Kapitel achtunddreißig

Der nächste Mittwoch kam schneller als erwartet. Es kam mir vor, als wäre ich gestern erst angekommen, als ich meinen Koffer am späten Nachmittag über die lange Auffahrt zu Grandpas altem Mercedes zog. Daniel und Caroline würden noch zwei Tage länger auf dem Landsitz bleiben, aber Zoey war schon heute morgen gefahren, da sie heute Abend zu einer wichtigen Jubliläumsfeier musste. Und obwohl ich meine Recherchen hier in Gloucestershire nicht hatte weiterführen können, war ich doch froh, dass ich mich diese Ferien doch noch eine Woche ausgeruht hatte. Es war gar nicht so schlimm gewesen, von allem daheim Abstand zu gewinnen, im Gegenteil: Die Woche Auszeit hatte richtig gut getan. Andererseits war ich schon froh, dass es heute nach Hause ging, denn dort war einfach zu viel, das noch geklärt werden musste - bevor die Schule in zwei Wochen wieder anfing. Jenson schíen sich ebenfalls auf die Heimreise zu freuen, denn er war in  den letzten Tagen immer ungeduldiger geworden. Vermutlich fehlte ihm das tägliche Schwimmtraining und er führte sich deshalb auf wie ein scheuer Hengst.

"Ihr werdet uns fehlen, Kinder", sagte Grandma Catherine, die nicht mit zum Bahnhof fahren würde, sondern hier bei Daniel und Caroline blieb, die wie zwei Hausangestellte kerzengerade neben dem Wagen standen. Ich schloss meine Großmutter warmherzig in die Arme und drückte ihr einen trockenen Kuss auf die Wange. Es wehte ein frischer Wind, der graue Wolken vor die Sonne schob und mir das lange Haar zerzauste. Wahrscheinlich sah ich jetzt schon aus wie ein Friseurunglück. "Es war eine tolle Zeit, Grandma", versicherte ich Catherine, ehe ich von ihr abließ. Als meine Brüder und ich uns auch von Daniel und Caroline verabschiedet hatten, stiegen wir ohne großes Tamtam zu Grandpa ins Auto und ließen uns zum Bahnhof kutschieren. Während wir um die erste Kurve fuhren, schaute ich aus dem Fenster, um den immer kleiner werdenen Gestalten auf der Auffahrt beim Winken zuzusehen.

Ein paar Stunden später saß ich zuhause am Küchentisch und aß Kuchen mit Mum und Dad. Wie immer, wenn wir Urlaub in Gloucestershire gemacht hatten, fragten sie uns über das Anwesen und unsere Großeltern aus. Sie waren die Eltern meiner Mum und die war neugierig, wie sich der Sitz über die Jahre verändert hatte, deswegen stellte sie lauter Fragen wie: "Ist der Dachboden immer noch so feucht?", und "Gibt es noch immer Omelettes zum Frühstück?", oder "Ist das hintere Regal in der Bibliothek immer noch so instabil?". Mums Fragen gingen so ins Detail, dass wir sie gar nicht alle beantworten konnten. Erst, als die Sonne schon längst hinter dem Horizont verschwunden war, entließen die beiden uns auf unsere Zimmer, damit wir unsere Koffer auspacken konnten. Als ich hinter Dean zur Tür hinausgehen wollte, hielt Mum mich jedoch zurück. "Was ist?", fragte ich skeptisch und nicht zuletzt genervt. Ich war den ganzen Tag unterwegs gewesen, was wollte sie denn jetzt noch? Ich brauchte Schlaf, damit ich morgen wieder im Hotel arbeiten konnte. "Ich möchte noch kurz mit dir sprechen", sagte Mum mit aller Seelenruhe, die sie aufbringen konnte. Ich warf meinen Brüdern einen sehnsüchtigen Blick hinterher. "Komm schon, Holly", sagte Mum, die anscheinend meine Gedanken gelesen hatte. Sie fasste mich sanft bei der Hand und zog mich auf die Terasse hinaus, wo sie mich auf einen der Stühle drückte. Über uns erstreckte sich der Nachthimmel mit all seinen Sternen und Glanzlichtern, die am Tag verborgen blieben. Während ich hinaufsah, rieb ich mir über die nackten Oberarme, auf denen sich schlagartig eine Gänsehaut gebildet hatte. Und das nicht wegen der Frische der Nacht, nein, etwas anderes. Ich spürte eine Anwesenheit - ihre Anwesenheit. Ich entriss mich dem Anblick der glitzernden Sterne, um mich rasch nach allen Richtungen umzusehen, aber ich konnte keinen feuerroten Fetzen, kein Stück elfenbeinfarbener Haut erhaschen. Und trotzdem wusste ich, dass das Wassermädchen in der Nähe war. Sie beobachtete mich. Aber woher wusste sie, dass ich wieder hier war? Dass ich weggefahren war, dürfte ihr spätestens dann aufgefallen sein, als sie mich Freitag zu meinem Kampftraining abholen wollte, aber wer hatte ihr erzählt, dass ich heute angereist war? Oder hatte sie mehr mitbekommen, als ich dachte? "Alles in Ordnung?", wollte Mum wissen, während sie meinem Blick folgte. Ich rang mir ein Nicken ab. "Aber sicher. Alles tutti." Im Schatten der Nacht meinte ich, meine Mutter lächeln zu sehen. "Also", sagte ich gedehnt und räkelte mich im Gartenstuhl. "Was hast du auf dem Herzen?" Mum legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und seufzte schwer. Im Mondlicht warfen ihre feinen Wimpern Schatten auf die helle Haut unter ihren Augen. "Ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen", sagte sie leise und bedächtig. Ich schluckte trocken, sagte aber nichts. Ich wusste, was nun kommen würde, und trotzdem überraschte es mich. "All die Jahre habe ich nur an mich und meinen Kummer gedacht und dich total übersehen, obwohl es dir mindestens genauso schlecht ging wie mir", fuhr Mum fort. Jetzt schlug sie die Augen auf, um mich forschend anzusehen. "Du sagst ja gar nichts." "Was ist mit Dean und Jenson?", fragte ich und starrte auf meine Hände, damit ich ihr nicht ins Gesicht sehen musste. "Wie meinst du das?" Mum klang hörbar irritiert. "Sie sind auch deine Kinder", sagte ich und betonte den ganzen Satz mit einer seltsamen Mischung aus Spott und Ernst. "Für sie warst du auch nicht da." Stille. Die Grillen zirpten uns ein Konzert, während Mum mit den Worten jonglierte. Ich konnte das Meer rauschen hören, endlich wieder, und ich fühlte eine tiefe Entspannung in mir aufblühen. "Du weißt, was ich meine", sagte Mum da. "Du bist die kleinste und das einzige Mädchen. Dean und Jenson waren stark und sie hatten ihren Vater. Den hattest du natürlich auch, aber Mädchen in deinem Alter brauchen vor allem ein weibliches Vorbild und das habe ich... verpasst. Das tut mir sehr leid. Ich will gar nicht wissen, wie schwer es für dich gewesen sein musste, wieder vernünftig ins Leben zu finden, denn dann hätte ich nur noch ein schlechteres Gewissen. Aber lass uns diese Zeit hinter uns lassen. Bitte, Holly. Verzeih mir." Als ich einen schnellen Blick in ihr Gesicht warf, sah ich ihre Augen verdächtig glänzen und mein Gesicht begann zu glühen. Ich weiß, es war der letzte Moment, in dem man Scham empfinden sollte, aber dieses ganze Gespräch war so kitschig, dass ich gar nicht anders konnte, als mich zu schämen. Aber der viel größere Teil von mir war berührt von meiner kleinen Mum, die es endlich über sich gebracht hatte, den ersten Schritt in die richtige Richtung zu machen. "Holly?", schniefte sie in die Dunkelheit. "Habe ich etwas falsches gesagt?" "Nein." Jetzt, endlich, sah ich sie direkt an. Ihre Augen glänzten noch immer und auch meine begannen zu brennen, und ich konnte nicht mehr warten, ich musste sie umarmen. Arm in Arm wiegten wir uns hin und her, minutenlang. Dann wischte ich mir über die Augen und fragte: "Was ist so passiert, während ich weg war?" "Oh, es waren eine Menge Leute hier." Mum hielt mich noch immer an den Schultern fest wie einen Fels in der Brandung, aber ihre Stimme hatte wieder einen stabilen Ton angenommen. "Abigail wollte dich natürlich besuchen. Sie sagte, sie hätte dir etwas furchtbar wichtiges zu erzählen, und sie war riesig enttäuscht, als ich ihr gesagt habe, dass du in Gloucestershire bist." Ich zog eine Augenbraue in die Höhe. Abigail hatte dauernd etwas wichtiges zu erzählen, aber angesichts der Tatsache, was für Pläne sie und Finley für diesen Sommer hatten, konnte ich mir schon denken, in welche Richtung unser nächstes Gespräch gehen würde. Ob sie es schon getan hatten? Ich kratzte mich im Nacken, um eine lästige Mücke zu verscheuchen. "Wer noch?" Jetzt war es an Mum, die Stirn zu runzeln. "Ein Junge namens Howard. Er war groß und brünett und er hatte ganz ekelhafte Pickel im Gesicht. Er hat einen Blumenstrauß und eine Ansichtskarte für dich abgegeben." Mum machte eine Kunstpause, in der ich nach Luft schnappte. Busengrapscher-Howard war hier gewesen? Mit Blumen? "Musst du mir irgendwas erzählen, Holly?", wollte Mum mit Nachdruck wissen. Der Ton ihrer Stimme war so scharf, dass mir mulmig zumute wurde. "Es ist nur jemand von Abigails Party", tat ich die Sache schulterzuckend ab. "Er hat mich an dem Abend ziemlich belästigt. Vielleicht wollte er sich entschuldigen." Mums Augenbrauen schossen noch weiter in die Höhe, sodass sie fast unter ihrem Haaransatz verschwanden. "Belästigt?" "Mum", beschwichtigte ich sie, obwohl mir das Herz selber bis zum Hals pochte. "Er war betrunken, nichts weiter." "Ich hoffe, ich kann mich auf dich verlassen", sagte Mum beinahe streng. Ich konnte mir nicht helfen, ich musste grinsen. Es war einfach zu absurd, wie lange ich sie nicht mehr so reden gehört hatte. "Keith war auch da. Mehrmals", eröffnete sie mir dann und das Grinsen blieb mir im Halse stecken. Denn was auch immer sich da zwischen Keith und mir anbahnte, ich hatte Angst davor. "Was wollte er?", fragte ich so gleichgültig wie möglich, aber Mum konnte sich ein Schmunzeln trotzdem nicht verkneifen. "Nun", setzte sie an. "Das hat er mir natürlich nicht erzählt. Aber ich habe ihm gesagt, dass du heute wiederkommst." "Wann kommt er wieder?", fragte ich atemlos, während ich mit einer von Mums feinen Locken spielte. "Oh, davon hat er nichts gesagt. Er meinte, ich solle dir ausrichten, dass du kommen sollst, wenn du Zeit hast. Es klang danach, als hätte er etwas mit dir vor", fügte sie zögernd hinzu und mein Magen machte einen Felgaufschwung. Wie bitte? Entweder, er hatte etwas Neues von Nathan erfahren und wollte Rubys Geheimnis auf den Grund gehen, oder es ging um Matthew Smitherson. Oder... er wollte einfach so etwas mit mir unternehmen, ganz unabhängig von irgendwelchen Verfolgungsjagden. Ich spürte Mums Blick auf meinem Gesicht ruhen. "Was läuft da zwischen euch?", fragte sie mit einem Grinsen in der Stimme und mir stieg das Blut in den Kopf. "Keine Ahnung", umschiffte ich ihre Frage reichlich dümmlich. "Komm schon, Holly." Mum drückte freundschaftlich meine Schulter. "Dass du von Howard nichts willst, ist mir klar. Aber Keith ist doch eine gute Partie, meinst du nicht?" Meine Miene hellte sich auf. "Findest du echt?", fragte ich heller als beabsichtigt. "Woher willst du das denn beurteilen?" Wenn sie wüsste, dass er einer von Rubys Kiffer-Freunden war, würde sie jetzt wahrscheinlich nicht in solch hohen Tönen von ihm reden. "Na ja." Mum zuckte mit den Schultern und sah an mir vorbei ins Beet. "Er war sehr höflich und schien mir ein zuverlässiger junger Mann zu sein. Und er ist so authentisch und besonders - und gut aussehen tut er auch." Ich starrte nachdenklich auf die leichten Falten an ihrer Stirn. Meine Mutter kannte Keith überhaupt nicht, aber ich war trotzdem froh, dass er ihr gefiel. "Also", sagte Mum fordernd. "Seid ihr zusammen?" "Nein!", rief ich erschrocken, woraufhin wir beide lachen mussten. All die Barrikaden, die sich im Laufe der Zeit zwischen uns gebildet  hatten, lösten sich auf und schwirrten begleitet von unserem Lachen in den dunkelblauen Himmel davon. "Bin ich nicht", beteuerte ich, als wir uns wieder einigermaßen beruhigt hatten. "Dann sag mir Bescheid, wenn es so weit ist." Mum zwinkerte mir verschwörerisch zu, während ich von ihrem Schoß rutschte. Es war an der Zeit, reinzugehen. Arm in Arm gingen wir wieder ins Haus, und als wir vor meiner Zimmertür hielten, umarmten wir uns noch mal ganz fest. "Mum?", flüsterte ich, bevor ich die Tür öffnete. "Es ist schön, dass wir so nahtlos da weitermachen konnten, wo wir vor zwei Jahren aufgehört haben." Mum nickte, ehe sie mir einen Kuss auf die Wange schmatzte. "Finde ich auch. So, und jetzt ab ins Bett. Abigail kommt morgen, um den Gutschein einzulösen, den du ihr zum Geburtstag geschenkt hast. Nacht, mein Schatz." Ich erwiderte ihre Worte mit einem Lächeln, dann ging ich endlich auf mein Zimmer. Meine Knochen fühlten sich müde und abgenutzt an und mein rationales Denken schwankte beträchtlich. Doch als ich mich zu meinem Bett umdrehte, war dieses bereits besetzt - wie so oft in letzter Zeit. Das Wassermädchen, das dort elegant auf die Seite gestützt auf meiner Tagesdecke lag, war mittlerweile so ein vertrautes Bild, dass ich nicht einmal mehr erschrak, sondern resigniert aufstöhnte. "Was willst du denn von mir?" Das Wassermädchen ging nicht auf mich ein, sondern nickte zur Tür. "Ist ja echt harmonsich zwischen euch." Sie zuckte anzüglich mit den Augenbrauen. "Es war nicht immer so, also halt die Klappe, okay?", herrschte ich sie an. "Sind wir etwas gereizt?" Das Wassermädchen schürzte die Lippen, während sie an die andere Seite rollte, damit ich mich setzen konnte. Allerdings sah ich das gar nicht ein, deswegen verschränkte ich die Arme vor der Brust und blieb an meinem Kleiderschrank stehen. In unserem einvernehmlichen Schweigen unterzog ich sie einer Musterung - und schnappte erschrocken nach Luft. Es war das erste Mal, dass ich sie nicht in Klamotten von Ruby sah. "Ist das etwa mein Jumpsuit?", fragte ich schrill. Das Wassermädchen verdrehte die Augen. "Gott, dein Urlaub hat ja nicht gerade zu deiner Entspannung beigetragen. Was ist denn schon dabei? Der hätte dir doch eh nie im Leben gestanden und ich brauchte halt was Neues." Ich prustete ungläubig los. "Dann kauf dir halt was von deinem eigenen Geld. Es gibt Läden!" "Ich habe eben kein Geld." Das Wassermädchen zuckte gleichmütig mit den Schultern, dann erhob sie sich unendlich graziös. Das schillernde Haar rutschte in seiner perfekten Formation auf ihren Rücken zurück, als sie sich von der Bettkante schwang. "Dann verdien' dir welches", meinte ich, allerdings schon versöhnlicher. Irgendwie tat es mir auch leid, dass ich sie so angefaucht hatte - immerhin hatte ich es ihr zu verdanken, dass ich endlich wieder Spaß am Leben hatte. Da war ich ihr mehr schuldig als nur einen Jumpsuit. "Sorry", seufzte ich. "Ich hatte nur einfach einen langen Tag und bin hundemüde. Ich will doch auch nicht streiten." Das Wassermädchen durchbohrte mich mit ihren grünen Sphinxaugen, ehe sie antwortete. "Das hoffe ich." Mit den Worten streckte sie sich, sodass ihre Knochen knackten, und ging dann auf mein Fenster zu. "Wo willst du denn hin?", fragte ich verdattert. Hä? Kaum war ich wieder im Lande, lief erneut alles drunter und drüber. "Ich wollte eh nur gucken, ob du gut angekommen bist," meinte das Wassermädchen, während sie ihr rechtes Bein über das Sims schwang. "Wir sprechen morgen Abend." Sie wollte schon hinausspringen, als ich sie am Arm zurückhielt. Zaghaft zog ich sie in eine Umarmung, die sie so zu überrumpeln schien, dass sie die Luft anhielt. Dann jedoch legte sie ihre heißen Hände um meinen Nacken, sodass mir ganz warm wurde. "Wenn du wirklich Geldprobleme hast, dann... dann kannst du öfter kommen und wir gehen einkaufen", flüsterte ich. "Und ich dachte, du wüsstest, dass in deiner Welt kein Platz mehr für mich ist." Das Wassermädchen drückte mir einen salzigen Abschiedskuss auf die Lippen, ehe sie aus dem Fenster sprang und in Richtung der rauschenden Wellen verschwand. Ich blieb noch einige Zeit stehen, verblüfft, verzaubert. "Nicht mehr?", hauchte ich in die Dunkelheit, ohne eine Antwort zu bekommen.

Ich hatte absolut keine Lust mehr auf Geheimnisse.

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Ich weiß, ich habe lange nicht geupdatet und das ist auch nicht das längste Kapitel, aber ich habe so unnormal viel Stress im Moment, also nehmt mir das bitte nicht übel. :( Was denkt ihr, wie es weitergeht? :-)

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