Fünftes Kapitel


Im Herzen des Pendusecten gab es tatsächlich eine Quelle, frisches Gras und feste Erde. Dort bändigte ich Luna und mir einen Unterschlupf aus Erde, mit Fels verstärkt und zur Sicherheit von einem Luft- und Feuer-Schild umgeben. Dann wandte ich mich zu Luna, die sich schon an dem klaren Bächlein niedergelegt hatte und schwer atmend und gierig das kalte Wasser trank.

Ich kniete mich neben sie und strich über ihren schweißnassen Hals. Sie hatte mehrere Wunden, doch keine davon war tief und hätte für sie eine sonderliche Gefahr bedeutet, außer der Wunde am linken Hinterbein, knapp unter der Kruppe. Ich musste mich erstmal von dem Gefecht erholen und legte meine Hand auf die kleine, aber sichtlich schmerzhafte Wunde an ihrem Ohr. Ein paar Tröpfchen des klaren Wassers aus dem Wasserlauf schwebten durch die Luft zu meiner Hand. Diese leuchtete kurz bläulich, das Wasser verschwand und als ich meine Hand wegnahm, war die Wunde geheilt. Dasselbe tat ich bei den anderen Verletzungen. Zuletzt ging ich zu ihrer Kruppe. Dort kniete ich nieder und sammelte meine Kräfte. Dann legte ich beide Hände darauf. Wieder schwebten die Tropfen zu meinen Händen, doch diesmal schimmerten sie nicht nur leicht, sondern stark und meine Augen wurden heller, leuchteten. Das Wasser verschwand und ich spürte ein Prickeln in meinen Händen. Nach einiger Zeit nahm ich sie weg. Die Wunde war geheilt, nicht mal mehr eine Narbe war zu sehen. Erschöpft sank ich zusammen. Mein Atem ging stoßweise und ich verbarg das Gesicht in meinen Händen. Auf meine Stirn waren kleine Schweißperlen getreten. Ich brauchte einige Minuten, um das Zittern meiner Arme und Beine unter Kontrolle zu bringen. Schließlich bändigte ich Wasser herbei und wusch das Blut aus Lunas weißem Fell. Danach legte ich mich in die Wiese und starrte an die Erddecke meiner künstlichen Höhle.

Es war nur eine Frage der Zeit, wann ich zusammenbrechen würde. Die Heilung hatte sehr an meinen Kräften gezehrt. Das machte die Sache kompliziert. Hilfe musste schnell kommen, aber das war gar nicht so einfach, wenn niemand wusste, wo ich war. Meine einzige Hoffnung war, eine Elementar-Verbindung zu Aristopholes aufzubauen, doch auch das würde Kraft kosten, was im Endeffekt nur dazu führen würde, dass ich eher zusammenbrach. Aber es war meine einzige Chance. Wenn ich es nicht versuchte, würde ich sterben, wenn es nicht klappte auch, aber jetzt durfte ich nicht daran denken! Es musste einfach klappen.

Ich raffte mich auf; je schneller es ich hinter mich brachte, desto besser. Langsam beruhigten sich meine Atmung und mein Herzschlag; ich konnte anfangen. Konzentriert stellte ich mir Aristopholes vor, sein furchiges, altes Gesicht, seine dunkle Stimme...

Fast unbemerkt bändigte ich Wasser um mich herum, erst ganz langsam, dann immer schneller und höher; durch den Schild hindurch. Meine Augen schimmerten leicht blau. Plötzlich hörte ich eine laute Stimme und zuckte zusammen.

Stella!

Ja, ich bin es.

Ich nehme an, du stellst nicht grundlos eine elementare Verbindung her.

Ganz sicher nicht, ich...

Geht es dir gut? Aristopholes' Stimme drang laut an mein Ohr.

Ja, im Moment noch...

Was ist los?

Zusammengefasst: Ich bin in einen Hinterhalt geraten, wurde von Thorraken und einem Magier angegriffen, bin geflüchtet, habe Schilde zum Schutz aufgebaut und werde vermutlich bald zusammenbrechen.

Oh. Während meinen Ausführungen hatte er einige Male nach Luft geschnappt. Ich werde sofort eine Garde zu deiner Rettung losschicken.

Aber schnell, presste ich hervor.

Ich werde tun, was ich kann. Damit unterbrach er die Verbindung.

Erschöpft sank ich zusammen. Luna lag schwer atmend neben mir im Gras. Ich fühlte mich schwach und mein Körper schrie nach Schlaf, doch das konnte ich mir nicht leisten, weil sonst meine Schilde zusammengebrochen wären. Ich setzte mich im Schneidersitz hin und lauschte auf Anzeichen einer nahenden Garde.

Ich war schon einer Ohnmacht nahe, als sich johlendes Getöse näherte. Die Garde war endlich eingetroffen! Doch die nächste Frage war, ob sie den Magier bezwingen konnten, wenn ich es nicht geschafft hatte. Und mein Zustand verschlechterte sich zusehends: je weniger Kraft ich noch hatte, desto schneller schwand sie. Ich fühlte mich nahezu körperlos, spürte meine Muskeln nicht mehr. Draußen hörte ich Kampfgeschrei, merkte, wie ein magischer Blitz gegen meinen Schild prallte. Erschrocken japste ich auf, als ich weggeschleudert wurde.


~~~



Zitternd blinzelte ich in die Dunkelheit; eine Dunkelheit, die noch dunkler war als ich sie kannte. Ich lag auf etwas Hartem, und die Kälte kroch mir in die Knochen. Vorsichtig richtete ich mich auf und sah mich um. In dem fahlen Licht des Mondes schimmerten matt Eisenstäbe und die Pflastersteine unter mir waren eiskalt. Ich versuchte aufzustehen, schwankte jedoch und fiel. Meine Arme versagten und ich schlug mit dem Kopf auf. Ein erstickter Schrei drang aus meiner Kehle. Heißes Blut lief mir über die Wange und in die Augen. Vor Schmerz blitzte vor meinem Auge ein greller Blitz auf. Eine Träne kullerte meine Wange hinunter und vermischte sich mit dem Blut.

Eine dunkle Gestalt trat aus dem Schatten in den Streifen, den der Mond erhellte. Ich hielt den Atem an und den Kopf gesenkt. Langsam hob ich denselben. Die Gestalt war in eine bodenlange Kutte gehüllt. Als er sah, dass ich aufschaute, begegnete er meinem Blick. Sein Gesicht lag ganz im Schatten seiner Kapuze verborgen. Das einzige Lebenszeichen, was ich in der Dunkelheit erahnen konnte, waren seine grünen Augen, die aus dem Schatten leuchteten. Plötzlich hob er die Hand. Schützend hielt ich meinen blutverschmierten Arm vor mein Gesicht. Mitten in der Bewegung erstarrte er. Dann fuhr er fort und strich sich die Kapuze von Kopf. Er hatte schwarze Haare und sein Gesicht war aschfahl. Seine Gesichtszüge hatten einen jugendlichen Schein, doch trotzdem war es von Narben gezeichnet. Verwirrt spürte ich sein Mitgefühl. Er öffnete die Zellentür und trat ein. Ängstlich kroch ich in eine dunkle Ecke. „Keine Angst, ich will dir nichts tun", sagte er und streckte die Hand aus. Seine Stimme klang trist und tonlos, genau wie es die Umgebung war. Immer noch misstrauisch ließ ich ihn einen Schritt näherkommen und meine Stirn betasten. Seine Haut war rau, doch er arbeitete vorsichtig und geschickt. Sacht fuhr er mit einem feuchten Lappen über die Verletzung und entfernte das langsam trocknende Blut. „So, es ist sauber, aber ich kann dir keinen Verband geben", brummte er und reichte mir ein leicht nasses Tuch. „Wisch damit über deine Stirn, wenn neues Blut heraus sickert." Ich nickte. „Gut", murmelte er und schritt hinaus. Die Zellentür knallte zu, dann war es wieder still. Ich lehnte seufzend mein Kopf an die Steinwand und schloss die Augen.

Als ich wieder erwachte, erfüllte schwaches, dämmerndes Sonnenlicht die Zelle. Einen Moment wusste ich nicht, wo ich war. Meine Muskeln waren verkrampft nach der Nacht auf dem harten, kalten Boden. Mühsam rappelte ich mich auf und drückte den inzwischen trockenen Lappen an meine Stirn. Dort hatte sich ein Schorf gebildet, der nun an einer Stelle aufplatzte. Ich merkte, wie mir warme Blutstropfen die Schläfe hinab perlten.

Auf einmal drehte sich alles, mir wurde schwarz vor Augen und ich krallte mich in letzter Sekunde an einen Haken, den meine Hände an der steinernen Wand fanden und mich vor einem weiteren Sturz bewahrten. Hilflos bedeckte ich mit den Händen mein Gesicht. Als ich sie wieder wegnahm, konnte ich wieder sehen. Und sogar, wie ich glaubte, schärfer als zuvor. Ich sah mich um. Beim bloßen Anblick meiner Zelle fröstelte es mich. Erleichtert spürte ich, wie meine Kräfte zurückkamen. Zwar war ich noch nicht komplett wiederhergestellt, aber immerhin. Durch die Gitterstäbe meines Gefängnisses konnte ich kahle, graue Mauersteine erkennen. Zu beiden Seiten ging der Gang weiter, doch schon wenige Zentimeter nach meiner Zelle wurde er ins undurchdringliche Dunkel getaucht. In diese Richtung gab es kein Entkommen, es sei denn, ich nahm in Kauf, stundenlang oder sogar länger in der Dunkelheit umherzuirren. Ich hatte keine Ahnung, wo und ob der Gang im Freien endete. Blieb mir nur noch das vergitterte Fenster. Dort würde ich gegebenenfalls hindurch kommen, wenn ich meine Form und Masse veränderlich machte. Jedoch ich hatte es nur einmal versucht und es kostete Kraft, die ich im Moment nicht hatte. Um sie zu erlangen, brauchte ich Zeit, aber solange ich nicht wusste, was sie mit mir vorhatten, konnte ich mir nicht sicher sein. Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, näherten sich Schritte. Ich hörte einen Schlüssel klappern. Hastig ließ ich mich an der Wand zu Boden gleiten. Sie mussten nicht wissen, wie stark ich wieder war. Und außerdem war ich nur aufgestanden und kleine Schritte gelaufen. Ich war immer noch alles andere als bereit für einen längeren Marsch, geschweige denn zum Bändigen. Die Schlüssel klirrten metallisch, als sie gegen die Gitterstäbe schlugen. Ein harscher Mann betrat die Zelle und kam mit energischen Schritten zu mir. Er legte einen neuen, zerlumpten Lappen vor mich hin und stellte eine Holzschüssel mit einem dampfenden, undefinierbaren Inhalt ab. Dazu bekam ich einen Krug voll Wasser. Wenigstens musste ich nicht hungern. „Iss", befahl er mit einer dunklen Stimme. „Unser Herr will dich kennen lernen, da solltest du etwas gestärkt sein." Ohne einen weiteren Kommentar verließ er wieder meine kalte Zelle, natürlich nicht, ohne den rostigen Riegel davor zu schieben. Sicher, ich war ja auch eine potenzielle Bedrohung für dieses idyllische Plätzchen.

Als seine Schritte verklungen waren, seufzte ich und rührte etwas in meinem Brei herum. Schließlich überwand ich die erste Übelkeit und kostete einen Löffel. Es schmeckte nach gar nichts, nur nach angedicktem, erhitzten Wasser. Angewidert verzog ich das Gesicht und ließ den groben Holzlöffel zurück in die Schüssel fallen. Dafür trank ich einige gierige Schlucke Wasser aus dem grauen Tonkrug. Seit dem Kampf hatte ich nichts mehr zu trinken bekommen und war schon ganz ausgetrocknet.

Dann erhob ich mich, beachtete nicht das Blut, das erneut aus der Wunde sickerte und meine Wange hinablief. Wankend näherte ich mich dem kleinen Fenster. Es war zu weit oben, fast an der niedrigen Decke, und ich musste mich auf den in den Stein gehauenen, staubigen Fenstersims abstützen und mich nach oben drücken. Draußen sah ich einen Pflastersteinboden aus grob gehauenen Steinen, uneben, mit sehr vielen Schlaglöchern. Darauf standen einige Pferde in Pferchen, ohne Gras, ohne Stroh. Nur Heu war in Netzen am Zaun aufgehängt. Der Hof selbst war staubig, von Heuhalmen und Dreck übersät. Ich schaute mich etwas um und, hinter einigen offenen, offenbar unbenutzten Futterkrippen, stand, in einem Pferch und an einen Holzpflock angebunden... Luna. Lautlos schrie ich auf und streckte meine Hand zwischen den Gitterstäben hindurch in ihre Richtung. Als Luna mich bemerkte, wandte sie mir den Kopf zu und wieherte durchdringend.

Wie geht es dir? Bist du verletzt?, rief ich über die elementare Sprache Luft.

Mir geht es gut, doch dir... ich rieche Blut. Pegasi hatten bessere Nasen als die anderen Tiere, weil ihr Element Luft war und sie so den Wind beeinflussen konnten.

Nein, alles in Ordnung. Die Wunde verdanke ich nur meiner eigenen Ungeschicklichkeit.

Wirklich? Luna klang nicht sehr überzeugt.

Ja, ehrlich. Aber wir wissen nicht, wer in dieser Feste lebt und arbeitet und wer möglicherweise Wind von unserer Unterhaltung bekommen könnte, im wahrsten Sinne des Wortes.

Teile mir mit, wenn etwas Neues passiert ist.

Ja. Übrigens kam vorhin jemand zu mir und hat gesagt, sie wollen mich zu ihrem Herrn bringen, wer auch immer das sein mag. Ich weiß weder wann noch wo.

Viel Glück.

Danke. Werde ich gebrauchen können.

Nach der Unterhaltung mit Luna und der Gewissheit, dass sie in der Nähe war, fühlte ich mich etwas weniger allein. Ich konnte mich sogar überwinden und einige Löffel von dem wässrigen Haferschleim essen. Gestärkt stand ich auf und lief in meiner Zelle umher. Niemand kam zu mir, außer einmal, als man mir frisches Wasser und trockenes Brot brachte. Als mir das Warten zu lang dauerte, legte ich mich auf die strohige Matratze, die ich zuvor gar nicht bemerkt hatte, oder war sie da wirklich noch nicht da gewesen?

Es wurde dunkel, und eine frostige Kälte strömte in die Zelle. Doch wahrscheinlich war ich hier drinnen noch relativ geschützt. Nach endlos kalten Minuten schlief ich ein.



~~~


Am nächsten Morgen in der Dämmerung vor Sonnenaufgang hörte ich schlurfende, schwere Schritte in dem dunklen Gang. Wieder ein anderer Mann, von hagerer Statur, mit dunklen Ringen unter den tief in den Höhlen liegenden Augen, öffnete das eiserne Gitter und trat ein. Er machte einen ausgemergelten Eindruck, fast so, als wäre ohne mein Wissen eine Hungersnot ausgebrochen. „Folge mir. Unser Herr wünscht dich zu sehen", sprach er mit einer rauen Stimme. Verständnislos blinzelte ich ihn an und rieb mir die Augen. „Beeil dich! Unser Herr wartet nicht gern!" Schließlich tat ich, wie mir geheißen und ging hinter ihm wie sein Schatten. Wir durchquerten dutzende von grauen, trostlosen Kerkergängen und mindestens genauso viele Korridore. Nach einer Treppe folgten nochmals etwa dutzend Flure, diesmal von Kerzen ausgeleuchtet und mit Teppich ausgelegt. Ich passte gar nicht hierher mit meinen schmutzigen Sachen.

Dann erreichten wir ein großes Portal, mit allerhand Schnitzereien in dem edlen Holz. Als es sich knarrend öffnete, erschien ein weiterer Gang, dem dutzende folgten, allerdings viel edler als zuvor. Zwei Wachen tauchten auf, die mich weiterführten. Wenigstens waren sie nicht gesprächig. Ich hatte nämlich keine Lust auf einen reizvollen Plausch mit Wachen eines Gewaltherrschers. Überall spürte ich nur Angst und Leid, Trauer und Furcht, doch manchmal durchbrach ein winziger Funken Hoffnung alle trübseligen Gefühle wie ein erster Sonnenstrahl eine sehr dunklen Nacht. Zum Glück sagte niemand etwas gegen meinen Umhang, so fühlte ich mich zumindest etwas geborgen. Nach unendlich vielen Biegungen, Treppen und weiteren Fluren - selbst, wenn ich gewollt hätte, hätte ich nicht wieder hinausgefunden - kamen wir zu einem prächtigen, zweiflügligen Tor, vor der weitere Wachen standen. Sie nickten einander zu und stießen mich in den Thronsaal. Noch immer war ich geschwächt und sank auf die Knie.

„Aber, aber, werte Stella. Ihr braucht Euch doch nicht vor mir zu verneigen!", tönte eine dunkle, kräftige und höhnische Stimme durch den Saal.

Leise fletschte ich die Zähne. „Sorham!" Erzürnt hob ich den Kopf. Sorham stand am Ende des Saals mit dem Rücken zu mir. Auf Zehenspitzen schlich ich zu ihm, weil ich meinen Bändigerkräften noch nicht die nötige Stärke auf die Entfernung zutraute. Als ich genau hinter ihm stand, holte ich aus und schickte einen Luftstrom zu ihm. Oder zumindest hatte ich das vor. Doch bevor ich irgendetwas zu Stande brachte, wirbelte er herum und packte meine Handgelenke. Das hätte ich wissen müssen. Nachdem er vier Monate mit einer Bändigerin ausgegangen war, wusste er natürlich, dass es die Stille war, der man am meisten misstrauen musste.

„Kann unsere kleine Alles-Könnerin plötzlich nicht mehr bändigen?", fragte er mit einem spöttischen Lächeln. „Lass... mich... los!", presste ich hervor und versuchte mich zu befreien – vergeblich. Sorham grinste bösartig. Er fühlte sich überlegen, was ihm gefiel, vor allem, weil es früher andersherum war. „Ich frage mich, wie jemand wie Ihr, ohne jegliche besondere Fähigkeiten die Menschen in dieser Festung so dermaßen unterdrücken kann!", knurrte ich erbost. „Talent, meine Liebe, Talent", meinte er süß-sauer. „Außerdem sind das keine Lebewesen! Nur armselige Geschöpfe, halb Gnom, halb Elf, die kein Recht haben zu leben! Doch wenn sie schon leben, dann sollen sie für mich arbeiten! Aber darf ich Euch etwas anvertrauen?" Er beugte sich zu meinem Ohr. „Ich habe keine Spur eines Gewissens..." „Das weiß ich schon, seit ich erfuhr, dass Ihr mich nur ausgenutzt habt!" „Wage es dir nicht noch einmal, mich zu unterbrechen!" Er bedachte mich mit dem zornigsten aller zornigen Blicke und drückte mich gegen eine Säule. „Wie gesagt, das Gewissen fehlt bei mir gänzlich, und mein Vater sagte, das sei eine besondere Gabe... Und siehe, er hatte Recht, ich habe es weit damit gebracht." Er hob die Hände, als wolle er sich selbst preisen, wie viel Ruhm er sich beschaffen hatte. „Euer Vater lügt! Ein gerechter Bettelmann ist viel edler als ein gottloser König! Es ist ein Zeichen der Armut, wenn einem das Gewissen fehlt. Zwar habt Ihr alles Geld der Welt, alles, was Ihr Euch erträumen könnt und ihr könnt Euch viel damit kaufen, doch ein Gewissen nicht, und echte, treue Freunde auch nicht. Jedes Leben hat ein Recht auf ein ihm würdiges Leben! Niemand hat das Recht, ihr Leben zu verachten! Ihr macht das nur, weil Ihr nicht zufrieden seid! Wenn Ihr zufrieden wärt, würdet Ihr anderen dasselbe gönnen und Euch nicht am Leid anderer ergötzen wie ein blutdurstiger Hund ohne Gewissen! Es ist allerdings auch kein Segen, zu viel Gewissen zu besitzen", räumte ich ein. „Man muss das goldene Gleichgewicht finden." Missbilligend schaute ich ihn an, wofür er mich noch wütender gegen die Säule drückte. „Ach, und Ihr habt es gefunden, nehme ich an, wie?", spöttelte er mit einer rauen Stimme. „Habe ich nicht gesagt", keuchte ich erstickend. „Ach, nicht?", höhnte er und erfreute sich an meinem Leid. „Ich spüre es", keuchte ich und schnappte nach Luft, die sein Arm mir nahm. „Was? Was spürt Ihr?" Neugierig, jedoch immer noch wütend beugte er sein Ohr zu meinen Lippen. „Ihr... Ihr liebt mich noch immer..." Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Das ist nicht wahr!", schrie er wutentbrannt, doch es klang mehr, als wolle er sich selbst überzeugen, und warf mich auf den Boden. Dort rutschte ich schließlich gegen eine Säule und blieb erstmal benommen liegen. Meine Wunde platzte wieder auf und besudelte seinen polierten Marmorboden mit Blut. „Leugnet nicht! Ihr wisst, dass ich die Wahrheit spreche!", erwiderte ich mit schriller Stimme vor Furcht. Ja, ich fürchtete mich vor ihm, wie er jetzt war. Er würde nun ohne Gewissensbisse jemanden töten können. „Nein, nein, NEIN!!!!" Sein Schrei klang verzweifelt, als versuche er sich an seiner unbeständigen Persönlichkeit festzuhalten. „Die Wahrheit schmerzt manchmal so sehr wie eine Klinge...", meinte ich leise. „Arrrrrggg!" Er brüllte und holte aus. In seiner Hand hielt er eine riesige Peitsche. Sie streifte zischend meine Wange und landete auf meiner Schulter. Ein stechender Schmerz durchfuhr mich, als er sie zurückholte. Ich biss die Zähne zusammen. In seinem Palast sollte kein Laut des Schmerzes über meine Lippen kommen. Ich drehte den Kopf und sah, dass dort, wo mich die Peitsche getroffen hatte, mein Umhang zerrissen war und Blut in den Stoff sickerte. Auch an meiner Wange lief Blut hinab. Ich wandte mich wieder zu ihm und sah genauer hin. Das war keine gewöhnliche Lederpeitsche, sondern mit kleinen Metalldornen durchsetzt, spitz wie Schlehenstacheln und scharf wie eine Klinge. Wieder holte er aus. Doch blitzte da nicht eine einzelne Träne in seinem Auge auf?

„Warum tötet Ihr mich nicht einfach?", schallte meine Stimme durch den Saal. „Oder lasst mich von jemand anderem foltern? Warum quält Ihr Euch?" Wenn er mich schlug, schmerzte es ihn mehr als mich. Solange er da war, war er die größere Qual für mich.

Erschöpft ließ er die Peitsche sinken, dann fiel sie ihm aus der Hand. Wider Erwarten sank er auf die Knie und hielt sich die Hände vors Gesicht. „Was habe ich nur angerichtet?", murmelte er immer wieder vor sich hin, wie verwandelt, als hätte er zwei Gesichter.

Ich versicherte mich schnell, dass niemand anderes im Saal war und humpelte dann mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Fenster. So eine Gelegenheit zu fliehen würde sich mir sicher nicht so schnell wieder bieten, also musste ich sie ergreifen. Sonst würde ich mir dann nur wieder Vorwürfe machen, warum ich es nicht wenigstens versucht hatte. Leise öffnete ich es und schaute genau auf eine Art Markt auf dem Hof. ‚Los, springe!', sagte ich mir und schloss die Augen. Aber völlig unerwartet spürte ich einen harten Schlag auf der Schulter und hörte das Klirren zerbrechenden Glases, dann wurde mir schwarz vor Augen und ich sackte auf den Boden.


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