Kapitel 36
Rasend schnell ratterte unser Zug durch die Landschaft. Es wurde hügeliger, ländlicher, zwischendurch passierten wir ein Dorf. Ich war noch immer angeschlagen von meinem Albtraum letzte Nacht und musste mich regelrecht zusammenreißen, nicht abergläubisch zu werden und darin irgendwelche Zeichen zu sehen. Es war ja wohl normal, wenn sich mein Gehirn nach all meinen Traumata so einen Mist zusammensponn. Seufzend griff ich nach der Tüte Trockenobst auf Jensons Schoß. Meine Brüder redeten die ganze Zeit schon über nichts anderes als über die Leute, die sie zu dem großen Cricket-Spiel am Samstag einladen wollten. Wir hatten in Gloucestershire ein paar alte Freunde aus Kindheitstagen, die wir an unserem ersten Urlaub bei Grandma und Grandpa auf dem Land kennengelernt hatten und zu denen wir noch immer Kontakt pflegten. Die Liste mit den Namen, die Dean in den Händen hielt, war jedenfalls schon ellenlang. Konnte man so viele Menschen überhaupt in einem Cricket-Spiel unterbringen? Ich hatte keine Ahnung von diesem Sport und würde auch viel eher als Handtuchträger dienen als mit den anderen über den Rasen zu fetzen.
Ich ließ die trockene Apfelscheibe, die ich aus der Tüte gefischt hatte, in meinem Mund verschwinden und widmete meine Gedanken Abigail. Sie würde ausrasten, wenn sie im Lauf der Woche im Hotel aufkreuzen und erfahren würde, dass ihre beste Freundin einen Mittwoch-bis-Mittwoch-Urlaub bei ihren Großeltern machte. Ich hätte ihr ja auch Bescheid gegeben, hätte ich nur mein Handy gehabt. Gut, ich hätte natürlich auch das Haustelefon benutzen können, aber trotzdem. Es ging um's Prinzip. Ich musste mich daran erinnern, bei Zeiten ein neues Handy vom Wassermädchen zu verlangen, nachdem es meines ins Meer geschleudert hatte.
Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück. Schon bald war ich in einen traumlosen, oberflächlichen Schlaf abgedriftet, und als Dean mich geraume Zeit später wieder aufweckte, wusste ich weder, wo ich war, noch, warum wir in einem Zug saßen. Aber dann fiel es mir wieder ein und ich hätte am liebsten weitergeschlafen. Ein Blick aus dem Fenster, wo der schmucke, alte Bahnhof der Ortschaft vor mir lag, zeigte mir jedoch, dass wir angekommen waren und aussteigen mussten. Während ich also meinen Koffer zur Tür hievte, bereitete ich mich mental schon mal auf Grandma Catherines feuchte Küsse und ihren Busen vor, mit dem sie mich halb erdrücken würde. Unsere Großeltern standen direkt vor der Tür, aus der wir stiegen, nahmen uns in die Arme und sagten uns, wie sehr wir doch gewachsen waren, wie Grannys das eben tun, wenn sie ihre Enkel wiedersehen. Dabei war ich mir sicher, dass Jenson der einzige war, bei dem größenmäßig noch etwas passierte, denn Dean mit seinen zwanzig Jahren wuchs ganz gewiss nicht mehr und ich tat das auch nicht - leider. Aber ich lächelte bloß und ließ mir von Grandma erzählen, ích hätte ein hübsches Gesicht bekommen - danke für diese nette Lüge.
Das Auto der zwei stand auf dem zerlöcherten, alten Parkplatz neben den Schranken, und die Sonne schien so stark, dass ich die Augen die ganze Zeit zukneifen musste, um mich vor einer absoluten Erblindung durch Verblenden zu retten. Schließlich hievten meine Brüder unser Gepäck in den uralten Mercedes, und während ich einstieg, betete ich inständig, das Auto möge nicht unter mir einbrechen. Im Innern der Karre roch es nach Grandmas Hustenbonbons, nach gewaschenem Hund und nach Land. Ich konnte diesen Geruch nicht beschreiben, aber ich brachte ihn automatisch mit Sommerurlauben bei unseren Großeltern in Verbindung. Grandpa stellte das Radio an, ehe er losfuhr. Es lief ein alter Song von Robbie Williams, der genau dann auf der Abschlussparty der Grundschule lief, als Abigail ihren ersten Kuss bekommen hatte. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, immerhin stand ich direkt neben den zweien. Der Junge hieß Elijah Jackson, hatte raspelkurzes, sonnen- und chlorgebleichtes Haar gehabt und beim Sprechen nach Pfefferminzbonbons gerochen. Am Tag der Abschlussfeier hatten wir alle einen Wunsch auf einen Zettel geschrieben, ihn an einen weißen Luftballon geknotet und bei 'drei' alle gemeinsam losgelassen. Ich weiß noch genau, wie Abigail und ich darüber gegrübelt hatten, welchen von unseren kostbaren Wünschen wir auf diesen Zettel verschwenden wollten, und während sie schließlich aufgeschrieben hatte, dass sie endlich geküsst werden wollte, hatte ich hoffnungslos auf ein leeres Blatt gestarrt. Kurz bevor die Zeit für das Aufschreiben abgelaufen war, kritzelte ich in Grundschülerschrift auf, dass ich ein Abenteuer erleben wollte. Tja, und dann waren beide Wünsche in Erfüllung gegangen: Als wir nämlich auf dem Schulhof gestanden und unseren weißen Luftballon in die Höhe gehalten hatten, war urplötzlich Elijah neben Abigail aufgetaucht und hatte ganz unverblümt grinsend nach ihrer Hand gegriffen. Die beiden hatten sich über Wochen heimlich Briefchen geschrieben - und das im Unterricht, wie unartig - aber irgendwie war nie etwas aus ihnen geworden. Aber genau in dem Moment, in dem unsere Lehrerin den Startschuss gegeben hatte, beugte Elijah sich vor und drückte meiner besten Freundin einen Kuss auf die Lippen. Ganz kurz nur, aber immerhin war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen, schon bevor er wirklich abgeschickt worden war. Jedenfalls brach ich in Tränen aus und lief zu meiner Mommy, um mich darüber zu beschweren, dass Abigail mal wieder so ein verdammtes Glück gehabt hatte und dass ich meinen Luftballon wiederhaben wollte. Ruby hatte neben meiner Mutter gestanden, gelangweilt auf ihr winziges Handy geguckt und Kaugummiblasen gemacht. Als sie mich weinen sah, verdrehte sie die Augen und meinte: "Jetzt heul' doch nicht gleich rum, nur weil dein Wunsch noch nicht in Erfüllung gegangen ist. Wer zuletzt lacht, lacht am besten." Darauf war auch Mum nichts klugeres eingefallen, denn sie wiegte bloß den Kopf hin und her. Dann hatte Ruby eine SMS bekommen und hatte Hals über Kopf meine Abschlussparty verlassen. Abigail hatte mir später erzählt - um mich zu trösten, fürchte ich - dass Elijahs Kuss ungefähr so schnell wieder vorbei war, dass sie gar nichts gemerkt hatte, aber trotzdem für den Rest des Tages Pfefferminzgeschmack auf den Lippen behielt. Aber in einer Sache hatte Ruby recht gehabt: Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Und wie ich lachte! Das Abenteuer auf meinem Wunschzettel hatte sich zwar deutlich verspätet, aber es war eingetreten.
"Wir sind da." Jenson stieß mir unsanft in die Rippen, als er über mich zur Tür kletterte, als sei er auf der Flucht. "Kein Thema", murmelte ich grimmig, während ich die schmerzende Stelle rieb. Das würde einen Bluterguss geben, vielen Dank, Bruderherz. Mit stetig sinkender Laune stieg ich ebenfalls aus dem Auto - und lag direkt in den Armen meiner Cousine Zoey. Ihr bronzefarbenes Haar roch wunderbar nach Apfelshampoo und Blumen, ihr Lachen war laut wie immer. Zoey war ein Jahr älter als ich und ein richtiges Landei. Sie wohnte nicht weit von hier, trug im Sommer ständig Strohhüte und Latzhosen und hatte einen bemerkenswerten grünen Daumen. Aber als wir uns zur Begrüßung anlächelten, erinnerten mich ihre blendend weißen Zähne an die Zoey aus meinem Traum, die mich umbringen wollte und schließlich selber von Ruby erdolcht wurde. Ich wich zurück. Dann umarmte mich auch die hibbelige, dreizehnjährige Carol, die direkt neben Zoey stand. Sie war ein bisschen pummelig, trug ihr dunklebraunes Haar in Schleifenzöpfchen und war selbst noch einen halben Kopf kleiner als ich. Schließlich begrüßte ich auch Daniel, Carols sechzehnjährigen Bruder und meinen Cousin. Er war zwar schlanker als seine Schwester, aber auch verhältnismäßig klein. Seine unordentlichen, ungekämmten dunklen Haare erinnerten mich unwillkürlich an Keith. Ich schluckte. "Schön, euch zu sehen." "Find ich auch." Zoey hakte sich strahlend bei mir unter, um mich in den großen, hügeligen Garten zu führen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass ich noch auspacken musste. Aber das konnte auch warten. Ich genoss die Zeit mit meiner Cousine auf Anhieb, legte den Kopf in den Nacken und atmete die herrliche Landluft ein. Ein Zitronenfalter flatterte ganz knapp an meiner Nase vorbei, während die Schafe, die hinter dem morschen Weidezaun standen, nur doof mähten. "Schnauze!", rief Zoey, aber sie lachte. Ich lachte mit. Wir liefen über den kahl gemähten Rasen, vorbei am Schuppen und dem Gemüsebeet, machten einen Bogen um den Misthaufen, wo die Fliegen nur so summten, und gingen schließlich zu dem kleinen Tannenwäldchen, das zum Grundstück gehörte. Dort setzten wir uns einer stummen Absprache folgend auf die beiden Reifen-Schaukeln. Hinter uns hämmerte ein Specht eifrig in einen Stamm, aber das störte mich nicht, so lange ich einfach nur... sein konnte. Erst jetzt fiel mir auf, wie wenig Zeit ich in den letzten Wochen für mich selbst gehabt hatte. Eigentlich nie. Ich hatte keine Minute mehr gehabt, in der ich mir sicher sein konnte, ungestört zu sein, denn ständig war irgendjemand da gewesen: Abigail, meine Brüder, die fünf Freunde und nicht zu vergessen das Wassermädchen. Ich seufzte sehnsüchtig. Wie sehr ich diese Auszeit brauchte, wurde mir erst jetzt richtig bewusst. "Wow", meinte Zoey irgendwann. "Du siehst irgendwie... fertig aus." Ihre smaragdgrünen Augen musterten mich mitfühlend. Ich war mir immer sicher gewesen, dass da die Ähnlichkeit mit Ruby bestand. Dass Ruby ihr Aussehen von Zoeys Seite der Familie gehabt hatte - helle Haut, schlanke, hochgewachsene Figur, rotes, störrisches Haar und grüne Augen. Aber jetzt, wo ich wusste, dass Ruby gar nicht zur Familie gehörte, fiel mir auf, dass die beiden überhaupt keine Ähnlichkeit hatten. Rubys Blick war beißend gewesen, igendwie giftig und ihr Auftreten war stets herrisch, aber Zoeys Züge hatten etwas warmes, einladendes. Sie erweckte in mir sofort tiefstes Vertrauen, das dafür sorgte, dass wir nahtlos dort ansetzen konnten, wo wir aufgehört hatten, auch wenn ein Jahr dazwischen lag.
"Ich hatte viel Stress in letzter Zeit", beantwortete ich ihre unausgesprochene Frage reichlich spät. Sie lachte kurz auf. "Haben deine Eltern dich auch zum Lernen verdonnert? Ging jedenfalls mir so. Mathe. Total ätzend. Ich hatte die ganzen Ferien jeden Montag von zwei bis vier Nachhilfe, ich schaffe das nächste Jahr sonst nicht." Meine Cousine lehnte ihren Kopf an das dicke Tau der Schaukel und hörte auf, hin und her zu schwingen. Ich lauschte in den Wald hinein. "Nein, das ist es nicht. Ich hatte einfach... Stress." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. "Du weißt schon, wenn im Hotel Hochsaison ist, haben wir alle keine Ruhe mehr." "Ach ja, ich vergaß." Zoey nickte. "Aber in der Hinsicht beneide ich dich echt. Ich würde so gerne am Meer wohnen. Und dann auch noch in Top-Strandlage..." Ihr Gesichtsausdruck bekam etwas träumerisches und ich lächelte in mich hinein. "Da hast du natürlich auch wieder recht." Wir plauderten noch eine Weile über dies und das, bis Carol mit fliegenden Zöpfen über die Wiese gerannt kam. Neben ihr wetzte der Labrador Richie über den Rasen, schlug Haken und bellte fröhlich. "Ach, Richie", seufzte ich selig, während ich von der Reifen-Schaukel sprang, um ihn zwischen den Ohren zu kraulen. "Was hab ich dich vermisst." Richie hatte mich anscheinend auch vermisst, denn kaum hatte ich mich hingehockt, schleckte er mir mit rauer Zunge quer über's Gesicht. Zoey brach in schallendes Gelächter aus und Carol sprang aufgeregt auf und ab, während sie immer wieder "Aus, Richie!" rief. Aber der Hund hörte nicht. Ich stand schnell wieder auf, wischte mir mit dem Ärmel über's Gesicht und fiel in Zoeys Gelächter mit ein. Ich hatte tatsächlich ganz vergessen, wie wunderbar das Leben sein konnte.
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Was meint ihr, kann Holly in der nächsten Woche entspannen? Eure Meinung interessiert mich. :-)
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