Kapitel 6

Einmal, als der Junge, in den ich mit dreizehn heimlich verliebt gewesen war, nach Chelsea gezogen war, hatte ich die ganze Nacht am offenen Fenster gesessen, ohne Decke, obwohl es schon Herbst gewesen war, und hatte mir ein Kissen vor den Bauch gedrückt, in der Hoffnung, damit würde es mir besser gehen. Ich hatte nicht gefroren, ich hatte einfach nur dagesessen und auf das Meer hinaus gestarrt. Und Ruby hatte nichts gesagt, nichts gefragt, nicht einmal eine Decke hatte sie mir geben wollen. In dem Moment war ich ihr dafür so dankbar gewesen. Der Junge hieß Joshua Maysilee und der Schmerz über seinen Verlust war schon nach wenigen Wochen vergessen gewesen. Aber wie gesagt, damals war ich dreizehn. Mit fünfzehn sieht man die Welt mit anderen Augen. Das Meer war für mich nicht einfach nur ein wunderbarer Ort aus blauem Wasser und Wellen, es war die Flut, die meine Schwester in den Tod gezogen hatte. Trotzdem saß ich auch diese Nacht mit dem Kissen am Fenster. Den ganzen restlichen Nachmittag hatte ich Gläser gespült, Lunchpakete gemacht und die Tische im Speisesaal gedeckt. Deswegen hätte ich ja auch eigentlich müde sein müssen, doch ich fühlte mich überraschend wach. Der Wind summte mir ein Gutenachtlied, während ich mir immer wieder die Einladung durchlas. Sie war heute angekommen, oder besser gesagt, Abigail musste sie vorbeigebracht haben, als ich mit Matthew in Port Isaac gewesen war. Meine beste Freundin wurde in zwei Wochen sechzehn und geplant war eine riesige Party in ihrem Garten. Abigail liebte laute Musik, Alkohol und Feiern. Und Jungs. Aber in einem anderen Sinne als meine Schwester. Sie war einfach total verrückt und vor allem experimentierte sie wahnsinnig gern mit dem anderen Geschlecht. Selbst an Jenson hatte sie kurz rumgegraben, doch da mein Bruder so ein Eisblock war, hatte sie relativ schnell wieder aufgegeben. Im Moment war sie mit Finley Howkin zusammen, ein wahnsinnig gut aussender Kerl mit dichten, schwarzen Haaren und langen Wimpern. Er hatte Ur-Großeltern aus der Türkei, deswegen der südländische Teint. Aber das war nicht der Grund, warum ich mit einem Kloß im Bauch und meinem Kissen am Fenster saß. Es war die Party an sich. Klar, ich freute mich, die Leute wiederzusehen, die ich seit dem letzten Schultag nicht mehr gesehen hatte, aber viel mehr sorgte ich mich, dass sie sich nicht freuten. Oder, um ehrlich zu sein, dass sie mich gar nicht erst bemerkten. Ich war kein Mädchen, das auffiel, dem die Jungen pfeifend hinterhersahen. Zwar hatte ich, laut Abigail, tolle Haare und warme Augen, doch was brachten einem die warmen Augen, wenn die Leute nicht bereit waren, sie anzusehen? Ich war ausgemergelt, ich war viel zu dünn. Auch wenn Abigail so oft betonte, dass ich stolz darauf sein könnte, so schön schlank zu sein, ich mochte es nicht. Ich war nicht magersüchtig, ich hatte auch keine Bulimie, aber ich aß wenig und machte viel Sport. Ich hatte auch nicht die Körbchengröße und die Kurven, die Jungen bevorzugten, aber Abigail hatte das alles. Schöne Beine, breite Hüften, eine dennoch schlanke Taille und einen relativ großen Busen. Kein Wunder, dass die Jungs ihr förmlich zu Füßen lagen. Sie galt als eines der schönsten Mädchen der Schule und nur durch sie existierte ich wirklich. Hätte ich Abigail nicht an meiner Seite, wäre ich ein Niemand. Und das war mein Problem: Ich konnte ihr nicht zutrauen, sich den ganzen Abend mit mir zu beschäftigen. So wie ich meine beste Freundin kannte, hatte sie an die hundert Leute eingeladen, um die sie sich kümmern musste, sodass ich wahrscheinlich die meiste Zeit des Abends alleine dastand. Schon jetzt bereitete mir die Party Bauchschmerzen, denn ich wusste, dass es eine lange Nacht werden würde, in der ich mich öffnen musste, wenn ich jemanden zum tanzen haben wollte.

Seufzend rutschte ich vom Fensterbrett und zog die Gardinen zu, ehe ich unter meine Decke kroch. Die Einladung legte ich auf mein Nachtschränkchen. Der letzte Gedanke, den ich auffing, bevor ich einschlief war die Frage, wer auf dieser Party wohl auf mich warten würde. 

Doch mein Schlaf hielt nicht lange an, denn ich wurde geweckt von rauem Lachen, lauter Musik und schließlich mehrerer Stimmen, die lauthals miteinander redeten. Es mussten wohl die mysteriösen Jungen und Mädchen sein, mit denen Ruby damals davongezogen war. Da meine Versuche weiterzuschlafen erfolglos endeten, stieg ich schließlich aus dem Bett und zog mir meinen Morgenmantel über. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, dennoch konnte ich die genaue Uhreit auf meiner Armbanduhr nicht entziffern. Irgendwann nach ein Uhr auf jeden Fall. Kurzerhand öffnete ich das Fenster, zog mich auf das Sims und hopste hinaus auf den sandigen Asphalt. Meine nackten Füße schritten flink über die Platten, führten mich über die Wiese, bis ich am Strand angelangt war, wo ich einige Zeit im weichen Sand verharrte. Was tust du hier?, flüsterte mein Kopf mir zu. Diese Leute sind gefährlich. Dreh um! Doch ich drehte nicht um. Und selbst wenn ich es wollte, es war schon zu spät. "He, Kleine!", rief eine tiefe Stimme. Nach Luft schnappend drehte ich mich zur Seite. Im Dunkel der Nacht war das lodernde Lagerfeuer nur unschwer zu erkennen. Starr wie eine Statur musterte ich die, vom Feuer erleuchteten Gestalten, während ich mit mir kämpfte. Sollte ich hingehen und sie zur Rede stellen, oder lieber davonrennen und das Thema abhaken? "Komm rüber", sang eine der Mädchen und machte eine einladende Handbewegung. Ich nickte kurz und ging dann tatsächlich auf die Gruppe zu. Unmittelbar vor ihnen blieb ich stehen. "Was wollt ihr von mir?" Das Mädchen mit der melodischen Stimme lachte. Es war ein Lachen, das die ganze Welt zu umarmen schien. Ein schönes Lachen. "Setz dich zu uns." Sie warf ihre blonde Mähne zurück, ehe sie neben sich in den Sand klopfte. Der süße Duft von Orangen und Mädchenschweiß wehte zu mir rüber. "Ihr habt mich geweckt", sagte ich, ohne auf das Mädchen einzugehen. "Tut uns leid", meinte eine andere. Sie hatte dunkle Haut und Augen so schwarz und wild wie die Nacht selbst. Ihre Haare saßen wie ein Ball auf ihrem Kopf. Die drei Jungen sahen mich einfach nur an. Sie lächelten. Generell sahen sie alle nett aus, nicht wie Jugendliche, die mit Drogen dealten und ihre Freundin ins Wasser lockten, um sie zu ertränken. Aber ich wusste, dass sie wissen konnten, was ich vielleicht noch nicht wusste, also setzte ich mich neben die Blonde, die sofort ihren Arm um mich legte wie eine alte Kameradin. "Seit wann wieder?", fragte ich und deutete auf das Feuer. Einer der Jungen schaltete die Musik leiser, damit wir uns besser unterhalten konnten. "Seit heute. Wir hatten Angst", sagte die Dunkelhäutige, die unverwandt ins Feuer starrte. "Wovor?" Ich kratzte mich im Nacken. Ich dürfte nicht hier sein. "Ruby war einfach weg", flüsterte die Blonde und ihre Hand, die an meiner Taille lag, verkrampfte sich für wenige Sekunden. "Ihr wart doch mit ihr hier", schnaubte ich vorwurfsvoll. "Waren wir nicht", warf einer der Jungen, ein Braunhaariger, ein. "Wir waren mit ihr verabredet, aber sie ist nicht gekommen." Wo war sie dann? Gekränkt blickte ich zu Boden. "Ihr wisst es nicht?" "Was wissen wir nicht?", fragte wieder die Blonde und sie beugte sie weit vor, sodass ihr süßer Geruch ganz intensiv war. "Was sie ins Wasser gelockt hat", erklärte ich. Der Braunhaarige guckte mich mitleidig an. "Ruby war immer sehr risikofreudig. Sie ist oft nachts geschwommen, weißt du nicht?" "Doch klar!" Ich nickte und sah wieder auf. Mit zittrigen Fingern strich ich meine vom Schweiß verklebten Haare hinters Ohr. "Wie alt bist du noch mal?", wollte die Blonde wissen. "Fünfzehn." Sie sah mich lächelnd an. Da bemerkte ich, wie hübsch sie war. Sie war nur ganz dezent geschminkt, ihre Lippen glänzten rosa, aber ansonsten war sie einfach nur schön, von Natur aus. Sie waren alle hübsch. Auch die Jungen sahen toll aus. Ruby hatte perfekt in diese Gruppe reingepasst. Die beiden Mädchen waren schön schlank, hatten Beine bis zum Himmel und die drei Jungen alle durchtrainierte Oberkörper. Vor allem der Braunhaarige war schön. "Und ihr?", fragte ich schließlich und wandt mich von dem intensiven Grün der Augen der Blonden ab. "Wie alt wir sind?" "Ja, genau." "Also, ich bin siebzehn", sagte die Dunkelhäutige. "Wir anderen sind achtzehn", meldete sich ein dunkelblond gelockter zu Wort. "Ich sehe euch nie", hauchte ich. "Wo?" "Na, hier!" Ich machte eine Handbewegung, die das Dorf mit einbeschloss. "Wir waren schon immer Fremde", sagte die Dunkelhäutige achselzuckend. "Ihr geht auch nicht zur Schule", redete ich weiter. "Das wissen wir", lächelte die Blonde. Und der Braunhaarige fügte hinzu:"Wir sind eben gern unter uns." Und dann durchbohrten sie mich alle so mit ihren wahnsinnig freundlichen Blicken, dass mir unwohl fühlte. Im Arm der Blonden war ich  einerseits eingesperrt, andererseits geborgen. Ich verstand nicht, warum solch symphatische Menschen sich nicht zeigen konnten, wie sie überhaupt einen solch schlechten Ruf hatten bekommen können. "Ihr seid nett", stellte ich fest. Die Blonde lachte ihr sanftes Lachen und mir wurde warm ums Herz. "Du bist die Schwester unserer Freundin. Du bist eine von uns." Eine von denen. Das hörte sich toll an, eine von denen zu sein, aber wollte ich das? Egal, wie nett sie waren, ich wusste ja, was sie hier trieben. Trotzdem tat es gut, eine Zugehörigkeit zu haben, das Komische war nur, dass ich ihre Namen nicht kannte. "Willst du tanzen?", fragte die Dunkelhäutige, während sie den Kopf schief legte. Ich kann nicht tanzen, schoss es mir durch den Kopf. "Lieber nicht", murmelte ich. "Oh, du musst nicht!", rief sie lächelnd. "Du kannst auch zusehen. Wir tanzen wahnsinnig gerne." Und dann hoh sie eine Flasche an den Mund und nahm zwei, drei große Schlucke, ehe sie sie zurück in den Sand steckte. Der Arm um meine Taille entfernte sich. "Aber es wäre toll, wenn du auch tanzen würdest." Die Blonde spielte mit meinen Haaren. "Ich schaue zu", sagte ich, während ich die Knie anzog. Der letzte Junge, einer mir dunkelbraunen Haaren, drehte die Musik wieder lauter. Gegen meine Erwartungen erfüllten Trommeln aller Art die Nachtluft und nicht dröhnende Bässe. Trommeln und noch irgendwas, das ich nicht erkennen konnte. Es klang wie Indianermusik. Augenblicklich begannen die Mädchen, ihre Hüften zu kreisen, als wären sie aus Gummi. Ihre Arme zuckten durch die Luft, die Füße tänzelten anmutig durch den Sand, immer wieder um das Feuer. Blitzartig tauchten Erinnerungen in mir auf. Erinnerungen an Ruby. Ja klar, sie hatte genauso getanzt. Und ohne, dass ich es wollte, fühlte ich mich noch geborgener als zuvor. Immer wieder zogen sie um das Feuer, selbst die Jungen, und es sah nicht albern aus, es war schön. Allmählich begannen die Trommelschläge, den Rhtymus meiner Herzschläge zu bestimmen. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte mitgetanzt, doch ich hätte mich nur lächerlich gemacht. Stattdessen räusperte ich mich schüchtern. "Ich möchte heim", piepste ich und schämte mich für mein mickriges Auftreten. "Bis dann", hauchte die Dunkelhäutige und tätschelte liebevoll meinen Kopf. Die Blonde umarmte mich stürmisch. "Hoffentlich kommst du bald wieder!", sang ihre Stimme und ich wusste, dass es geschehen würde. Ich mochte die fünf auf Anhieb. "Ciao", grinste der Braunhaarige, ehe er sich mit der Hand durch die Haare fuhr. "War echt toll mit dir." Der Blond Gelockte hob die Hand zum Gruß, während der Letzte mir zum Abschied freundschaftlich in die Seite knuffte. "Tschüss", sagte ich schließlich. Dann drehte ich mich um und eilte nach Hause. "Irgendetwas hat sie, was sie auch hatte", hörte ich die Blonde noch singen, bevor ich durch mein Fenster wieder ins Zimmer stieg. Die Frage war nur, von welcher Ähnlichkeit sie hier sprach.

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Hi Leute. ♥ Ich weiß nicht so recht, was ich von diesem Kapitel halten soll, also müsst ihr es mir sagen. ♥ War es gut; war es schlecht? :D Schreibt es in die Kommis! ^^ Und schöne Karnevalstage noch! ★

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