Achtzehntes Kapitel

Ich trat als erste aus der Hütte, die von außen tatsächlich den Eindruck einer morschen Hütte erweckte und dem Beobachter das großräumige Haus vorenthielt. Noch immer war Luna ein Hund, immerhin eine wolfsgroße, schneeweiße Hündin, die sich aufmerksam neben mich stellte und jede Bewegung von Krothanus mit ihren scharfen blau-weißen Augen auffing. Die Feen des Dorfes schritten aus den Schatten und neben Scarlett, neben mich. Manche trugen einfache Kleider, aber die meisten Frauen erschienen in Lederhose und Leinenhemd. 
"Schönen guten Tag, Stella", erhob Krothanus seine kratzige Stimme, aber er lächelte scheinbar erfreut. "Ich soll Euch schöne Grüße von Sorham bestellen."
Ein Fauchen erklomm meinen Rachen und fand seinen Weg aus meinem Mund. "Ich will nichts mit ihm zu tun haben!"
Die Gestalt in dem schwarzen Umhang ließ enttäuscht die Schultern fallen und senkte den Kopf, sodass ich sein in die Kapuze gehülltes Gesicht nicht mehr erkennen konnte. "Das ist aber schade", murmelte er bei sich. "Wirklich schade. Er will Euch nämlich sehen."
"Nein!", schrie ich entsetzt und ballte die Hände zu Fäusten.
"Ts ts ts", bemängelte er und kam ein paar Schritte näher. "Denn dummerweise hat er mich angewiesen, auch ohne Eure Zustimmung zu handeln."
Erschrocken wich ich zurück. Luna fiepte leise auf und tat es mir gleich.
In dem Moment sendete Krothanus einen lilanen Nebel aus, der aber eher geistig wirkte, nicht physisch. Jedem, den er erfasste, wurden seine Fehler vorgespielt, die er in seinem Leben getan hatte. Das lenkte betreffende Personen so ab, dass sie nicht mehr klar denken konnten. Und es bereitete emotionalen Schmerz. Nichts und niemand konnte sich davor schützen. Nur Magiere selbst waren in der Lage, einen Schutzzauber dagegen auszusprechen. Krothanus hatte es darauf abgesehen, Leid zu verbreiten. Vor allem, wenn es um besondere Wesen wie mich ging. 
Ich beugte mich vor Schmerz und Tränen flossen über meine Wangen. Was hatte ich nur getan? So viele Fehler, und ich bereute jeden einzelnen. So sehr, dass ich mich dafür umbringen würde, wären sie dann in der Vergangenheit ausgemerzt. Und in dem Moment fragte ich mich, ob nicht mein Leben ein Fehler war. Meine bloße Existenz, mit der ich mehr Leid zu verursachen als zu verhindern schien. Ich sank auf die Knie und verbarg mit den Händen mein Gesicht. 
Die Feen waren zurückgetreten und Luna sah hilflos zu, wie ich auf dem Boden kauerte. 
Krothanus kniete sich vor mich. Er nahm meine Hände in seine und bewirkte so, dass ich aufschaute. "Oh Stella", murmelte er gegen meine Handaußenseiten. "Du verstehst nicht..." Er brach ab. Stattdessen griff er nach meinem Kinn und hob es an, sodass ich gezwungen war, in seine kleinen, roten Augen zu blicken statt auf seine Lippen, begierig, jedes Wort daraus mit meinen Ohren aufzufangen, sei es auch noch so leise. Er war so blaß und so ausgemergelt, wie ich noch nie zuvor gesehen hatte. In dem Moment blitzte die Erinnerung an den Mann auf, der im Kerker meine Kopfwunde versorgt hatte. Sollte...?
"Was verstehe ich nicht?", wollte ich wissen und starrte verlangend auf seine Lippen. 
"Sorham... er will dir nur helfen", wisperte er mir zu, als wolle er, dass die Worte mich liebkosen, mich in den Arm nehmen und trösten, denn ich war noch immer verletzt durch seinen Verrat an mir.
"Er... was? Wie... wieso", fragte ich und zog verwirrt die Stirn in Falten. Es war als setzen sich alle Puzzle-Teile neu zusammen. 
"Er will dich nur in Sicherheit wissen", flüsterte der Magier erneut und strich über meine Wange.
Noch verwirrter als vorher zog ich die Brauen zusammen. "Wa... Ich meine, bin ich denn in Gefahr?"
Krothanus lächelte traurig, gespielt traurig, doch er schien etwas zu wissen, blitzte es in meinem Kopf auf. "Jemand wie du ist immer in Gefahr."
Plötzlich trat jemand Krothanus von mir weg und statt Verständnis hatte ich nun nur noch Hass für ihn übrig. Er hatte meine Gefühle manipuliert!
"Ihr sagtet, sie gehe freiwillig mit, wenn Ihr nur mit ihr redet! Es war nicht von diesen krummen Machenschaften die Rede!", brauste Scarlett auf und trat neben mich. Ich erhob mich und klopfte mir den Dreck von der Kleidung.
Krothanus hob langsam den Kopf und bedachte Scarlett mit einem erzürnten Blick aus seinen zusammengekniffenen Augen. "Ihr habt es mir versprochen!", flüsterte er bedrohlich und beobachtete, wie die anderen Feen ebenfalls vortraten. Waren es Feen? Sie hatten ihr Versprechen gebrochen. "Ihr seid keine Feen!", schrie er plötzlich und rappelte sich auf.
"Nein", tönte Scarlett und lächelte. "Wir sind frei. Auf Ewigkeit entbunden von dem Fluch."
Mit großen Augen schaute ich mich um. Was ging hier vor sich? Ich spürte eine starke Energie, die von Scarlett ausging.
"Lügnerin!", brüllte Krothanus und starrte sie herausfordernd an. "Ich fordere meine abgesprochene Beute!"
Ich schritt weiter zurück, sodass ich schließlich über eine Baumwurzel stolperte und somit vor den Hexen lag. Panisch kroch ich ein paar Meter von ihnen weg. Wo war ich nur hineingeraten? 
"Nichts im Leben ist fair, Krothanus!", schrie Scarlett grinsend. "Und ganz besonders nicht deine Methoden."
"Arghh!", jaulte der Magier auf und wollte Anlauf nehmen, als sich auf einmal drei Einhörner zu uns gesellten. Er hielt inne, denn nach Bändigern waren Magiere Nahrung Nummer eins für die gigantischen Bestien. Die Tiere drehten sich nach mir um, als eine Böe ihnen meinen Geruch zuspielte, aber sie hatten sich unter Kontrolle, wie es schien. Sie gingen nicht auf mich los. Sie ließen von mir ab. Gingen ein paar Huftritte Richtung Krothanus. Und das genügte, dass der furchtlose Magier seine Niederlage einsah, sich umdrehte und Fersengeld zahlte. Doch dabei konnte er uns noch zurufen: "Dafür wird dieses Dorf büßen!"

~~~

Es war schon dämmrig, als Luna wieder als Pegasus neben mir stand und ich aufsaß. "Ich danke euch", sagte ich und neigte ehrerbietend den Kopf.
Die Hexen erwiderten den Gruß. "Seht", meinte Scarlett und trat vor. "Wir sind nicht von Grund auf böse."
Ich nickte. "Und darüber bin ich froh. Hättet Ihr die Wahrheit gesprochen, hätte ich keine Chance gehabt."
Sie nickte. "Trotzdem möchten wir nicht noch länger die Gegenwart eines Bändigers dulden."
"Das beruht auf Gegenseitigkeit", bekräftigte ich ihre Aussage.
"Gut", erwiderte sie und holte tief Luft. "Dann wünsche ich im Namen aller eine gute Reise."
Ich betrachtete sie. Manche nickten, manche starrten mich nur reglos an, und ich konnte die Feindseligkeit nur erahnen. Doch keine war besonders zierlich oder schön, wie es bei den Feen der Fall gewesen ist. Das hätte mir auffallen müssen. Nach einigen Momenten nickte ich ebenfalls. "Möge die Sonne alle Zeit über diesem Wald scheinen", entgegnete ich und warf ihnen einen letzten Blick zu, ehe ich Luna das Zeichen zum Galopp und zum Abheben gab. Ihre starre Anwesenheit gab mir ein mulmiges Bauchgefühl. Ich erinnerte mich an Saphiras Worte. 'Ist das ein böses Omen?' Und dann hörte ich ihr Lachen. 'Oh, Saphira, was habe ich nur getan?'

~~~

Es fühlte sich gut an, wieder frei zu sein, ohne sich Gedanken zu machen, dass diese Freiheit erneut genommen wurde. Oder besser: Diese Gefahr war eigentlich bei jemandem wie mir allgegenwärtig, doch im Moment war sie zumindest in meinem Kopf nicht so präsent. Luna warf erleichtert den Kopf in die Luft. Wir waren beide froh, das Abenteuer beendet zu haben und wieder nach Hause zurückzukehren, auch, wenn ein bitterer Nachgeschmack blieb, weil wir so viel zurückließen. Vor allem über Xantor machte ich mir noch immer Vorwürfe. Doch ich versuchte, nicht mehr so viel darüber nachzudenken.
Wir haben die Stadt vom Beginn unserer Reise erreicht!, rief Luna fröhlich aus. Ich lächelte. Ja, endlich sah es so aus, als ob wir wieder heimkehrten.
Flieg' höher, Luna! Wir sollten Korelan noch diese Nacht erreichen, verkündete ich, und es fühlte sich komisch an, wieder nach Hause zu kommen und sein Leben weiterzuleben, nachdem so viel passiert war. Luna führte meinen Befehl mit Freuden aus und galoppierte durch die Wolken. Weiter oben in den Lüften sahen wir auch eine drachenähnliche Silhouette. ‚Hoffentlich kein Uru', dachte ich und bremste das Tempo. Doch sie sahen uns zuerst und kamen auf uns zu. Ich wollte Luna gerade wenden, als sie rief: Stella, das sind Saphira, Caleb und Kylla!
Verblüfft starrte ich zurück auf das sich schnell nähernde Objekt. Ja, jetzt als Luna es sagte, die blonden Haare sahen tatsächlich aus wie die von meiner Schwester. Und der Drache war viel zu groß für einen Uru.
„Stella, wir waren in Sorge", fing Saphira gleich an, doch ich versuchte sie mit einer Handbewegung zu beruhigen. „Ich weiß, und du hattest schließlich einen guten Grund." Caleb, der hinter Saphira saß, stierte mich an, als sei ich das erste weibliche Wesen, das er sah. „Ihr", verbesserte ich mich schnell. „Wie auch immer, jetzt bin ich ja wieder hier und wir können zusammen heimkehren."
„Das ist so ein unglaublich schönes Gefühl quietschte Saphira und sprang zu mir, um mich zu umarmen. Durch den Schwung wurde Luna ein Stückchen zurück geschoben.
„Jaja", meinte ich und löste mich vorsichtig aus ihrer Umarmung. „Aber zuerst müssen wir heil in Neidor ankommen."
Saphira sprang wieder auf Kylla, der das deutlich weniger ausmachte, und wir flogen los. Die untergehende Sonne wärmte uns den Rücken. Die Wolken vor uns bäumten sich auf in dem Licht und wirkten wahrhaftig wie Pferde, dessen Mähne rot-rosa angestrahlt wurde. Plötzlich ging alles ganz schnell: Die Sonne versank hinter einer Wolkenbank, das Licht wich Dunkelheit und tausend blinkende Sternchen tauchten auf. Es war erst Vollmond gewesen und der abnehmende Himmelskörper reflektierte das Sonnenlicht und wies uns den Weg durch das Dunkel. Im Osten ging er auf und erst, als er schon weit Richtung Süden gewandert war, sahen wir die ersten Pendusecten von Neidor. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich erst jetzt realisierte, dass ich an den Ort zurückkehrte, den ich seit jeher meine Heimat genannt hatte. Die dichte Wolkendecke war gewichen und gab den Blick auf die darunter liegende Landschaft frei. Von hier oben sah alles so klein aus, und nur kleine Lichtpunkte ließen erahnen, wo Städte sein mussten. Um uns herum prangten Sternlein, Sternhaufen, Nebel, ja, sogar einige Galaxien konnte man erkennen. Im Norden stand die Andromeda-Galaxie hoch am Himmel. Es gab Legenden, die erzählten, dass Andromeda einst eine sehr schöne Frau gewesen war, eine Fee, aber ihr war der Fluch zuwider, und sie wehrte sich dagegen. Sie wurde zu einer schwarzen Fee, und war weit über die Grenzen des Königreichs gefürchtet. Sie war zwar nicht böse, aber sie war nun nicht mehr kontrollierbar. Ihr Mann fand das alles nicht so lustig, versuchte, sie wieder unter Kontrolle zu bringen, damit sie ihm gehorchte. Doch vergebens, und so verbannte er sie in weite Fernen, bannte sie an den strahlenden Nachthimmel, dass er ihre Schönheit trotzdem immer bewundern konnte. Aber sie war sehr wütend auf ihn. Ihre Schönheit strahlte und leuchtete noch heller als in der vergangenen Zeit, denn sie wollte, dass ihr Mann bereute, seine schöne Frau verbannt zu haben. Daraufhin reiste er durch sein Land, jemanden zu finden, der seinen Bann wieder rückgängig machen konnte, doch er fand niemanden. Ab da wusste man nicht genau, was mit ihm geschehen war. Er verschwand, aber manche wollten in dem wehklagenden Lied eines großen, grauen Wolfs seine Stimme heraushören.
Ich mochte solche alten Erzählungen und Mythen nicht wirklich, denn sie widersprachen der Logik, dem, was man wahrnahm und sah. Ich glaubte lieber das, was ich sah. Ausnahme war Spirit. Aber jeder auf Korelan glaubte an Spirit und so hinterfragte ich es nicht weiter.
Bald wuchsen auf den Pendusecten auch Bäume. Wir kamen unserer Heimat immer näher! Langsam wurde ich unruhig. Auch bei Saphira und Caleb, ja, sogar bei Kylla und Luna spürte ich eine nervöse Anspannung.
Aber das Schild, das um Korelan und sonst besonders bei Nacht zu sehen war, konnte ich nicht erkennen. Etwas verwirrt runzelte ich die Stirn, aber wir flogen schnell weiter geradeaus.
Schon erschien Silvestris am Horizont. Der Mond erschien hell hinter den großen Bäumen. Es stiegen Rauchsäulen auf. Nanu? Es war doch gar nicht so kalt? Aber wenigstens hieß das, dass jemand da war. Wir flogen auf den Felsen zu und wollten um ihn herumfliegen, als ich sie mit einer Handbewegung stoppte. „Ich spüre Furcht und Hass."
Sofort war Saphira an meiner Seite und wir landeten auf Silvestris. „Woher?", fragte sie nur, als sie von Kylla sprang und meinen Arm griff, als sie neben mir zum Stehen kam. Kurz schloss ich meine Augen. „Aus dem Tempel", flüsterte ich. Das blondhaarige Mädchen machte große Augen.
„Und das Dorf?" Wieder schloss ich die Augen. Ich strengte mich an. Aber ich musste mit dem Kopf schütteln. „Nichts."
Saphira Gesicht, ach was, ihre ganze Haltung fror ein. „Das bedeutet..." Sie brach ab, als ich vortrat zwischen die Bäume und die Farnwedel zur Seite schob. Sie folgte mir, ebenso wie Caleb, dem der Schreck tief in den Gliedern steckte. Auf Domicilitus, auf dem einmal das blühende Leben geherrscht hatte, sich Bändiger getummelt hatten wie Fische in seichtem Wasser, waren die Hütten ausgebrannt und einsame Ruinen klagten den vergangenen Tagen hinterher. Einige Hütten qualmten noch leicht, doch der meiste Rauch kam von dem Leichenhaufen in der Mitte des Pendusecten, den jemand angesteckt hatte, um anscheinend alle übrig gebliebenen Beweise auf eine gewalttätige Machtübernahme zu vernichten. Vor Furcht weiteten sich meine Augen. Was? Sie waren alle tot? Wir waren doch gerade erst zurückgekehrt, wieso...? Mein Gehirn wollte es nicht begreifen. Es herrschte totale Leere in meinem Kopf, selbst, als Mischkof maunzend aus den Farnwedeln neben uns schritt und um unsere Beine strich. Wir erschraken uns tierisch, aber dann nahm Saphira ihn auf den Arm. „Alles gut, mein Großer." Wir wussten alle, dass sie log. Nichts würde je wieder gut sein.

~~~

Ich schlug meine Augen auf. Dann rannte ich los und sprang über den Rand von Silvestris. Ich hatte Saphira überzeugt, dass ich alleine weniger Aufsehen erregen würde. Die Chancen standen schlecht, aber vielleicht fand ich noch jemanden, der lebte. Vielleicht konnte mir jemand sagen, was los war. Vor dem Leichenhaufen blieb ich stehen. Verloren betrachtete ich die zerschlagenen Gesichter, die ich einst gekannt hatte. Ich sah Sue, Stephan, Deana und Lakrea. Und, oh, behüte, ganz unten lag meine Mutter. Der Ausdruck in ihren Augen war leer, ihr Kopf merkwürdig zur Seite gedreht, und auch Arme und Beine waren unnatürlich verkrümmt. An den Unterarmen hatte sie Schnittverletzungen, der Stoff an ihrem Rücken war zerfetzt, vermutlich von einer Peitsche und sie hatte Blutergüsse im Gesicht und an den Oberarmen. Ihre Fingerknöchel waren aufgeschürft, anscheinend hatte sie sich verteidigt. Anders als ihr geschundener Körper und die mit Blut vollgesogene Kleidung von dem vermutlich tödlichen Schnitt am Hals waren ihre Haare unversehrt und sahen noch genauso aus wie an dem Tag, als ich geboren wurde. Vielleicht erschien es verwirrend, dass ich mich ausgerechnet daran erinnerte, doch ich würde dies nie vergessen, denn meine Mutter hatte ihre Haare vergöttert, und sie hatte sie nie abgeschnitten oder auch nur einen Tag in einem Zopf gefangen gehalten. An meinem Khoschi sahen die blonden Haare genauso aus. Auch danach hatten sie sich kaum verändert. So stand ich gedankenverloren da und dachte über die vergangene Zeit nach. Als plötzlich ein kratziges „Wer ist da?" ertönte, zuckte ich merklich zusammen. Ich drehte mich um die eigene Achse, doch ich sah niemanden. Also wandte ich mich wieder nach vorn. „Hey, Stella", rief eine andere Stimme, eine, die mir komischerweise bekannt vorkam. Wieder schnellte mein Kopf herum, doch wieder sah ich erst nichts. Auf einmal nahm ich eine Bewegung in einer der Hütten wahr. Stand da etwa...? Ja, dort stand unsere Vase, und es war eine Familientradition gewesen, sie von Generation zu Generation weiterzugeben. Vorsichtig ging ich auf die Hütte zu. Der halb abgerissene, halb verkohlte Vorhang, der einst die Tür hatte darstellen sollen, war vor die Öffnung gezogen. Wieder zuckte der Vorhang. Nach ein paar unsicheren Schritten konnte ich schließlich einen Blick hinein werfen, und ich traute meinen Augen kaum. Dort drinnen saßen tatsächlich einige der jungen Bändiger, die dieses Jahr Khoschi gefeiert hatten. Ich sah Nathanaël, Catherine, Jayden und – Spirit sei Dank – Adam! Neben ihnen kauerte noch ein Junge, den ich nicht kannte, doch er hielt sich die Hand. Waren sie verletzt? „Seid ihr wohlauf?", erkundigte ich mich sogleich, doch sie musterten mich nur ängstlich wie wilde Tiere. Adam brach als erstes sein Schweigen. „Woher sollen wir wissen, ob das wirklich du bist?"
Ich war verwirrt. „Welchen Grund habt ihr, mir zu misstrauen?"
Nathanaël ergriff das Wort. „Taklaros hat gewalttätig die Macht an sich gerissen. Aber es war nicht seine Idee. Er arbeitet für jemanden. Wir wissen nicht, für wen, aber derjenige ist anscheinend ein Magier, denn er erschafft Trugbilder, um uns herauszulocken. Wir können niemandem trauen."
„Ihr könnt auch nicht ewig hier bleiben", hielt ich dagegen.
Adam sprach wieder. „Du warst weg, Stella, sehr lange, und wir wissen nicht, ob und wann du wieder zurückkehrst. Du musst ein Trugbild sein."
Verblüfft zog ich die Brauen zusammen. Plötzlich überkam mich Wut. Wut auf den, der mir alles genommen hatte und Wut auf die, die mir geblieben waren und mir dennoch misstrauten. Doch ich atmete tief ein. „Ich war lange auf der Erde, und ich habe viel erlebt. Müdigkeit, Erschöpfung und Sehnsucht leiteten meine Glieder, als ich wieder hierher zurück kam. Das einzige, was ich mir wünschte, war alle meine Freunde wiederzusehen und mit ihnen zu feiern. Vielleicht auch mit ihnen essen und mich ausruhen. Ja, einfach nur Zeit mit ihnen verbringen. Und dann kam ich her und musste feststellen, dass alle tot sind, die ich gekannt habe, alle, die ich geliebt habe." Tränen stiegen in mir auf. Auch Catherine und Jayden hatten Tränen in den Augen. Ich schluckte schwer, schluckte die Tränen hinunter. „Ich habe alles verloren, nicht nur meine Heimat, nein, wirklich alles, meine Freunde, meine Familie, alle, die ich gekannt habe. Ich habe alle verloren, aber plötzlich finde ich euch, ein Lebenszeichen, ein Hoffnungsstrahl, dass vielleicht doch noch nicht alles verloren ist. Versetzt euch in mich hinein, stellt euch vor, wie erleichtert ich war-" Intensiv spürte ich ihre Traurigkeit in dem engen Raum. „Ich war so erleichtert, zu sehen, dass ihr noch lebt, und dass es euch verhältnismäßig gut geht, besonders dir, Adam, denn du bist Teil dieser Familie, die mir auf grausamste Art und Weise genommen worden ist, und glücklicherweise bist du mir geblieben. Ich verspürte das süßeste Glück, das man sich vorstellen kann, und dann sagt ihr mir, dass ihr mir nicht trauen könnt, und dass ich ohne euch gehen muss, dass ich euch hier zum Sterben zurücklassen muss." Es war still, einen Moment, und ich konnte förmlich hören, wie ihre Gedanken ratterten. „Wisst ihr was? Mir fällt es im Leben – bei Spirit – nicht ein, euch zurückzulassen, auch, wenn ich dafür kämpfen und euch bewusstlos hier raustragen muss."
Nathanaël stand auf. „Es gibt eine Möglichkeit, wie du beweisen kannst, dass du du selbst bist, nämlich indem du deine Kräfte präsentierst. Magiere können nur das Aussehen verdammt realistisch nachstellen, aber deine Kräfte, die haben sie nicht."
Ich zögerte – wenn ich jetzt bändigte, war die Wahrscheinlichkeit größer als vorher, dass ich die Kontrolle verlor. Alle würden sterben und Taklaros würde auf mich aufmerksam werden. Ich schloss die Augen. Aber das war die einzige Möglichkeit, dass sie mir folgten. Lautlos schritt ich vor in die Hütte und kniete mich hin. Ich erinnerte mich an jene Gewitternacht in den Bergen, als uns Jahir begleitete. Ich konzentrierte mich. Mit dem Element Erde stellte ich die Berge nach. Dann mischte ich Luft und Wasser und ließ Wolken über den Himmel eilen. Ich öffnete die Augen wieder. „Dieses Schauspiel ist faszinierend", flüsterte ich in ließ den Wind die Wolken aufbäumen. Fast konnte man Pferdewiehern vernehmen. Dann verdickten sich die Wolken, wurden dunkler und es regnete schließlich. Die grauen Bindfäden schlossen sich zu kleinen Strömen zusammen, die die Bergseiten hinunterschossen. Plötzlich erhellte ein feuriger Blitz die Nacht. ‚Zu warm', dachte ich, und strengte mich das nächste Mal mehr an, den blauen Schein nachzuahmen. Da gelang es mir, und fast sah ich graue Pelze an der Flanke des Berges entlangwandern, auf der Suche nach etwas zu fressen. Als alle wie gebannt auf die Berge starrten, als sie vertieft in die aufregende Szenerie waren, da ließ ich das Gebändigte in sich zusammenfallen. Das Bändigen hatte mich beruhigt, und ich holte nochmals tief Luft. Adam nickte. „Das war Beweis genug." Er erhob sich. „Wir werden dir folgen." Ein breites Lächeln bahnte sich seinen Weg auf meine Lippen.

Es waren nur noch ein paar Hor bis Sonnenaufgang, als wir auf einem großen Waldpendusecten Rast machten. Inzwischen hatten Nordul, der Drache von Caleb, und Jaydens Pegasus Soraya zu uns gefunden. Sie konnten dem Inferno anscheinend entkommen, das uns die jungen Draconibus beschrieben hatten. Ich hatte Schilde um uns errichtet, damit unsere Anwesenheit weitestgehend unbemerkt blieb. Wir entzündeten ein großes Feuer in unserer Mitte und ließen uns alle darum nieder. Allerdings erlosch das Misstrauen der kleinen Truppe nicht gleich, und so saßen wir deutlich getrennt. Nur Adam bildete eine Ausnahme und auch Nathanaël rutschte etwas näher zu mir, als im Feuer ein besonders großer Ast zerbrach und er dachte, es merke keiner. „Wenn du näher zu mir kämst...", meinte ich zu dem fremden Jungen. „...dann könnte ich dich heilen."
Mit großen Eulenaugen starrte er mich an.
Ich seufzte. „Wenn ich dich hätte töten wollen, hätte ich es schon längst gekonnt."
Das schien ihn zu überzeugen, und er kam etwas in meine Richtung gerutscht. Nathanaël machte ihm Platz. „Wie heißt du?", wollte ich wissen, als er seinen Ärmel zurückkrempelte und eine tiefe Schnittwunde zum Vorschein kam. Ich sog scharf die Luft ein. Das sah schmerzhaft aus. „Ich bin Elya", antwortete er mir scheu und seine Augen fingen nervös jede Regung von mir auf. „Ich bin ein Feuerbändiger –" Er unterbrach sich. „- war ein Feuerbändiger, bevor..."
Ich nickte. „Ich bin Stella", stellte ich mich meinerseits vor. „Ich bin... domitrix initium." Ein Raunen ging durch die Reihen, nur Nathanaël, Adam, Saphira und Caleb schienen davon gewusst zu haben. Dadurch verstärkte sich das Misstrauen nur, und nun kam auch Angst dazu.
Caleb schaltete sich ein. „Keine Sorge, ich kenne sie schon mein Leben lang. Sie wird euch nichts tun."
Saphira hob die Augenbrauen. „Ich glaube, dass sie das nicht gerade beruhigt, vor allem, da es von einem Halbbändiger kommt." Die Überraschung hierbei hielt sich in Grenzen. Anscheinend war das bekannter.
„Sie wird uns wirklich nichts tun", bekräftigte Adam und rutschte zu mir. „Sie ist meine Schwester und sie ist eine gute Seele. Allerdings solltet ihr ihre Gabe kennen. Sie kann Gefühle spüren." Wieder ein Raunen.
„Was ich nicht ausnutzen werde", fügte ich hinzu und nahm die Hände von Elyas Wunde. Sie war vollständig geheilt. „Ich werde euch ausbilden. Aber nicht hier. Wir suchen uns einen sicheren Ort."

~~~

Am nächsten Morgen, es war schon gegen Mittag, flogen wir schnell denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Inzwischen waren die restlichen Reittiere eingetroffen. Nach wenigen Hor hatten wir Neidor verlassen und nach nochmals wenigen Stunden sahen wir die großen Wasser und das feste Land. Wir landeten dort, wo ich die wenigsten Lebensformen spürte. Es war direkt am Meer, und ich befahl den Draconibus, ihre Reittiere zu verwandeln. Nach einigem Zögern taten sie das auch. Wir brauchten einige Minuten, bis es alle geschafft hatten und nochmals einige Minuten, bis wir unser weniges Gepäck umgeräumt hatten.
Dann ging ich vorneweg, mit Luna im Schlepptau. Ich sog angespannt die Luft ein. „Na gut, auf geht's, Draconibus."

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