Kontinuitäten

Vor seinem Fenster standen die Bäume, die vor fast zwanzig Jahren gepflanzt waren, in einer hellen Blüte. Wie er konnte sie auch jeder andere erblicken und sich auf die Früchte, die schon bald an ihnen hängen würde, freuen. Um die Bäume hatte man Blumen gepflanzt, sie hübsch arrangiert, um zu zeigen, dass das Leben schön sein konnte. Er war zufrieden. Er war ein zufriedener Mann gewesen und erfreute sich ebenso an den Bäumen wie an den Blumen, die draußen, wenn er nach rechts blickte, vor seinem Fenster standen, auf die Blumen in der Vase, die seine Frau für ihn geschnitten und zu seinem Büro gebracht hatte. Jetzt saß er vor seinem Schreibtisch, der schon seinen Vorgängern gehört hatte und entsprechend in die Jahre gekommen, aber immer noch nützlich gewesen war, und aß das Essen, das seine Frau gekocht hatte. Sie waren ein glückliches Paar gewesen. Sie freuten sich auf das neue Haus, was sie sich leisten konnten, weil Karl Müller für seine Dienste gut bezahlt wurde. Hier konnte jeder aufsteigen, der richtig funktionierte, der nicht zu viel in Frage stellte, der machte, was man ihm anordnete, der davon überzeugt war, einen Schlussstrich gezogen zu haben.

Wenn Karl Müller hinter sich blickte, hing ein alter Bilderrahmen an der Wand. Über die Jahre hatte man verschiedene Männer dort portraitiert, in dessen Diensten die Leute arbeiteten, die vor den Fotographien am Schreibtisch saßen. Heute hing dort das Bild seines Vorgesetzten, das Bild des Generalstaatsanwaltes. Er hatte viel mit ihm zu tun. Häufiger gingen sie durch München, vorbei am gesprengten Tempel, aßen zu Tisch, scherzten, lachten, erinnerten sich an die guten Studienjahre und genossen das Leben. Es war Sonntag und sie aßen Eintopf. Die Stadt befand sich nach dem Krieg noch im Aufbau, viel zu erleben hatten sie nicht. Ihr Geld verdienten sie im Gerichtssaal, der mit den braunen Verzierungen eine gewisse Heimat verkörperte. Auf der Anklagebank saßen dieselben Männer und Frauen wie damals, die sich, wie es schon früher gewesen war, unrechtmäßig verhalten hatten. Die steinernen und harten Gemäuer symbolisierten eine unwiderrufliche Standhaftigkeit des Gesetzes auf deutschem, eine Härte, die niemand umgehen konnte. Der Richter war Richter, der Angeklagte ein Täter. Egal, wie man den Raum auch umgestaltet hatte, es blieb immer alles beim gleichen. Früher hingen hier vielleicht andere Fahnen, waren andere Symboliken angebracht; die Menschen waren dieselben geblieben. Der neue Staat kümmerte sich schließlich um seine Menschen, jeder, der hier ein zuhause fand, jeder, der in der Gemeinschaft anerkannt gewesen war. Im Gericht war man ein stolzer Deutscher. Hier erzitterten die Angeklagten vor dem Gesetz. Wer das Haus betrat, kam nur selten unbescholten davon. Die marmornen Treppen schallten, wenn sie jemand betrat. Man hörte sie durch das ganze Gebäude. Die großen Türen blickten auf die Angeklagten hinab. Vereinzelt befanden sich eiserne Köpfe von hohen Richtern, die erwarteten, sie ehrwürdig anzublicken. Lange Flure hörten scheinbar nicht mehr auf. In diesem Gebäude verlor man sich, wenn man sich nicht auskannte, kam an Stellen und Büros vorbei, von denen man dachte, sie seien längst vergessen. Aber sie waren noch immer präsent. Sie besaßen denselben Namen.

Heute war er woanders. Heute war er weder im Büro, weder zu Hause und auch nicht im Gericht. Seine eigentliche Aufgabe, nach den Verbrechern des Dritten Reiches zu suchen, pausierte; er sollte sie irgendwann wieder aufnehmen, wenn er Zeit dafür hätte, sagte der Generalstaatsanwalt und schickte ihn nach Hamburg. Es war eine lange Reise von München gewesen, die er nur ungern antrat. Die bayrische Landeshauptstadt war seine Heimat gewesen, nach Nürnberg fuhr er immer noch gerne, wie er es als Kind mit seinen Eltern schon gerne getan hatte. » Altes unter neuem Namen «, sagte ihm der Generalstaatsanwalt, als er ihn auf die Reise schickte. Er solle sich einfach vorstellen, dass Hamburg wie München gewesen war; dass die großen und schweren Häuser in München ebenso wie in Hamburg erschienen. Doch als er Ausstieg, die nach Salzwasser riechende Nordseeluft ihn erreichte, half es ihm nicht. Das Salz ätzte hier alles weg. Hier gab es nichts, was man auf sein Haus pinselte, um das Grundgemäuer zu verdecken. Sowas hätte hier nicht funktioniert; zumindest nicht so gut wie in München. Alles, was in München für ihn so schön gewesen war, all die schönen Häuser mit ihren Fassaden und ihren Bewohnern, das alles fand er hier nicht. An der Küste standen rote Klinkerbauten. Das kannte er nicht.

Wenn man ihn fragte, warum er Jura studiert habe, dann antwortete Karl Müller, dass er Gerechtigkeit wolle. Darauf war er stolz gewesen. Er war stolz darauf, zu wissen, dass er das richtige tue, dass er im Namen der Bundesrepublik Deutschland eine neue Ära begründen konnte; vielleicht nicht er alleine, er war ja auch nur ein einzelnes Glied in einem großen System, ja, aber vielleicht die gesamte Generalstaatsanwaltschaft; allen voran sein Vorgesetzter. Sie dienten dem Kanzler, dem Volk, dem Vaterland. Sie dienten einem gänzlich neuen Deutschland; einer Bundesrepublik, die eine klare Grenze zwischen Drittem Reich und der Gegenwart zog. Darauf war er stolz; ebenso wie auf Goethe und Schiller, auf alles, was Deutschland eben stolz machte, auf sein Studium, das rote dicke Buch, das auf seinem Schreibtisch stand und ihn zum Anwalt qualifizierte. Und nun war es er, bei diesem Gedanken fühlte er sich ganz monumental, der eine bedeutenden Beitrag dazu leistete, dass in Deutschland nie wieder eine Diktatur einen Platz fand.

Er war als versteckter Ermittler auf dem Weg zu einer Sitzung der KPD, die seit zwei Jahren verboten war. Der Generalstaatsanwalt wollte Namen haben, Fotos, Beweise für die Vaterlandsverräter, den Linksextremismus im Keim ersticken. Müller trug einen schwarzen Hut und einen Trenchcoat, hatte einen Aktenkoffer und gefälschte Papiere bei sich. Er ging in den großen Saal und erblickte vor einer ebenso großen Bühne die Portraits der Geschwister Scholl, darunter das Zitat von Sophie. Fast wollte er gehen. Aber er hatte einen Auftrag zu erfüllen. Er musste herausfinden, wer diese Leute waren. Er brauchte Namen. Er brauchte Fotos. Er brauchte Adressen und er brauchte Belege. Was würde nur geschehen, wenn er ohne einen Erfolg nach Hause käme? Wenn die Frau lachte, konnte er sie schlagen. Aber was würde nur der Generalstaatsanwalt tun? Wenn er heute nicht erfolgreich sein würde, dann wäre er vielleicht die längste Zeit Staatsanwalt gewesen. Hunderte hatten sich auf seinen Job beworben. Es waren hunderte. Er musste zeigen, was in ihm steckte; stets beweisen, was er konnte; er musste alles geben, um zu überleben, ohne dass es ihm wirklich klar gewesen war. Die Welt erwartete ein Kind, doch die Frau wurde nicht schwanger. » Eins nach dem anderen «, sagte er sich dann und huschte auf einen Platz.

Er notierte sich alles im so genannten roten Hamburg. » Wir haben sie schon einmal besiegt «, sagte der Generalstaatsanwalt » und wir werden es ein weiteres Mal schaffen «, dann lachte er. Müller notierte sich jedes Wort, jedes Gesicht zeichnete er auf, schoss Bilder und strengte sich an, sich jedes einzelne Gesicht einzuprägen. Die Redner begannen ihre Reden mit „Liebe Genossen", erhielten schallenden Applaus, als sie fertig waren. Es wurde diskutiert und auf die Vergangenheit hingewiesen und dann endete die Versammlung. Rote Vorhänge zur linken und rechten Seite hüllten den Raum in eine gewisse Wärme. Eine zeitlang blieben sie noch alle im Saal, unterhielten sich, aßen Bockwürstchen mit Brötchen, irgendwo erklang ein plattdeutscher Akzent. Sie kannten sich alle. Es war eine vertraute Gemeinsamkeit, die Müller abschreckte und widernatürlich fand. Manchmal roch es nach Fisch. Hier stand ein Arbeiter, hinten ein Professor. Es waren viele und doch sehr wenig, » Zu wenig «, sagte in diesem Moment ein alter Mann, der sich in seine Tasche fasste. Sie waren alle kriminell gewesen. Müller schrieb es auf und setzte sich zu einem alten Mann mit tiefen Falten im Gesicht.

» Ich weiß, wer Sie sind «, sagte er dann. » Und ich weiß «, er zündete sich eine Zigarre an, paffte an ihr, wodurch sein schwarzer Schnauzer zu hüpfen begann, » warum Sie hier sind. «

Da erschrak Müller etwas. Hatte er sich verraten? Wurde er getäuscht? War er aufgeflogen?

» Warum machen Sie das? «, fragte er.

» Weil ich Gerechtigkeit will «, sagte er dann zielgerichtet.

» Gerechtigkeit wollen wir hier alle. «

» Deswegen führen Sie einen illegalen Parteitag durch? «

» Deswegen arbeiten Sie für Nationalsozialisten? «

Müller sah ihn verblüfft an.

» Ich wette, bei Ihnen im Büro steht noch der rote Schönfelder «, der Mann mit Zigarre paffte, musste schmunzeln und beobachtete hinter den Männern, die sich küssten, die Putzfrau. Sie räumte gerade den Tisch ab, bevor ihr einige zu Hilfe kamen.

» Sie verdient sich etwas Geld dazu «, sagte er dann und blickte ihn in diesem Moment zum ersten Mal an. » Sie sollten Sie nicht verhaften «, redete er dann weiter. » Es könnte das Bruttoinlandsprodukt schwächen «, wieder schmunzelte er, drehte sich zurück und beobachtete die Menge. » Er da, «, sagte er dann und deute mit einem Nicken auf einen Mann, der etwas jünger als er aussah, » er hat damals einen Nazi erschossen. « Er zog an seiner Zigarre. » Wurde dann von der Bundesrepublik als schuldig verurteilt und die DDR hat ihn freigekauft. Jetzt ist er wieder hier. Ganz schön mutig, wenn Sie mich fragen. Ich mag ihn. Ist ‚ne treue Seele. Er glaubt noch immer, dass er es eines Tages schafft. «

» Was sollte er schaffen? « Er lechzte.

» Gerechtigkeit «, sagte er ruhig. » Er liebt das Deutschland so sehr, sich und das Hamburg, dass man ihn töten müsste, um ihn hier fernzuhalten. Er käme immer wieder. «

Verwundert drehte Müller seinen Kopf.

» Sie kämpfen also für Gerechtigkeit «, wiederholte der Alte dann die Aussage von Müller. » 17 Millionen Deutsche warten darauf, verhaftet zu werden. Globke ist Chef des Kanzleramtes, die nationalsozialistischen Paragraphen 175, 219a, 220 warten darauf, revidiert zu werden, Volkswagen existert immer noch, die KPD ist verboten, ThyssenKrupp produziert eifrig weiter, Faber Castell zählt zu den reichsten Vermögenden, 800 nationalsozialistische Richter sitzen bis heute in Gerichten der Bundesrepublik, statt Saefkow, Jacob und Bästlein zu verehren, huldigen wir dem Nationalsozialisten Stauffenberg, jüdische Eigenheime sind immer noch im Besitz von Deutschen mit nationalsozialistischer Vergangenheit. Wo sind die Straßen und Alleen, die die Namen unserer Opfer tragen? Ist der 8. Mai ein Feiertag? Warum gewinnt die Sozialdemokratie keine bundesdeutsche Wahl? Fragen Sie sich mal warum. Wo ist ihre Gerechtigkeit, Müller? « Dann wurde der Staatsanwalt auf einen Tanz eingeladen. Erst lehnte er ab, dann nahm man ihn mit. Beinahe küssten sie sich. Er kam zurück und die Menschen lachten.

» Wenn ich das hier alles so sehe «, sagte er dann und setzte seinen Hut ab, » dann weiß ich nicht, wofür ich hier noch einstehen soll. «

» Ich dachte für Gerechtigkeit «, antwortete man ihm und blickte auf den Mann, der ihn vorhin beinahe geküsst hätte.

Müller, dessen rotes Buch ganz weit entfernt stand, sank in sich zusammen.

» Wissen Sie, Müller, das hier ist nur eine Möglichkeit; eine Möglichkeit von vielen. Nehmen Sie sie an, oder lassen Sie es bleiben. Sie haben die Wahl. Kehren Sie zurück oder bleiben Sie hier. Machen Sie, was Sie wollen. Aber bedenken Sie, dass Ihre Entscheidung Konsequenzen haben wird. Für sie oder für uns. Wir werden weiterkämpfen, das sollten sie sich gewiss sein. „Gesetze ändern sich, das Gewissen nicht", steht dort. Wir haben weder das eine, noch das andere geschafft, Müller. Glauben Sie mir, auch ich würde mir wünschen, dass hier eines Tages die Deutschlandfahne hängen kann. Aber jetzt geht es noch nicht. Wir können uns nicht stolze Deutsche nennen, wenn wir so sind, wie wir mit der Geschichte umgehen. Wir können noch einmal darüber sprechen, wenn die Frauen wieder selbstständig, ohne Zustimmung von ihrem Gatten, arbeiten und abtreiben dürfen; wenn die Frauen wieder so tanzen wie in den 20ern. Verhaften Sie uns alle. Vielleicht haben Sie dann Zeit, sich um die ganzen anderen Probleme zu kümmern; wenn Sie es denn dürfen, wenn man Sie lässt. Vielleicht haben Sie dann Zeit, sich um 17 Millionen Deutsche zu kümmern. «

Beide waren aufgestanden und blickten auf die Bühne, wo das Zitat von Sophie Scholl stand. Es fehlte sichtlich eine Flagge. Sie erhoben bereitwillig ihre Köpfe und sahen, dass abertausende Bilder von vergasten Menschen das Zitat ausmachten.

» Ich kann es nicht «, sagte Müller und die Musik stoppte. » Ich kann nicht hierbleiben. Ich schaffe es nicht. Ich brauche das Geld. Ich muss das Haus bezahlen. Ich muss gehen. «

Man blickte ihm hinterher. Man blickte in ein Gesicht, das von Abhängigkeit sprach. Der Notizblock blieb zurück. 

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