Kapitel 8

Beim Frühstück konzentrierte ich mich darauf, das vermeintliche Glashaus so beiläufig wie möglich zu erwähnen. "Gibt es eigentlich strandabwärts noch Häuser?" Mum bedachte mich mit einem flüchtigen Blick. "Du wohnst hier seit du denken kannst, mein Liebling. Natürlich gibt es dort keine Häuser und das weißt du auch." Gedankenverloren spielte ich mit dem Plastikverschluss der Milchpackung. "Aber", druckste ich herum, "Aber eine unserer Gäste, Mrs Hatcherson, die behauptet, dort ein Haus aus Glas gesehen zu haben." Mum lachte hysterisch auf. "Unsinn!" Dad angelte sich den Salzstreuer. "Wie kommst du überhaupt darauf?" Na toll. Die Skepsis in seiner Stimme hatte mir gerade noch gefehlt. Röte stieg mir ins Gesicht. Ich hatte noch nie gut lügen können. Deshalb tat ich seine Frage mit einem einfachen Schulterzucken ab und hoffte, dass bald ein neues Thema unter das Gespräch gemischt werden würde. Und da meldete sich tatsächlich Jenson zu Wort. "Ich habe am Samstag ein Turnier", verkündete er mit vollem Mund. "Aha", erwiderte Mum vollkommen desinteressiert, während meine Gedanken wieder zu dem Wassermädchen schweiften und ich das Gespräch nur noch mit halbem Ohr verfolgte. Es gab kein Glashaus. Aber was hatte Mrs Hatcherson dann gesehen? Ein Haus konnte nun mal nicht aus dem Boden sprießen, doch die Dame mit der kupferfarbenen Igelfrisur schien mir wenig wie eine Person, die sich täuschte. Ich beschloss, das Haus selber zu suchen. Vielleicht hatte Abigail ja recht und ich brauchte wirklich nur den Strand hinablaufen, um das Wassermädchen zu finden. Schweigend nahm ich einen Schluck Milch. "... Uhr?", hörte ich Mum sagen. "Um elf", antwortete Jenson. "Was um elf?" Mein Kopf fuhr auf und sein Blick verhakte sich mit meinem. "Das Turnier am Samstag. Hörst du überhaupt zu?", wetterte Dean dazwischen. "Tut mir leid", murmelte ich. Dann sah ich Mum und Dad gespielt erwartungsvoll an. "Gehen wir hin?" "Aber natürlich", sagte Dad gewichtig nickend. Ich strahlte, doch innerlich stöhnte ich auf. Gab es irgeneinen Grund dafür, dass mein Leben gerade jetzt auf Kopf gestellt wurde? Oder anders gefragt: Warum passierte das alles gleichzeitig? Das Wassermädchen, das Geheimnis um Bethany Faistone und die Freunde von Ruby, die auf einmal wieder aufgetaucht sind. Mum bemerkte meinen Bluff. "Hast du was vor am Samstag?" Ich zuckte zusammen und riss mich gezwungenermaßen aus meinen Gedanken. "Äh, ich weiß nicht. Mr Smitherson hat mich gestern Abend gefragt, ob ich mit ihm nach Cardiff fahre", gestand ich. Auf ihren fassungslosen Blick hin fügte ich rasch hinzu:"Aber das lässt sich sicherlich verschieben." Ich gab mir einen Ruck und lächelte aufrichtig in die Runde. "Ich bin mir sicher, das lässt es sich tatsächlich", sagte Dad langsam. "Aber warum" - er zog das Wort in die Länge - "warum will Mr Smitherson mit dir nach Cardiff?" "Ach, das ist bestimmt eine rein freundschaftliche Sache. Holly darf ihn sogar schon beim Vornamen nennen", warf Dean ein. Die Härte seines sarkastischen Untertons ließ mich zusammenzucken. "Dean, Dad", sagte ich beschwichtigend. "Es geht um seine verstorbene Frau. Ihr Grab ist das einzige auf dem Friedhof, das anscheinend regelmäßig besucht wird. Matthew will herausfinden, wer das tut." Mum's Augenbrauen schossen in die Höhe. "Also irgendwie ist mir das nicht so wirklich geheuer", flüsterte sie, den Blick starr auf ihren Kaffee gerichtet. Die Gänsehaut auf ihrem Arm entging mir nicht - sie hatte Angst. Angst um mich, Angst, dass ich von meinem Trip nach Cardiff nicht zurückkehren würde, Angst, dass man Matthew nicht trauen konnte. Völlig unbegründet, wie ich fand, schließlich waren nicht alle Menschen, die Hilfe brauchten, falsche Verbrecher. Trotzdem - ich wollte nicht direkt auf's Extreme hinaus. Es musste doch noch Möglichkeiten geben, es auf andere Wege zu ermitteln. Direkt vor Ort zum Beispiel. Dennoch spürte ich, dass etwas dringender war, als Bethany's umsorgtes Grab - und zwar das Mädchen mit der roten Mähne, das nackt im Meer schwimmen ging und in einem Glashaus wohnte.

Geräuschvoll schob ich meinen Stuhl zurück, bevor ich mich erhob. "Ich gehe joggen", sagte ich und hoffte, dass sie mich nicht aufhalten würden. Mum war wieder zur Schweigenden mutiert, doch Dad räusperte sich. "Bitte nicht allzu lang. Die Suit muss hergerichtet werden. Wir bekommen Besuch aus Chelsea - irgend so ein reicher Fußballtrainer mit seiner Familie. Neerman heißen die, glaub ich -" "Ist schon gut, Dad", unterbrach ich ihn lachend. "Wann muss ich zurück sein?" Er legte grüblerisch den Kopf schief. "Neermans kommen um zwei Uhr, es wäre gut, wenn du spätestens um zwölf wieder da bist." Nickend warf ich einen kurzen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach neun; mir blieb genug Zeit. Trotzdem verließ ich die Küche im Eilschritt.

Wer weiß, was mich aufhalten würde...

*

Ich konnte mich nicht auf den heißen Wind konzentrieren, der mir ins Gesicht blies, nicht auf die Schweißperlen auf meiner Stirn, nicht auf die kitzelnden Sonnenstrahlen. Meine ganze Konzentration galt dem Meer und den Felsen am Horizont. Ob sie wusste, dass ich auf dem Weg zu ihr war? Und überhaupt. Hätte ich Abigail vorher besser Bescheid gesagt, oder war es gut, dass niemand wusste, was ich vorhatte? Ich redete mir ein, ich bräuchte mir keine Sorgen machen, doch mein Magen rumorte ungeheuer. Schließlich hatte ich Seitenstiche vom Rasen im Sand und blieb stehen, bis ich wieder zu Atem kam und der stechende Schmerz nachließ. Dann drehte ich mich um meine eigene Achse, die Muskeln angespannt, bereit, auf die kleinste Bewegung zu reagieren. Sie war hier - ich spürte es. Im einen Moment war es, als peitschte heißer Atem mein Ohr, im nächsten glaubte ich, leises, raues Lachen zu hören. Tänzelnde Schritte im Sand. Aber ich war nie schnell genug, irgendwas zu erfassen. Sie trieb ihr Unwesen mit mir und mit der Zeit wurde mir immer unwohler. Fast schon setzte ich den Gedanken, mich umzudrehen und davonzurennen in die Tat um, doch ein Funken in mir - einer, den ich zuvor nie entdeckt hatte - wollte das hier zuende bringen. Zwei Sekunden später rauschte etwas blitzschnell um meinen Kopf, so schnell, dass ich bloß was rotes vorbeifliegen sah. Weiche Haarspitzen peitschten mein entblößtes Schulterblatt, eine Stimme atmete in mein Ohr. Eiskalt lief es mir den Rücken hinunter und ich wusste nicht, ob es kalter Schweiß oder lange Nägel waren. Ich duckte mich, während ich die Arme vors Gesicht hob und die Augen zusammenkniff. So kauerte ich im Sand. Die flüsternde, hektische Stimme, die Schritte, das Rauschen, alles wurde lauter und schneller, bis es sich zu einem Strudel zischender Geräusche vermischte und so plötzlich, wie es gekommen war, wieder aufhörte. Doch die vollkommene Stille war fast noch schlimmer. Sei kein Feigling!, dachte ich mir, ehe ich mich aufrappelte. Da legte sich eine weiche, heiße Hand auf meine Schulter und ich stieß einen gellenden Schrei aus. Kurz danach tauchte ihr Gesicht vor meinem auf; das tiefe Lachen zeigte eine Reihe blendender Zähne. Vor lauter Schock bekam ich keine Luft; es waren eher schnappartige Bewegungen, die mein Mund machte. Erneut entfuhr mir ein Schrei, diesmal ein erstickter. Ihre Hand wanderte zu meinen Lippen, um den Ton zu dämpfen, das eisige Lächeln entschwand ihrem Gesicht. "Nicht schreien", zischte sie wütend. Dann warf sie ihre roten Haare nach hinten und bedachte mich mit einem prüfenden Blick. "Geht's wieder?" Ich nickte versteift, während ich mich dazu zwang, möglichst unbeeimdruckt zu wirken. Erst da fiel mir auf, dass sie wie bei unserem ersten Treffen nackt war. Ich schluckte. Warum war sie nur so unnormal? Als ich mich allmählich wieder fasste und sich meine Züge entspannten, wurde auch ihr Gesicht wieder etwas offener. Sie griff nach meinem Arm und zog mich den Strand hinauf. "Komm mit", sagte sie mit so sanfter Stimme, dass es fast schmerzte. "Es ist heiß und du bist viel gerannt", fuhr sie fort. "Du dehydrierst. Ich bringe dich zu mir nach Hause und gebe dir eine eisgekühlte Limonade. Dann können wir reden." Ich zuckte kurz zusammen, doch ich wurde schnell wieder ruhig. Lediglich mein Herz pochte schmerzhaft fest gegen meinen Brustkorb und mich beschlich das ungute Gefühl, dass sie es hören konnte. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Schließlich war ich freiewillig zu ihr aufgebrochen und hatte das Gespräch gewollt. Daher hob ich meine Mundwinkel zu einem schüchternen Lächeln. "Gerne." Und so liefen wir schweigend den Strand hinauf, durchquerten das hohe Gras der Dünen, bis wir bei den Felsen angelangt waren, die ich vorhin nur am Horizint gesehen hatte. Und mitten in diesen Felsen stand zu meinem Verblüffen ein Haus, das nur aus riesigen, glänzenden Glasfronten bestand. Ich kam gar nicht aus dem Staunen hinaus. Aber auf irgendeine Weise faszinierte es mich auch, weil ich es nie zuvor gesehen hatte. Dabei war ich noch vor wenigen Tagen, bevor das hier alles begonnen hatte, viel weitere Strecken gelaufen.

"Komm rein." Ihre klare, wenn auch raue Stimme durchbrach die Stille beinah unnormal weich. Sie hielt mir die Tür - ebenfalls verglast - mit einladener Geste auf, und wenn sie nicht nackt wäre und ein Haus besäße, das nicht auf spitzen Felsen stand, dann wäre die Situation eine ganz alltägliche gewesen. Und dann gab ich mir einen Ruck und trat schwungvoll über die gläserne Schwelle. Bereit, mich dieser Erfahrung zu stellen.

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Heyho! Es tut mir leid, dass ihr so lange warten musstet; dafür hoffe ich, dass euch das Kapitel nicht enttäuscht hat! ♥ Lieb euch ♥

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