Kapitel 41
Das Meerwasser schlug schäumend und mit immenser Wucht vor die Felsen, die sich schroff aus dem Dunkel erhoben. Wolkenfetzten hatten sich vor den Mond geschoben und es war so kalt, dass mein Atem Wölkchen schlug. Meine Zähne klapperten hörbar aneinander. „Keith..", murmelte ich. Einerseits wollte ich nicht, dass wir uns trennten, andererseits sehnte ich mich nach meinem Bett, meiner Decke, einer heißen Tasse Tee. Aber ich hatte mich dazu entschieden, hier in Rubys geheimer Höhle nach Hinweisen auf ihren Tod zu suchen. Es fühlte sich schrecklich an, meine tote Schwester zu hintergehen, so als würde ich ihr das letzte bisschen Privatleben nehmen. Oder sollte ich Privattod sagen? Na ja, wie auch immer. Dieser Ort war nicht umsonst geheim für sie gewesen. Und jetzt im Dunkeln, nur ein paar Fuß von der wilden Gischt entfernt, in der unser Boot schaukelte, mit tropfenden Decken und modriger Luft, konnte ich auch nachvollziehen, warum sie ihre Geheimnisse hier versteckt hatte: Kein Mensch, der auch nur einigermaßen bei Verstand war, war so lebensmüde, hierherzukommen. Genau das war der Knackpunkt - Keith und ich waren nicht bei Verstand. Ich seit Neuestem nicht mehr und er war es anscheinend nie gewesen. Was ihn für mich umso interessanter machte, denn das unterschied ihn von normalen Jungs wie Finley Howkin.
Seine Stirn war konzentriert in Falten gelegt, während er mit dem Finger über die vergilbten, in Stoff eingebundenen Buchrücken strich, die sich an einer einigermaßen geraden Höhlenwand stapelten. Ich kauerte hinter ihm auf einem dreckigen Fetzen Flickenteppich. Es gab auch Gläser, eine Box mit Stiften, Alkohol, der seit Monaten abgelaufen war. Wie es aussah, hatte Ruby eine Menge Zeit hier verbracht. Es tat weh, so vieles über ihr Leben zu erfahren, so als würde ich sie jetzt erst richtig kennenlernen. Die Liebe zu Nathan, die Höhle... Was hatte ich sonst noch nie von ihr erfahren? Ich ignorierte die Gedanken und sah Keith über die Schulter. „Was sind das für Bücher?" Er zuckte zusammen, als erwache er aus einer Trance, dann zog er willkürlich ein Buch aus der Reihe. Schweigend blätterte er durch die Seiten, verzog das Gesicht. „Märchen", sagte er verwirrt. Ich runzelte die Stirn. Märchen? Ich nahm ihm das Buch aus der Hand und während er ein weiteres Exemplar entstaubte, sah ich mir dieses genauer an. Es war in weichen Stoff eingebunden, Samt vielleicht, hatte schon einiges mitmachen müssen - Eselsohren, eingekritzelte Worte, eingerissene Seiten. Ich schlug die erste Seite auf und überflog die anfänglichen Zeilen, in denen von Neptun und irgendwelchen anderen Meeresgöttern mit Dreizacken die Rede war. „Das sind nicht irgendwelche Märchen", sagte ich zu Keith und schlug das Buch wieder zu. Es war schwer in meine Hand. „Das sind Legenden über die Ozeane." Irritiert sah er von dem Buch auf, das in seinem Schoß lag. „Wozu hat sie die wohl gebraucht?" Das war offenbar eine rein rhetorische Frage, denn keiner von uns konnte sie auch nur ansatzweise beantworten. Zu gern hätte ich gesagt ‚Ach, ich kenne doch meine Schwester', aber das war leider nicht der Fall. Wie es aussah, hatte Ruby mehrere Persönlichkeiten gehabt. Seufzend stellte ich mein Buch zurück und fragte Keith: „Was hast du für eins?" „Tagebuch von 2010. Da war sie zwölf, nicht wahr?" Als er den Kopf in meine Richtung drehte, waren wir uns so nah, dass sein Atem mich streifte. Ich starrte in seine grauen Augen, die dunkelbraunen, unordentlichen Haare und vergaß fast, weswegen wir hier waren. Aber dann riss ich ihm das Tagebuch aus der Hand und klappte den Deckel zu. „Das geht zu weit", sagte ich, vielleicht eine Spur zu energisch, denn Keith hob abwehrend die Hände. Dann wandte er sich von den Büchern ab und tastete sich weiter in die Höhle hinein. Meine Entschlossenheit von eben hatte sich in eine feine, elektrisierende Angst verwandelt. Vielleicht hatten wir das Ganze überstürzt. Viellicht hätten wir bei Tageslicht herkommen sollen, wenn die zitternden Schatten der Felsen nicht aussahen wie tanzende Geschöpfe der Nacht. Das hier war zu groß, zu bedeutend für mich. Ich hatte mich nicht darauf vorbereiten können und jetzt traf mich die Bedeutsamkeit dieser Höhle mit voller Wucht. In diesem Moment schien mir Ruby so nah, als säße sie tatsächlich neben mir. Ich konnte ihr raues, spöttisches Lachen hören, den Alkohol aus ihrem Atem riechen. In den Schatten an der Wand sah ich sie tanzen und an der umgedrehten Bananenkiste, die als Tisch fungierte, saß sie und schrieb in ihr Tagebuch. Die ganze Höhle war erfüllt mit ihrer Anwesenheit. Und da bemerkte ich, wieviel Macht Ruby über mich hatte. Noch immer hatte sie Einfluss auf mein Leben. Sie war tot, aber ihre Geheimnisse hatten bis heute weitergelebt. Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass sie auch bis in alle Ewigkeiten weiterleben sollten, denn wenn ich sie heute rausfand, würden sie mich nicht mehr kümmern. Ich würde mit Ruby abschließen und sie womöglich vergessen. Dann hätte ich meinen Frieden, aber die Vorstellung, dass der Mensch, der mir einst am nahesten gestanden hatte, in zwanzig Jahren vielleicht nur noch eine verblasste Erinnerung war, machte meine Brust ganz schwer. Ich wusste, dass ich alles herausfinden musste, dass daran kein Weg vorbei führte. Aber in diesem Moment wünschte ich mir einfach warme Arme, in die ich mich flüchten konnte, um diesen Geheimnissen zu entgehen.
Als ein eisiger Wind durch die Öffnung heulte, fröstelte ich. „Keith, mir ist kalt. Vielleicht sollten wir das bei Tageslicht noch mal angehen." Auf einmal war mir unbehaglich zumute - als wären wir nicht die einzigen in dieser Höhle. Aber das konnte ich nicht aussprechen, denn dann wäre es um mich geschehen. Keith sah mich an und als er merkte, dass ich tatsächlich zitterte, zog er sich den grauen Pulli über den Kopf, der wenig später in meinen Händen landete. Jetzt trug er nur noch ein T-Shirt, aber das schien ihn nicht zu stören. Und weil mir in der kurzen Latzhose und dem Top wirklich kalt war, zog ich ihn schließlich an. Der Pulli war etwas zu groß, aber herrlich vorgewärmt von Keith und roch nach etwas frischem, was unmöglich Waschpulver sein konnte. Mein Zittern linderte er jedoch in keinster Weise. Es lag tatsächlich an den unsichtbaren Augen, von denen ich mich beobachtet fühlte. Keith hatte inzwischen eine Taschenlampe gefunden und leuchtet in meine Richtung, sodass ich die Augen zukneifen musste. „Lass das!" Er kicherte vergnügt. „Du zitterst ja immer noch. Reicht der Pulli etwa nicht?" „Das ist nicht witzig", gab ich zurück und wischte mir die Haare aus der Stirn. Die Taschenlampe lag nun auf dem Boden, sodass sie nicht weiter blendete. Von Unbehagen beschlichen kroch ich über den unebenen Boden zu Keith, der mich mit schief gelegtem Kopf musterte. „Was ist los, Schätzchen?" Der Kosename ging mir ein bisschen gegen den Strich, aber jetzt hatte ich andere Sorgen. „Hier ist irgendjemand." Ich sah mich im schwachen Licht der Taschenlampe um, wobei ich jedoch niemanden entdeckte. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass hier irgendwer - oder irgendwas - anwesend war. Ich konnte mich nicht konzentrieren, wenn diese Augen auf mir ruhten und jetzt war ich mir ganz sicher, dass das hier keine gute Idee gewesen war. Warum hatte ich nicht auf ihn gehört? Dann könnte ich jetzt noch mal eine Nacht darüber schlafen, bevor ich das kleine Eigenheim meiner Schwester betrat. Der Ort, an dem sie wirklich sie selbst hatte sein können.
Keith nahm mich lächelnd in den Arm. „Keine Angst, kleine Holly. Wir sind allein." Ob das jetzt so unglaublich beruhigend war, war dahingestellt, aber für den Moment reichte es, dass er mich hielt. So fühlte ich mich sicherer. Als ich mich nach ein paar Minuten von Keith löste, schüttelte er schmunzelnd den Kopf. „Was?", fragte ich. Er lächelte leise, während er sanft mein Gesicht berührte, meine Wange, meine Augenbrauen, meine Lippen. Dort verharrten seine Finger und sein Blick wurde nachdenklicher. Ich verlor mich in seinen weichen Zügen, die so wenig Härte aufwiesen. Alles ging nahtlos und geschwungen ineinander über: Die Nase in die Stirn, die Wangenknochen in die Seiten seines Gesichtes. Nichts stand hervor, alles war so eben und... vollkommen. „Was starrst du mich so an?", fragte Keith, jetzt wieder lächelnd. Mir stieg die Röte in die Wangen und ich senkte schnell den Blick. Eine weitere Windbö ließ mich auffahren, aber Keith wendete den Blick nicht von mir ab. „Jetzt starrst du aber", sagte ich zu meiner Verteidigung; er lachte leise. „Weil ich nicht anders kann." An dieser Stelle hob ich den Blick wieder, um seine Miene zu deuten. Sie war weich, entspannt, zu einem schiefen Lächeln verzogen. Er spielte mit den feinen Härchen an meiner Stirn. „Dich muss man einfach ansehen, Holly", flüsterte er leise und zauberte mir damit ein Zucken in die Mundwinkel. Ich wandte den Blick ab, aber das war untragbar, deswegen sah ich ihn doch wieder an, zu schüchtern, um eine Frage zu stellen. „Warum?" Meine Stimme war belegt. Keith zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Du bist so süß." Wumm - und mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich benetzte meine Lippen mit Feuchtigkeit und blinzelte. „Warum?", fragte ich wieder. Wie bescheuert war ich eigentlich? „Das sollte ich dich fragen." Keith lachte leise, während er den Kopf neigte. War sein Gesicht die ganze Zeit schon so nah gewesen? Ich war definitiv überfordert. Was sollte ich denn nun sagen? Er ließ die Hand, die meinen Mund berührte nun zur linken Wange wandern und legte die andere an die rechte, dann schaute er mir schmunzelnd in die Augen. „Beunruhige ich dich? Dein Herz wummert so." Ich kicherte nervös. „Etwas." Okay, das war die Untertreibung des Tages - etwas? Der Junge trieb mich verdammt noch mal in den Wahnsinn! „Keine Angst", flüsterte Keith, dessen Blick immer wieder von meinen Augen zu meinen Lippen zu rutschen schien. Und irgendwann machte er sich gar nicht mehr die Mühe, aufzusehen. „Du brauchst gar nicht viel zu tun", murmelte er, aber nicht mehr humorvoll, sondern sehnsüchtig. „Das passiert einem bei dir irgendwie ganz von selbst. Man ist in deiner Nähe und will dich nur noch..." An der Stelle brach er ab. Was?, wollte ich sagen, aber da hatte er die winzige Lücke zwischen unseren Lippen schon verschlossen und die Frage beantwortete sich von selbst. Keiths Kuss war eine winzige, zarte, dahingehauchte Berührung, aber was sie in mir auslöste, war unbeschreiblich. In meinem Innern explodierte eine Bombe der Gefühle, die alles andere in den Hintergrund rücken ließ. Ein Laut entfuhr meinen Lippen, halb Überraschung, halb Erleichterung. Ich verstand die Welt nicht mehr. Aber bevor ich mich daran gewöhnen konnte, hatte Keith sich schon wieder von mir gelöst. Seine Hände lagen immer noch an meinen Wangen und er sah so aus, als könne er sich kaum beherrschen, aber er wollte mich wohl nicht überfordern. Jedenfalls sah er mich besorgt an, was ihn noch... besser machte. Mir fiel kein Wort ein, mit dem ich es hätte beschreiben können. Aber ich konnte mir nicht helfen, er hatte etwas in mit ausgelöst, das sich nicht stoppen ließ. Diesmal war ich es, die ihre Lippen auf seine presste und zwar alles andere als zart und dahingehaucht. Keith schien das nichts auszumachen, im Gegenteil: Er seufzte selig in den Kuss hinein. Auf einmal musste ich ihm so nahe sein, wie es nur irgend ging. So fand ich mich wenige Sekunden später auf seinem Schoß wieder und seine Hände hielten nicht länger mein Gesicht, sondern waren an meine Hüfte gewandert, wo sie sich unter den Pulli schoben. Haut auf Haut. Ohne großes Zutun fanden meine Hände an seinen Nacken, wo sie liegen blieben. Aber irgendwann hatte eine von ihnen wohl Lust, Keiths Haare zu zerwühlen, denn sie wanderte hinauf in seinen dichten Schopf. Keith lächelte gegen meine Lippen, aber dann löste er sich plötzlich. „Okay", schnaufte er, ohne seine Hände zurückzunehmen. „Wir vergessen das heute mit den Büchern. Aber irgendwann kommen wir zurück und bringen unsere Mission zuende." „Welche Mission?", fragte ich lächelnd und spielte mit seinen Wellen. Jetzt lächelte auch er - wir hatten einander verstanden. Diese Nacht gehörte uns, alles andere war egal. Zumindest in dem Moment, in dem seine Lippen wieder auf meinen lagen - denn an der Stelle verabschiedete sich mein rationales Denken.
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... Und so nahm alles seine Wendung... :-) Dachtet ihr wirklich, jetzt würde ich alles lüften? Wer von euch hat damit gerechnet, dass Holly kalte Füße bekommt, wenn sie erst mal da ist? (Ich meine, wir alle kennen ja die kleine, stürmische Holly) und wie fandet ihr den Kuss? Wie wird sich das Verhältnis der beiden nun entwickeln? :-)
Eine Menge Fragen - und ich warte auf eure Antworten!
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