstrahl schoss in die Nacht, und die Flammen der aufgestellten Feuer gesellten sich zu den meinen. Sie schlossen mich spiralförmig ein und erzeugten ein zorniges Inferno im Nachthimmel, zwischen den wenigen Wolken. Es regnete nicht, und ich sprühte vor Wut. Ein Wassertornado tobte um mich, vereinigt mit einem Lufttornado. Der Ausbruch des Elementes Erde war nicht so heftig, da die Straßen hier größtenteils gepflastert und das Element Erde damit verborgen war. Erde mithilfe von Geist zu erzeugen war schwierig, aber nicht unmöglich. Bei meinen Kontrollverlusten ging es aber eher darum, meiner Wut Luft zu machen und nicht, alle Elemente so gut wie möglich zu bändigen. Also wurden nur ein paar Pflastersteine hinaufgedrückt, und dabei blieb es. Dadurch erlangte ich meine Besinnung zurück.
Ich hatte das Haus durch meine Tornados beschädigt, aber das war mir gerade egal. Und da ja Aaron sowieso wusste, dass ich hier war, hatte ich auch nichts verraten. Also sprang ich wieder runter zu Saphira. Ihr ging es schon besser, aber sie war noch zu schwach, um zu laufen, also rannte ich selbst zurück zu dem Gasthaus, band Luna, Ramosch und Kylla ab und holte unsere Sachen, in dem ich durch das Fenster kletterte. Es war verschlossen, also presste ich meine Handfläche gegen die kühle Glasscheibe, bis sich der Griff gedreht hatte und ich es aufstoßen konnte. Von Weitem hörte ich schon das Marschieren von Soldaten. Mit zittrigen Händen packte ich unser Proviant, unsere Kleidung und unsere Waffen. Dann verließ ich das Haus, ohne das Fenster zu schließen und galoppierte auf Luna zu Saphira.
"Wie geht es dir?", fragte ich knapp, während ich alle Sachen fest verzurrte.
"Besser, besser", meinte sie nur. "Aber ich traue mir noch nicht zu, zu reiten, wenn du das meinst. Apropos reiten, wo ist Xantor?"
Ich reagierte nicht darauf, sondern befahl Kylla, sich in einen Drachen zu verwandeln. Dann könnten wir beide auf ihr reiten, ich könnte sie festhalten und wir wären schneller als zu Pferd. Auch Luna verwandelte sich ungefragt gleich mit. 'Sehr vorausschauend von ihr.' Schnell packte ich das Zeug auf Kyllas breiten Drachenrücken. Ramosch konnte sich nicht mehr verwandeln, also neigte er den Kopf und trat ohne uns die Flucht an.
Die stampfenden Fußtritte wurden lauter und ich nervöser. Gefühlt alle zwei Sekunden drehte ich den Kopf und wartete ungeduldig darauf, dass meine Schwester mit meiner Hilfe und aus eigener Kraft auf ihren Drachen geklettert war. Schließlich war sie erfolgreich, ich sprang hinter sie und wir hoben ab, obgleich wir etwas der Häuser und Bäume in nächster Nähe einrissen, aber wir schafften es tatsächlich zu fliehen, und wir waren rechtzeitig hoch genug, um vor den Pfeilen der Männer geschützt zu sein. Für einen Moment erlaubte ich mir durchzuatmen. Doch die nächste Aufgabe kam schon auf uns zu: Wir mussten uns durchschlagen, bis wir Aarons Feste erreicht hatten und Caleb befreien konnten. Allein.

~~~


Wir hatten keine wirkliche Ahnung, wohin wir gehen konnten. Immerhin war jetzt fast allen bekannt, wer wir waren, und falls nicht, würde die Information bestimmt weitergetragen werden. Eine Stadt also konnten wir nicht aufsuchen. Dann war da noch das Problem mit dem Landen. Hier war das Land anscheinend relativ dicht besiedelt und die Chancen, ungesehen zu bleiben, gingen recht schnell gegen Null.
Von oben sahen wir, dass sich nördlich von Aarons Feste ein Gebirge befand. Das flogen wir an, da wir keine wirkliche Ahnung hatten, wohin wir sonst gehen sollten. Dort bestand wenigstens eine gute Möglichkeit, nicht gesehen zu werden. Wir zogen einige Kreise am Himmel und ich schnappte mir meinen Gleitschirm. Damit sprang ich mit einem Rückwärtssalto von Kyllas Rücken und flog durch die Wolken. Für einen Sekundenbruchteil schloss ich die Augen und stellte mir vor, wieder, oder besser: immer noch auf Korelan zu sein. Meine Haare zitterten wie wild im schneller werdenden Fall. Unter mir kam der Boden beängstigend schnell näher, und nur eine Armesbreite vom felsigen Untergrund entfernt ließ ich den Gleitschirm aufschnappen. Unwillkürlich breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht auf, als mich ein Luftzug wieder mit sich nach oben riss und mir meine Haare ins Gesicht flogen. Ich war trotz alledem immer noch frei, und darüber sollte ich froh sein.
Ich flog hoch und suchte das gesamte Gebiet nach Lebensformen ab. Nichts, stellte ich fest, außer einigen Tieren und einer Hütte, aber auf der anderen Seite des Berges. Meine Flugbahn änderte sich nun also in eine steile Kurve nach oben und fast glücklich lachend brach ich durch die Wolken, eine weiße Substanz, ähnlich wie sehr dichter Nebel. Ich dirigierte Luna und Kylla zu dem Landeplatz, den ich ausgemacht hatte. Sie ließen sich nieder und ich half als erstes Saphira auf und unter den schmalen Felsüberhang, den einzigen Schutz, den ich gefunden hatte. Sie war noch schwächer geworden. Wenn ich sie nur in die Nähe von Caleb bringen könnte! Ihr Kopf fiel zur Seite, als ich über die Stirn wischte. 'Nein, nein, geh' nicht, Schwester! Ich brauche dich!' Verzweifelt entfachte ich ein Feuer auf der kleinen Plattform vor uns. Ich tränkte einen Lappen mit Wasser  und erhitzte ihn kurz. 'Komm' schon, Saphira! Gib' nicht auf!' Kylla schnaubte unwillig. Das hieß sicher nichts Gutes. 
Sie schwebt fern in der Bewusstlosigkeit. Du kannst sie nicht erreichen, meinte sie ohne Emotionen. 
Ich knirschte die Zähne und wandte meinen Kopf. Wie kann ich ihr helfen?, wollte ich wissen.
Kylla schien zu überlegen. Bring' ihr Wasser, das Caleb erzeugt hat!
Und wie soll ich das anstellen?
Geh' zu ihm. Aber beeil' dich!

~~~


Ich segelte tief über das Land, damit mich niemand sah. In meinem Kopf nahm der übermächtige Gedanke, dass es Saphira schlecht ging und sie meine Hilfe brauchte, den gesamten Platz ein. Nicht einmal der Ansatz eines Plans befand sich darin, wie ich an Caleb herankommen sollte. Aber das war wahrscheinlich sowieso erstmal nebensächlich. Ich war noch weit genug von der Aufgabe entfernt, um den Flugwind ein kleines bisschen zu genießen. Zunächst musste ich die Berge verlassen, dann an einem Wald vorbei, wobei hindurch schneller wäre, ich davor aber etwas Bammel hatte (immerhin war ich jetzt allein) und schließlich wuchs Aarons Feste von stattlicher Größe aus dem Erdboden. Die Mauern waren von einer unglaublichen Dicke, und sie nahm noch zu, je näher ich kam.
Das Wetter war gut, mehr oder weniger, und die grauen Wolken sahen nach Regen aus, doch zumindest für die nächste halbe Stunde würde es noch trocken bleiben. Es dämmerte bereits, was wirklich gut war, und die grauen Wolken verdeckten den Himmel und dämpften damit das noch vorhandene Tageslicht.
Ich entschied mich, meine Fluggeschwindigkeit mindestens zu verdoppeln, was auch durch den zunehmenden Fall nicht sehr schwer war, und an dem Wald vorbei zu fliegen.
Die Luft war warm und der Wind spielte wild mit meinen Haaren, die ich offen trug. Die Bäume seufzten in der Brise, als ich an ihnen vorbei schoss. Ich sah einige Rehe und Hasen am Waldrand äsen und sie spitzten achtsam die Ohren, weil der Luftwiderstand ein pfeifendes Geräusch verursachte, als ich über sie hinweg flog.
Ich ließ den Wald ohne Zwischenfälle hinter mir und schon bald kamen die dicken Mauern auf mich zu. Wenn ich Glück hatte, befanden sich die Kerker am Rand der Feste und ich kam relativ problemlos an Caleb heran. Mein Verdacht bestätigte sich, oder zumindest der, dass die Kerker am Rand der Feste lagen, denn ich spürte eindeutig einige Lebensformen in einem ziemlich engen Bereich. Relativ bald landete ich, denn ich wollte Aaron und seine Wachleute nicht zwingend auf meine Anwesenheit aufmerksam machen. Ich betrachtete die Mauern. Erst von der Ferne, dann ging ich direkt zu ihnen hin, als ich mich versichert hatte, dass mich wirklich niemand sehen würde. Nichts, nicht mal eine fingerbreite Lücke zwischen den grauen Mauersteinen. Ich ging ein Stück ab. Nein, vergebens. Caleb würde ich von außen kontaktieren müssen. Ein Stück über mir befanden sich einige kleine, vergitterte Öffnungen. Zu meinem Sichtschutz bändigte ich einen Luftschild um mich, damit ich nicht gleich gesehen würde. Dann konzentrierte ich mich auf die Energieströme, die hier vorherrschten. Hinter meinen Augenlidern war erst alles dunkel, dann erschienen mir farbige Blitze, die über den schwarzen Hintergrund zuckten. Kurz darauf beruhigten sie sich und wurden zu farbigen Punkten vor meinem inneren Auge. Die gelben Punkte bedeuteten Menschen. Seltsam, nur wenige Menschen befanden sich tatsächlich in diesen Kerkern. Die meisten waren Hexer oder Hexen. Auch die Wachen waren meist Hexer oder sogar Magiere. Ich spürte auch, dass eine Handvoll Einhörner die Stallungen bewohnten. Anscheinend als eine Art hofeigene Wachhunde. Aber ich spürte ebenfalls die Anwesenheit von mindestens einem Bändiger. Er war ziemlich mächtig, wahrscheinlich ein besonderer Bändiger. Normalerweise konnte ich relativ problemlos sagen, um wen es sich vermutlich handelte, aber diesmal war es schwieriger, wegen Aarons Macht. Allerdings vermutete ich im Bereich der feucht-kalten Gefängnisse nicht Aaron. Ich wagte also eine elementare Verbindung über das Element Erde.
Hallo, Caleb? Hier ist Stella.
Ah, du hast mich also gefunden, bemerkte Caleb schwach, und fügte noch hinzu: Wieder.
Leicht lächelte ich. Er schien genauso schwach wie Saphira, aber das sollte mich nicht überraschen. Ich bin hier, weil ich etwas brauche.
Du? Von mir? Seit wann brauchst du fremde Hilfe?
Ein paar Sekunden lang überlegte ich, ob ich beleidigt sein sollte, entschied dann aber, dass es nichts brachte.
Caleb dauerte es anscheinend zu lange, auf meine Antwort zu warten, also fragte er noch einmal: Was ist los, Stella?
Erst druckste ich etwas herum, weil ich nicht recht wusste, was ich sagen sollte. Eigentlich wollten... wir dich ja befreien..., fing ich an.
Aber?, hakte er nach.
Saphira geht's nicht so gut, stieß ich hervor. Ich konnte hören, wie Caleb scharf die Luft einsog, als hätte er sich wehgetan. Deshalb bin ich hier; sie ist so schwach, weil ihr getrennt seid.
Ich vermisse sie auch, meine er leise. Dann raffte er sich auf. Was soll ich tun?

~~~

Auf dem Weg zurück flog ich schnell. Nicht nur, dass der Wald im Dunkeln richtiggehend gruselig war und ich schon zweifelhafte Gestalten gesehen hatte, sondern unsere elementare Verbindung war nicht unbemerkt geblieben. Einer der Magiere hatte sie ausgemacht, aber glücklicherweise konnte ich trotz allem unerkannt entkommen. Ich trug das Wasser in einem Luftbeutel vor mir. Hoffentlich erreichte ich Saphira rechtzeitig, bevor sie Schaden nahm.
Schon bald wandelte sich das Land unter mir in eine felsige Berglandschaft. Gleich sollte ich Kylla, Saphira und Luna erreicht haben. Und wirklich, auf einer Felsplattform saßen sie noch alle so, wie ich sie verlassen hatte. Nun ja, Saphira war noch etwas mehr in sich zusammengesunken und Kylla näher zu ihr gerückt. Eilig brachte ich das Wasser zu ihr, tränkte einen Lappen damit und wischte ihr über die Stirn. Auf einmal überkam mich eine seltsame Ruhe. 'Sie muss aufwachen. Sie wird aufwachen. Wach' auf, Schwesterherz! Ich brauche dich.' Doch die einzigen Bewusstseinszeichen waren ein qualvolles Stöhnen. Energisch strich ich ihr über die Stirn; sie konnte mich nicht allein lassen! Ungeduldig wippte ich mit dem Bein, und entweder war sie deswegen oder wegen des Wassers aufgewacht. Ich registrierte es kaum; bemerkte es erst, als sie mich ansah und fragte, was passiert sei. 
Dankbar schickte ich einige, schnell genuschelte Stoßgebete gen Himmel, zu Spirit, und wandte mich um, um den Lappen wegzupacken. "Wie kommst du darauf, dass etwas passiert ist?"
Etwas skeptisch, möglicherweise auch nachdenklich zog sie die Stirn in Falten. "Ich... ich spüre das irgendwie." Und dann fügte sie noch ein Wort hinzu, was mich dazu brachte, meine Antwort zu überdenken und anzupassen. "Komisch, oder?"
"Nein, ganz und gar nicht." Ich blickte auf. Kurz überlegte ich. "Weißt du, es ist nichts Wichtiges passiert." Ich dachte an Xantor. Saphira war schwach, möglicherweise konnte sie gerade so noch einmal kämpfen, da wollte ich sie nicht mit so etwas belasten.
Sie nickte beklemmt. Spürte sie etwas? 
"Wir müssen jetzt schnell die Befreiung von Caleb planen", meinte ich. "Dass wir es durchführen können, solange du bei Kräften bist."
Wieder nickte sie und knabberte an ihrer Lippe. Kritisch musterte ich sie, und da hörte sie auf. 
"Also..." Mit einem Stock zeichnete ich die Umrisse der Feste in den sandigen Untergrund. "Hier befindet sich die Feste, und wir sind hier..." Ich skizzierte die Gebirgskette. "Wir müssten vorbei an dem Wald. Dann stehen wir vor dem nächsten Problem: Die Mauern sind gut bewacht. Wir werden da wohl etwas improvisieren müssen." Verschmitzt  grinsend schaute ich zu Saphira, die ihre Elementkette umklammerte und unruhig in den Händen drehte. Sofort wandelte sich meine Miene zu einer sorgenvollen. "Wie auch immer, wir wissen, dass der Saal, in dem Aaron meist ist, recht zentral liegt..." 
"Woher weißt du das alles?", unterbrach mich meine Schwester.
"Ähm..." Diese Frage verwirrte mich einigermaßen, doch schon nach zwei Sekunden hatte ich mich wieder gefasst. Ich erinnerte mich an Xantor. "Nun ja, wir haben Dorfbewohner ausgefragt."
"Ah." Sie nickte verstehend.
Zweifelnd zog ich die Augenbrauen zusammen, ob ihr wohl diese kleine Lüge aufgefallen war. "Jedenfalls... Die Kerker liegen am Rand, direkt an der Außenseite. Wenn wir davon ausgehen, dass der Durchmesser der gesamten Anlage ungefähr 5 Millium beträgt, sind die Hälfte ungefähr 25.000 Elle. So eine Strecke legt man in ungefähr drei Moment im Laufen zurück, im Rennen sind es wahrscheinlich nur 1,5 Moment. Das heißt, wir müssen uns beeilen und die ganze Befreiungsaktion in 1,5 Moment hinter uns bringen."
"Wir brauchen also mehr Planung, als wir Zeit haben. Nichts leichter als das."

~~~


Weil wir nicht zuletzt durch Saphiras erneuten Schwächeanfall etwas in Panik gerieten, handelten wir gleich am nächsten Morgen. Demzufolge war die Planung des Ganzen nicht wirklich ausgereift. Aber immerhin, dachte ich, würde der Überraschingseffekt, seinem Feind auf einmal hinter den Mauern zu begegnen, sein Übriges tun. 

Noch weit vor Sonnenaufgang liefen wir los zu einem Dorf; oder besser: Wir schlichen. Immerhin wollten wir eine Straftat begehen. Wir hatten vor, eine Händlerskarre zu stehlen. Alternativ würde auch eine Kutsche reichen, doch die Tarnung mit einem Karren wäre vermutlich besser.
Alles war still im und um das Dorf; nur vereinzelt schienen Kerzen durch schwere Leinenvorhänge vor den Fenstern. Die Häuser waren gänzlich unbewacht. Die Morgenkühle benetzte unser Gesicht und durchdrang unsere Kleidung, als wir den ersten Schuppen leise öffneten. Dort stand nichts außer einem alten Heuwagen. Pferde- und Ochsengeschirre sowie verschiedenste Werkzeuge hingen an den Wänden. Ich schüttelte den Kopf in Saphiras Richtung. Vorsichtig schlossen wir den Schuppen wieder. Dann liefen wir etwas weiter. Wir blickten uns suchend um, bis Saphira auf einen alten Stall deutete. Ich nickte und hob vorsichtig das Holztor an, damit das Scharnier nicht quietschte. Aber papperlapapp. Es quietschte trotzdem; anscheinend war es total durchgerostet. Wir hielten inne und warteten, dass etwas passierte. Plötzlich bellte aus dem Nichts ein Hund los. "Ruhig, Alexander!", brüllte ein alter Mann, der kaum den Anschein machte, als könnte er den kräftigen, fast kalbsgroßen, braun gemusterten Hund halten. Aber überraschenderweise hörte das Vieh, bleckte untergeben die Zähne und zeigte das Weiße in den Augen.  Wir hatten uns in den Schatten des Schuppens gedrängt und hofften, dass die Sehkraft dieses Mannes, noch dazu in dem Alter, nicht seine Stärke war und wir unbemerkt blieben. Aber wir hatten falsch gedacht. Anscheinend kannte der Mann seinen Hund zu gut. 
"Was macht Ihr denn hier? Um diese Zeit?", brummelte er anklagend.
"Wir wollten... unsere Freundin erschrecken. Sie wohnt hier", stotterte ich überrumpelt.
"Aha. Schön", meinte er und starrte mich an. Ich bezweifelte, dass er sehr viel erkannte bei dem wenigen Licht, doch wieder hatte ich mich getäuscht. "Ihr kommt nicht von hier", bemerkte er nach einer Weile. 
Kurz überlegte ich. "Nein, nein, wir wohnen nicht hier. Also, nicht in diesem Dorf. Wir sind hergeritten." Ich deutete auf Luna und Kylla, die als Pferde verwandelt weiter weg am Waldrand grasten. Glücklicherweise hatte auch seine Sehkraft ein Ende und er erkannte nicht, dass die Pferde nicht gesattelt waren. "Wisst Ihr, unsere Freundin hat nämlich Geburtstag", fügte ich hinzu und winkte Saphira herbei. "Schön, schön. Also, ähm, entschuldigt mich."
Damit ging er weiter den Weg entlang zu seinem Haus. Meine Schwester und ich tauschten erleichterte Blicke aus.
Dann machten wir uns wieder am Schuppen zu schaffen. Und tatsächlich, zu unserem Glück fanden wir eine Kutsche vor, wie sie Händler besaßen. Elementar rief ich Luna und Kylla zu uns und sie zogen den Wagen vorsichtig heraus. Dann verdrückten wir uns, so schnell es ging.
Der Weg zur Feste war dunkel und unbeleuchtet. Zwar entdeckten wir ab und zu Pfosten mit Laternen, allerdings waren sie längst erloschen. Wir spannten Kylla und Luna vor die Kutsche und trabten so durch den Wald. Auf dem Gefährt waren zu unserem Glück Klamotten gewesen, die man anscheinend verkaufen wollte. Also zogen wir uns so an, dass wir aussahen wie Mann und Frau. Unterwegs sahen wir eine Händlerkarawane, die anscheinend eine Rast eingelegt hatte und tief und fest schlief. Die Esel standen nahe ihnen angebunden da und grummelten unwohl. Sie warfen ihre Köpfe auf und ab und verdrehten die Augen, sodass das Weiße zum Vorschein kam. Sie spürten, dass wir anders waren. Kurzerhand hielten wir an und betrachteten die Gesellschaft. Spontan entschieden wir uns, zwei Esel zu borgen, um bei unserem Vorhaben nicht durch die Pferde aufzufallen. Wir banden sie hinten an die Kutsche und beluden sie etwas mit scheinbaren Proviantsäcken. Nur ein paar Moments später setzten wir unseren Weg fort. 

Als wir an den Festungsmauern ankamen, sahen wir, dass das erstaunlich dick gepanzerte Tor gerade für Händler geöffnet wurde. Noch im Schutz des Waldes hielten wir an, befreiten Luna und Kylla von dem Zaumzeug und spannten die Esel ein. Luna und Kylla galoppierten los durch den Wald zu der Wiese, von der aus man die Feste sehen konnte. Unter den Sitzen lagen unbemerkt unsere Gleitschirme. Dann fuhren wir weiter; die Esel sträubten sich manchmal ein bisschen, aber das störte uns nicht wirklich.
Am Tor hielten wir an; ich schielte hinauf zu dem einschüchternden Gittertor, welches hinauf gezogen worden war. Der Mann musterte uns kurz skeptisch, dann wandte er den Kopf zu seinem Zettel.
"Name?"
"Miller", kam es von mir, bevor ich überhaupt richtig nachgedacht hatte.
Der Mann runzelte die Stirn. "Euer Name steht nicht hier."
Ich wurde panisch. Was, wenn es nicht klappte? "Das könnte daran liegen, dass wir kurzfristig für jemanden eingesprungen sind."
"Aha." Er kritzelte etwas auf den Block. "Doch nicht etwa für Sellgraf?"
Saphira und ich tauschten einen Blick aus. "Doch, ich glaube, das war der Name", meinte ich langsam.
"Mhh, okay. Na dann..." Er machte uns Platz und bedeutete uns, dass wir passieren können. Geschafft! Jetzt mussten wir nur noch die Kerker finden.
Wir luden unsere "Ware" aus und legten sie auf einen Stand, dessen altes Holzgestell wir auf der Ladefläche gefunden hatten. Nach den Aufbauen verschwanden wir in Richtung der Türme, denn wir wollten vorgeben, auf Toilette gehen zu müssen, und wollten dabei nach den Kerkern suchen.
Aber als wir gerade die unterste Ebene abgelaufen hatten, kam uns ein Wachmann entgegen.
"Was macht Ihr hier?", fragte er in einer tiefen Stimmlage.
Erschrocken erstarrten wir. "Ähm... wir haben die Toiletten gesucht", stotterte ich, und fügte dann noch schnell hinzu: "Ich glaube, wir haben uns verlaufen."
Er nickte. "Und wie. Dieser Raum ist dort hinten. Wartet. Ich zeige es Euch." Und damit lief er voraus, nicht daran interessiert, ob wir es vielleicht ablehnen würden. Nichtsdestotrotz folgten wir ihm brav, dass unsere Tarnung nicht aufflog. "Eigentlich wissen alle Händler, wo diese Räumlichkeiten sind", fing er an und mir schwante nichts Gutes.
"Wir aber nicht, wir sind zum ersten Mal hier", hielt ich dagegen.
"Warum habt Ihr nicht gefragt?", forderte er zu wissen und drehte sich zu uns.
Saphira und ich schauten uns an, verzweifelt, voll Reue, doch in dem Moment wandten wir uns um und rannten in den Hof. Dadurch wurden alle auf uns aufmerksam und wollten uns aufhalten. Doch wir schafften es bis zu der Kutsche und schnappten uns unsere Gleitschirme. Völlig hilflos bändigten wir einen starken Luftstrom, der uns beide senkrecht in die Luft hob.

~~~

Haare raufend tigerte ich bei unserem felsigen Unterschlupf hin und her. Das konnte doch nicht sein. Saphira war so schwach, wer wusste schon, ob sie bei einer erneuten Rettungsaktion groß helfen könnte. Ja, klar, diese "Nummer" war alles andere als ausgereift und gut durchdacht gewesen, aber ich ärgerte mich darüber, dass alles auf so entwürdigende Art und Weise aufgedeckt worden ist und wir trotz unserer Kräfte nicht das Geringste hätten ausrichten können. 
"Lass' es gut sein, Stella, nun können wir es eh nicht mehr ändern", redete Saphira auf mich ein, wie schon die vergangene halbe Stunde. Man sah ihr an, dass diese Tätigkeit ebenso nervenzehrend war wie meine Grübelei.
"Die Zeit läuft uns davon", hielt ich dagegen. "Wir müssen Caleb befreien, bevor du zu schwach dafür bist, doch wir haben keine Idee wie." Wild gestikulierte ich mit den Armen. "Weil Xantor nicht da ist. Wir müssten eigentlich ihn retten, doch wollen wir Caleb befreien. Weil das unserer Meinung nach höhere Priorität hat. Doch wenn wir es nicht schaffen... Nun, dann stehe ich alleine vor einem großen Scherbenhaufen und weiß nicht, wo ich anfangen soll zu kehren."
Meine Schwester seufzte etwas genervt auf und strich sich ihre blonden Haare aus der Stirn. "Jetzt mal' mal nicht alles schwarz. Ich bin mir sicher, dass ich mindestens noch einige Tage stark genug für einen Angriff bin. Wir müssen also nichts überstürzen. Zweitens, Xantor wird sicher nicht böse auf uns sein, wenn wir ihn nicht befreien. Er wird irgendwann von selbst wieder zu uns finden und er ist weise genug, um uns zu vergeben."
Ich war wieder zurückgefallen in meine sinnlosen Kreisgänge vor der Halbhöhle. "Und was, wenn er es nicht tut? Wenn er nicht zurückfindet? Wenn er getötet wird und die letzten Stunden seines Lebens damit zubringt uns zu verfluchen, weil wir ihm nicht geholfen haben? Er ist alt, Saphira, hast du gesehen? So zerbrechlich."
"Auf mich hat er einen sehr fitten Eindruck gemacht. Er weiß, was er will und er weiß, dass er es bekommen wird." Sie sog tief die Luft ein. "Ich glaube, seine Bändigerfähigkeiten sind stärker, als wir uns vorstellen können."
"Ablenkungsmanöver", fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
"Was?"
"Ab-lenk-ungs-man-öv-er", wiederholte ich deutlicher.
Sie schüttelte den Kopf. "Es ist unwahrscheinlich, dass Xantor noch rechtzeitig zu uns findet, um..."
"Mensch, Saphira, das ist die Lösung: Ablenkungsmanöver!"

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