Kapitel 33

Augenblicklich begannen meine Zähne aufeinanderzuklappern. Das Wasser um mich herum war eine einzige, durchdringend schwarze Masse, die bis in die Unendlichkeit wogte. Die Nacht war so finster, dass ich nicht einmal erkennen konnte, wo der Himmel anfing. Die wenigen Sterne und die dünne Mondsichel spendeten nur ein tröstliches Licht. Keuchend drückte ich die Puppe von mir weg und wollte auf's Ufer zuschwimmen, doch konnte ich nicht. Meine Gliedmaßen waren schwer wie Blei und bewegten sich nicht von der Stelle. Mein Herz raste, während das Blut in meinen Ohren nur so rauschte. Was hatte ich nur getan? Ich nahm alle meine Kräfte zusammen, um Wasser zu treten. Genau in dem Moment spürte ich die Anwesenheit eines Menschen und hielt inne. Ein Blick ruhte in meinem Nacken, eiskalt und doch durchbohrend. Ich zwang mich, mich langsam umzudrehen.

Als ich das Wassermädchen erblickte, hätte ich erleichtert sein müssen, aber da war nichts als Panik. Im Wasser war sie daheim, unberechenbar. An Land wiegte ich mich in Sicherheit, aber das hier war ihre Welt. Ich war dem nicht gewachsen. Dass sie Rubys alten Bikini trug, war da eher das kleinste Problem. Mit einem tückischen Grinsen schwamm sie auf mich zu - mit unnatürlicher Anmut. Mir stockte der Atem. "Holly", säuselte sie, wobei sie meinen Namen in die Länge zog. Mir wurde eiskalt. "Es ist erstaunlich, zu was der Körper in Extremfällen fähig ist, nicht wahr? Es fasziniert mich immer wieder." Ich schwamm zwei Züge zurück. "Du lebst", sagte ich trocken. Sie kicherte. "Natürlich. Aber das war nicht das Thema." Das Wassermädchen legte den Kopf schief, um mich mit ihrem giftgrünen Blick zu bannen. Ich schaute schwer schluckend zur Seite; die Situation war absurd. Wo auch immer mein  Wassermädchen war, hier war es nicht. Die Fremde vor mir machte mir Angst. "Was war los?", fragte ich trotzdem, denn ich war einfach zu neugierig. Das Wassermädchen ließ ihre Finger durch die seidenweichen Wellen gleiten. Sie musste nicht unentwegt mit den Beinen strampeln, so wie ich, um oben zu bleiben. Sie keuchte auch nicht und schluckte kein Wasser. Es war, als schwebe sie. Als trügen die Wellen sie durch den Ozean. Ich schluckte erneut. "Es war nichts", sagte sie und schürzte die Lippen. "Aber -" "Holly!" Ihre Stimme durchbrach auf gespenstische Art und Weise die Harmonie der Nacht. In meinen Ohren war es wie ein Kreischen, aber das Wassermädchen hatte lediglich gezischt. "Es reicht." Sie setzte sich wieder in Bewegung, um in immer kleiner werdenden Kreisen um mich herumzukraulen. Die Puppe trieb schaukelnd davon und zog sich somit aus der Schuld. Ich stand alleine da. Welche Ironie, wenn man bedachte, dass ich nicht einmal stehen konnte.

"Hattest du nicht gesagt, du hättest eine Heidenangst vor dem Wasser? Oder warte, dein Wortlaut war anders. Scheißangst." Ich nickte zögerlich. Was sollte das werden? "Das hast du tatsächlich gesagt, oder?", sagte das Wassermädchen, ehe sie direkt vor mir anhielt und mich anstarrte. Der metallene Geruch, der von ihr ausging, war hier im Wasser beinahe unerträglich, weswegen ich die Luft anhielt. "Ja, das habe ich gesagt", fiepte ich dann in einem Atemzug. Mittlerweile war klar, dass sie für die Puppe verantwortlich gewesen war. Wer sonst war so gerissen, dass er mich auf solch folternde Art und Weise austricksen wollte? "Und nun bist du hier", säuselte das Wassermädchen mit einer Geste, die das Meer, sich und mich mit einbeschloss. Wieder brachte ich nur ein Nicken zustande. "Was hat dich nur dazu angetrieben?", wollte das Wassermädchen wissen. "Normalerweise brauchen die Wellen deine Füße doch nur berühren und du schlotterst vor Angst." Sie zog die Augenbraue in die Höhe, fast so, als sei sie ehrlich an meiner Antwort imteressiert und nicht bloß darauf aus, mich einzuschüchtern. Sie musste offensichtlich an Schizophrenie leiden. "Ich habe den Jungen schreien hören." Ich schluckte schwer, als ich auf die Puppe deuten wollte und diese verschwunden war. "Ich bin ins Wasser, um ihm zu helfen. Ich konnte doch nicht an meine Angst denken, wenn jemand am Ertrinken war!" Fast hätte ich an ihren Schultern gerüttelt, praktisch als Untermalung meiner Worte, aber ihr eisiger Blick hielt mich davon ab. "Wie leicht du doch zu durchschauen bist." Sie schüttelte amüsiert den Kopf. "Soll ich ihn ertrinken lassen, oder was?", brauste ich. "Schsch", machte das Wassermädchen und lächelte dünn. "Nun reg' dich doch nicht so auf. Ich wusste, ich würde es schaffen" In meinem Kopf schrillten die Alarmglocken los, aber ich rührte mich nicht vom Fleck. Ihre roten Haare quollen im Wasser schwerelos auseinander wie Blut. Mir wurde schlecht. "Wir müssen reden", sagte das Wassermädchen und da sah ich ihr wieder ins Gesicht. Die geschwungenen Züge, die blasse Haut, die dünnen Augenbrauen... "Ich sollte nicht hier sein", erwiderte ich, ehe ich mich abrupt umdrehte, um  so schnell wie möglich auf den Strand zuzuschwimmen. Es dauerte nicht lange, bis das Wassermädchen mich eingeholt hatte. Elegant und viel zu schnell glitt sie neben mir durch's Wasser. "Bitte." Ihre Stimme klang nun weicher, flehentlich, doch ich wandte den Blick nicht vom Ufer ab. Ich würde nicht anhalten, bis ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. "Holly, es ist wichtig", sagte sie und stoppte direkt vor meiner Nase. Ich schwamm einfach um sie herum, ohne ein Wort zu verlieren. Meine Beine und Arme wurden schwer; war ich vorhin wirklich so weit rausgeschwommen? Ich konnte es mir fast nicht vorstellen. Ich ignorierte die Bitten des Wassermädchend geflissentlich und würdigte sie erst wieder eines Blickes, als ich in triefenden Klamotten auf die Knie gestützt im Sand stand. "Holly..." Das Wassermädchen warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, kam jedoch nicht aus dem Wasser. Ich konnte nicht anders als einen kleinen Triumph darüber zu verspüren. "Warum", sagte ich kühl, als ich wieder einigermaßen zu Atem gekommen war. "Warum tust du mir das an?" "Ich muss dir etwas zeigen", sagte sie, während sie traurig den Kopf schüttelte. Ich klopfte mir das Wasser aus den Ohren und sah sie an. "Du hättest mich nicht ins Wasser locken müssen, um mir etwas zu zeigen. Ich hätte auch so mit dir geredet." "Doch." Sie sprach so leise, dass ich es gar nicht verstehen dürfte, aber das tat ich trotzdem. "Ist das, was du mir zeigen willst, da drin?", fragte ich ungläubig und deutete auf den schier unendlichen Ozean. Das Wassermädchen nickte nur. "Dann will ich es gar nicht sehen", sagte ich und ließ mich zitternd in den Sand sinken. Das Adrenalin rauschte noch immer in meinen Venen, mein Puls wollte sich noch immer nicht beruhigen. Immer wieder für Bruchteile von Sekunden kippte die Welt vor meinen Augen, wegen der Anstrengung, schätze ich. Das Wassermädchen sah sich prüfend um. Aus dem Meer ertönte der keckernde Ruf eines Delfines, der sie zu beunruhigen schien, aber sie gab sich beherrscht, wenn auch ungeduldig. "Holly, ich will doch nur, dass du endlich verstehst", beschwor sie mich mit eindringlichem Blick. Dass ich verstand? Das war aber deutlich nach hinten losgegangen, ich war verwirrter denn je! "Pff", machte ich nur, obwohl ich natürlich dennoch ein wenig neugierig war. Doch das konnte ich mit meiner Wut mühelos wett machen. "Ich wollte dir helfen", fuhr das Wassermädchen in ihrem Vertrauenston fort. "Indem du mich zu Tode erschreckst?" Ich schüttelte meine nassen Haare. "Wohl kaum." "Wirklich", beteuerte sie. "Ich wollte dich nicht erschrecken." "Die charmanteste Art, mich ins Meer zu holen, war das allerdings auch wieder nicht." Ich zog die Nase hoch. Meine Augen und Lungen brannten von dem vielen Salzwasser und ich war mir sicher, dass ich aussah wie ein Albino-Kaninchen. Der Delfinruf wiederholte sich. "Jetzt wirst du es nicht erfahren." Das Wassermädchen ließ mit langem Gesicht die Schultern hängen. "Ein andern Mal", sagte ich und vergrub die Zehen im feuchten Sand, wobei ich versuchte, neutral zu wirken. Dabei kam ich vor Neugier fast um. Was hatte sie mir zeigen wollen, mitten in der Nacht im Meer? "Das könnte dauern", hörte ich sie noch sagen, ehe sie untertauchte und verschwand. Ich saß da, ließ den auffrischenden Wind an meinen klammen Kleidern zerren und starrte auf einen Punkt an der Wasseroberfläche, wo ich meinte, ihre roten Haare zu erkennen. Im Osten zeigte sich bereits ein lila Streifen, der darauf hindeutete, dass der dunkelste Teil der Nacht vorüber war. Inzwischen machte sich auch die Müdigkeit in mir breit, pochte unangenehm hinter meinen Schläfen. Aber ich wollte noch nicht gehen, denn in meinem Zimmer wären meine Gedanken eingesperrt. Sie würden an die Decke steigen und dort zerplatzen, bevor sie Fuß fassen konnten, hier jedoch waren sie frei und ungestört.

Das Wassermädchen hatte mir etwas im Wasser zeigen wollen. Ruby hatte sich bewusst von Nathan verabschiedet, in dem Wissen, in der nächsten Nacht zu sterben. Ich wusste, dass dort ein Zusammenhang bestand, doch mir fehlte ein wichtiges Teil in diesem riesigen Puzzle. Aber ich wusste, dass ich es finden konnte. Ich wusste auch wo: In der Vergangenheit meiner Schwester. Und es gab anscheinend nur einen Menschen, dem sie sich anvertraut hatte und der mir nun, da sie gestorben war, Gewissheit geben konnte. Nathan. Gleich morgen früh würde ich mit ihm reden. Jetzt jedoch wurde es Zeit, schlafen zu gehen.

*

Nachdem ich mir einen doppelten Espresso gemacht hatte, setzte ich mich zu Dad und Jenson an den Tisch. Mum war schon an der Rezeption und Dean war mit seinen Kumpels surfen gegangen, bevor das Meer von Touristen wimmelte. Ich sah aus dem Fenster, um zu sehen, wie das Wetter war. Es war nebelig, wolkenverhangen, und am Strand lagen Algen, die der Wind herbeigespült hatte. Sicher nicht der wärmste Tag in diesem Sommer. Mein Blick fiel vom Fenster auf Dad's Armbanduhr, die halbneun anzeigte.

Ich war um drei Uhr morgens in einen traumlosen Schlaf gesunken, aber mehr Stunden Schlaf hätte ich mir trotzdem gewünscht. Mein Gehirn war wie benebelt und vor Müdigkeit war mir ganz kalt, aber ich war mir sicher, dass mein Espresso mich rasch aufheitern würde. Gierig nahm ich einen Schluck. Dad schlug schweigend die Zeitung auf, während Jenson kauend auf die Tischplatte starrte. Wenn Dean nicht da war, liefen die Morgende meistens so wortlos ab - um nicht zu sagen, immer. Aber heute räusperte Dad sich überrascht, als er einen interessanten Bericht gefunden hatte. "Port Isaac steht in der Zeitung", verkündete er in einer Stimme, die sich anhörte, als würde er vom achten Weltwunder hören. Ich sah ihn über den Rand meiner Kaffeetasse hinweg an. "Und?" Dad kratzte sich an den braun-grauen Bartstoppeln. "Sie scheinen dort eine sehr fragwürdige Anstalt zu haben. Die schicken da wohl alles hin, Verletzte, Kranke, Behinderte, Drogenabhängige, Verrückte..." "Ein Wunder, dass sie noch nicht das ganze Dorf eingewiesen haben", warf Jenson mürrisch ein. Alter Morgenmuffel. Ich warf ihm einen vielsagenden Blick zu, aber als er diesen nicht erwiderte, wandte ich mich wieder Dad zu. "Warum berichten sie gerade jetzt davon?" "Die geben da wohl auch Sterbehilfe", murmelte Dad, ganz in den Artikel versunken. Ich wartete ab. "Da ist letzte Woche ein Mädchen gestorben, weil sie ihm die Medikamente gekürzt haben. Zwölf oder dreizehn Jahre alt. Konnte nicht mehr laufen, hatte sämtliche Lähmungen und Gelbsucht. Irgendeinen Wurm im Darm, der hat da wohl alles weggefressen. Jedenfalls ist die dahin, um "geheilt" zu werden. Tja, Pustekuchen!" Er gab einen ungläubigen Lacher von sich. "Die Ärzte wollen sich dazu zwar nicht äußern, aber sie ist gestorben, wegen der Medikamente eben." Er schüttelte nur den Kopf und war gleich darauf im nächsten Artikel versunken. Warum kam mir die Geschichte von dem Mädchen nur so bekannt vor? Ich runzelte die Stirn und tatsächlich wusste ich plötzlich, woher. Von Kirby, dem verrückten Mädchen, das mir auf dem Friedhof begegnet war, wo sie ihre gelähmte Schwester hatte suchen wollen. Von der Mutter, die ihr sagte, dieser Schwester ginge es nun gut. "Dad - wie hieß dieses Mädchen?", krächzte ich heiser. Jenson warf mir einen befremdeten Seitenblick zu. Er machte kein Geheimnis daraus, dass er mich für völlig verrückt hielt. Wahrscheinlich war ich das inzwischen auch, es würde mich ja selber wundern, wenn nicht. Dad überflog den Bericht nach dem Namen, obwohl ich ihn längst kannte. "Isabel Carterbury", sagte er schließlich und legte die Zeitung beiseite. "Alles in Ordnung, Holly? Du bist so blass." Ich umklammerte nickend meine Tasse, damit ich sie nicht fallen ließ. "Alles bestens, Dad", fiepte ich mit schriller Stimme. "Wirklich." Er wirkte nicht gerade überzeugt, also beugte er sich vor, um meine Stirn abzutasten. "Normale Temperatur", murmelte er kopfschüttelnd, während Jenson vollkommen unberührt an seinem Eibrot herumsäbelte. Ich schob Dad's Hand weg. "Ich bin okay", versicherte ich ihm mit geschlossenen Augen. Oh Gott! Isabel war tot!  Es war nicht zu fassen, was ich in letzter Zeit alles durchleben musste: Erst wurde ich auf einer Gartenparty fast vergewaltigt, dann erfuhr ich von einer geheimen Liebe meiner toten Schwester und hatte obenauf mit einem riesigen Geheimnis zu kämpfen. Als wäre das alles nicht genug, war Poppy meine leibliche Schwester und ich hatte ein recht eigenartiges Verhältnis zu meinem Ex-Kidnapper. Nicht gerade wünschenswert. Ich konnte nur hoffen, dass sich der Sturm in meinem Leben bald wieder legen würde. Zumindest zum Schulanfang in zwei Wochen. Allein der Gedanke, dass ich in vierzehn Tagen wieder über unmöglichen Französisch Vokabeln brüten konnte, war so absurd und fern, dass ich ihn gleich wieder beiseitefegte. Ich leerte den Rest meiner Tasse in einem Zug und stand auf, um sie in die Spülmaschine zu räumen. "Was wird das?", wollte Dad wissen. "Ich muss los", antwortete ich, während ich auf die Küchentür zusteuerte. "Ähm, wohin, wenn ich fragen darf?" "Darfst du", lächelte ich matt. "Aber ich muss einfach los." "Im Schlafanzug?", warf Jenson ein, der mich inzwischen mit müden Augen musterte. Ich sah an mir hinunter. "Oh." Auch das noch! Unfassbar, was ich alles nicht mehr mitbekam. So langsam gehörte ich auch in die Klapse nach Port Isaac. "Und ich will dir ja nicht zu nahe treten", fuhr Jenson fort, "aber die Haare würde ich mir auch waschen. Oder wenigstens kämmen." Er legte entschuldigend den Kopf schief. Besten Dank auch. "Danke für den Hinweis, Jenson." Ich zwinkerte ihm zu, aber er zuckte bloß mit den Schultern. "Triffst du dich mit einem Jungen?", mischte sich Dad nun wieder ein. Ich zögerte. "Indirekt." Er seufzte tief und raschelte mit der Zeitung. "Kann ich mich darauf verlassen, dass du heute Mittag wieder hier bist? Spätestens. Viele Gäste reisen wieder ab und da brauchen wir alle Hilfe. Du weißt schon, mit den Zimmern und so." Ich hätte am liebsten vor die Wand getreten, stattdessen rang ich mir ein Lächeln ab. "Klar, Dad. Aber dann muss ich mich jetzt wirklich beeilen."

Die Haare wusch ich mir natürlich nicht mehr. Ich benutzte einfach etwas Trockenshampoo und zwirbelte die Strähnen zu einer aufwendigen Aufsteckfrisur zusammen, damit man den fettigen Ansatz nicht sah. Anschließen deckte ich mit Mum's Concealer meine Augenringe ab, sprühte mir gefühlte Tonnen Deo unter die Arme und trug sogar etwas Wimperntusche auf. Wenn ich Nathan traf, würde ich automatisch auf Keith treffen und selstsamerweise wollte ich nicht, dass er mich hässlich fand. Aber wahrscheinlich fand er das ohnehin schon. Dank Lilith und Poppy war er ganz anderes gewohnt als mein unbewegendes Gesicht. Bevor ich aber Komplexe entwickelte, marschierte ich lieber in mein Zimmer. In Rubys Kleiderkarton fand ich einen schillernd blauen Rock, den ich mit einem weißen Top kombinierte, das ich einfach unter den Bund stopfte. Am Ende der Prozedur brauchte ich nur noch aus dem Fenster steigen und mich auf den Sattel schwingen. Ich hatte es schließlich eilig.

Dem Gegenwind sei dank, kam ich völlig verschwitzt und fünf Minuten später an der Stelle an, an der der Asphalt aufhörte und die Klippen anfingen. Ich kettete mein Fahrrad an ein vertrocknetes Bäumchen, das aus dem felsigen Boden emporragte und machte, dass ich zum Strand kam. Die Steine waren alle bemoost und von der spritzenden Gischt ganz glitschig. Vor lauter Ungeduld fiel ich einmal der Länge nach hin, zog mir jedoch zum Glück nichts schlimmeres als einen Kratzer am Ellbogen zu. Mehr oder weniger unversehrt schaffte ich es tatsächlich bis zu dem schmalen Felsspalt, hinter dem sich die Wohnhöhle der fünf Freunde verbarg. Schon von draußen konnte ich sie lachen hören und auch Poppys unverkennbarer Geruch lag in der Luft. Nach kurzem Zögern zwängte ich mich durch den Spalt.

Das erste, was ich sah, war, dass die Jungs alle kein Oberteil trugen. Das Zweite war die hölzerne, bunt bemalte Pfeife, die Nathan in der Hand hielt, um irgendein Kraut zu rauchen. Der Rauch stieg in Kringeln aus der Dachöffnung und hinterließ einen würzigen Geruch. Noch hatten sie mich nicht bemerkt, deswegen hüstelte ich ein wenig. Gott, ich war so schlecht. Sofort wirbelten ihre Köpfe umher, Poppy mit ihrer Schönheit mal wieder allen voran: Ihr Haar war feucht und lockte sich ungebändigt, sie hatte kleine Muscheln darin eingeflochten. Ihre Lippen schimmerten rosa. Ich sah zögernd in die Runde. Keith lächelte mich an, als hätte er geahnt, dass ich heute hier auflaufen würde und überhaupt wirkten sie alle sorgenfrei und unbeschwert. Dass ich nun in ihrer Höhle stand, schien keinen von ihnen auch nur im geringsten zu überraschen. "Ich bin hier, um mit Nathan zu sprechen. Äh, hallo. Entschuldigt." Ich schüttelte den Kopf. Es war besser, sie fragten nicht nach, ich war ja selber ganz verwirrt. Keith schmunzelte über die originelle Reihenfolge, währen Poppy aufsprang, um mich wie immer in eine duftende Umarmung zu ziehen. Ihr üppiger Busen erstickte mich dabei fast. Als sie fertig war, gab Nathan die Pfeife (Friedenspfeife?) an Vic weiter und deutete auf den Platz neben sich. Poppy führt mich am Arm, als wäre ich zu schwach zum laufen. Ich wusste, dass alles lieb gemeint war, aber hin und wieder nervte ihre Anhänglichkeit. Ich entzog mich sanft ihrem Griff, ehe ich mich zwischen Nathan und Vic hockte. Vic hielt mir die Pfeife entgegen. Als ich sah, dass sein Gesicht mit Wassertropfen übersäht war, fragte ich mich automatisch, ob sie alle jeden Morgen gemeinsam schwimmen gingen. Nackt? Bei den Temperaturen? Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken, an die Pfeife zum Beispiel, die Vic mir hinhielt. "Auch einen Zug?" "Nein, danke." Ich schüttelte den Kopf und zog die Knie an. Schulterzuckend nahm er einen tiefen Zug, um mit kurz darauf ins Gesicht zu paffen. Grinsend sah er dabei zu, wie ich krampfhaft den Husten unterdrückte, der in meiner Brust aufwallte. "Sehr witzig", röchelte ich. "Vic!", rief Lilith, halb im Scherz, halb im Vorwurf, dann nahm sie Vic die Pfeife ab, um selber zu rauchen. Ich drehte mich Nathan zu, der mich die ganze Zeit über abwartend musterte. "Was ist denn los?", fragte er nun. "Es geht um Ruby", startete ich einen vorsichtigen Versuch. "Oh." Anscheind nicht vorsichtig genug, denn Nathans Gesicht fiel auseinander. "Wenn du das unter vier Augen tun willst, können wir gerne..." Ich ließ den Satz offen, aber er schüttelte ohnehin den Kopf. "Nein, nein", sagte er entschlossen. "Okay..." Ich zögerte, da ich mir auf einmal gar nicht mehr so sicher war, wo ich anfangen sollte. Wie brachte man jemandem, der einen Toten heiß und innig geliebt hatte, möglichst schonend bei, dass er alle Geheimnisse ausplaudern musste? Ich seufzte schwer. "Fang einfach an." Ich sah, wie Nathan um Fassung rang, als er sprach. "Ich verkrafte da schon." Da war ich mir zwar nicht so sicher, aber nun gut. Aller Anfang ist schwer, also gab ich mir einen Ruck. "Du musst mir alles erzählen." Weniger vage ging es zwar nicht, aber immerhin war es nun raus. Nathan kratzte sich im Nacken. "Wie, alles?" "Alles über dich und Ruby", sagte ich. "Oder vielmehr über die Sachen, die sie dir erzählt hat. Sag mal, wann sie angefangen hat, sich anders zu benehmen", schlug ich vor. Nathan blies die Wangen auf. "Anders hat sie sich nie verhalten. Sie war quasi schon immer unberechenbar gewesen, deswegen ist mir erst spät aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte es plötzlich so eilig mit mir, weißt du?" Ich nickte, obwohl ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Aber ich wollte den armen Kerl nicht demotivieren, es war ohnehin schon schwer genug für ihn. Nathan nickte auch und holte Luft. Die anderen sahen gedpannt zwischen uns hin und her. "Ich hatte schon so lange Gefühle für deine Schwester, Holly, dass ich vor Freude erst gar nicht denken konnte. Erst spät ist mir in den Sinn gekommen, dass sie nicht von ungefähr so viel Zeit mit mir verbringen wollte, sondern weil sie wusste, dass..." Hier und da stoppte Nathan schwer schluckend. Seine Augen starrten auf seine Handflächen, aber ich war mir sicher, sie sahen etwas anderes. Bilder, Erinnerungen. So etwas hielt uns in einer Parallelwelt, so wie ihn jetzt. Er vergaß uns. "Dass was...?", drängte ich ihn. "Dass unsere Stunden begrenzt waren", hauchte er und blinzelte. Schließlich sah er mich an. "Deshalb hatte sie es so eilig." Ich nickte langsam. Das machte durchaus Sinn. Es klang zwar grauenvoll, aber es war auch logisch. So musste es gewesen sein. "Worüber habt ihr geredet?", fragte ich weiter, denn die Zeit saß mir im Rücken. An jedem anderen Tag wäre ich sanfter an die Sache rangegangen, aber diese Befragung ließ sich nicht verschieben. Ich brauchte all diese Antworten. "Über alles mögliche. Ich weiß es doch nicht mehr genau. Ich hab doch schon das wichtigste gesagt, auf dieser Party. Holly, warum fragst du mich all diese Sachen?" Ich starrte Nathan an und hoffte, dass er mich jetzt nicht abweisen würde. "Ich versuche nur, Rubys Entscheidungen nachzuvollziehen, Nathan. Dazu brauche ich so viele Eindrücke aus ihren letzten Tagen, wie nur irgend möglich, und die hat sie ja anscheinend mit dir verbracht. Nathan, hat Ruby dir Geheimnisse anvertraut?" Ich griff beschwörend nach seiner Hand und drückte sie ermutigend. Er sah mich stirnrunzelnd an. "Der Verlauf dieser Konversation gefällt mir ganz und gar nicht." Kopfschüttelnd zog er seine Hand zurück. Na toll. Wusst ich's doch. Jetzt verschloss er sich und ich durfte weiter im Dunkeln tappen. Es war so ungerecht! "Bitte, Nathan", flehte ich, wie das Wassermädchen in der Nacht. "Geheimnisse sind nicht umsonst geheim", sagte Nathan trocken. Ich stöhnte auf. "Aber Ruby ist tot! T-O-T. Sie kann sich nicht im Grab umdrehen, wenn du ihre Geheimnisse ausplauderst." "Ich hab's ihr versprochen", hielt er dagegen. Seine Augen wurden schon wieder ganz glasig. "Hoch und heilig." Nathan hob die Hand zum Schwur. "Es bringt sie auch nicht wieder zurück, wenn du ihre Geheimnisse durchstöberst, Holly. Wie du sagtest, Ruby ist tot. Was sie mir anvertraut hat, bringt uns rein gar nichts." Seine Stimme war in ein Flüstern übergegangen, doch ich gab noch nicht auf. "Nathan." Ich schlug meinen Vertrauenston an. "Es würde uns Gewissheit bringen." Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Lilith die Pfeife an Keith weitergab, aber der nahm sie nur entgegen, ohne den Blick von Nathan und mir zu wenden. Ich versuchte, mich nicht auf ihn zu konzentrieren - auch wenn das jetzt angenehmer wäre, als meine Zeit auf diesen Eisklotz zu verschwenden. Nathan seufzte entnervt. "Nein, Holly. Ich kann sie nicht verraten. Im Leben genauso wenig wie im Tod." Das reichte. Ich stand so ruckartig auf, dass das Bild vor meinen Augen kurz verschwamm. Als sich meine Augen wieder beruhigt hatten, klopfte ich mir verärgert den Dreck vom Rock. Nathan sah nicht einmal mehr zu mir auf. "Ich wollte nicht stören", sagte ich und reckte das Kinn, ehe ich an Nathan gewandt hinzufügte: "Und falls du freundlicherweise doch noch auf die Idee kommen solltest, mir beim Loslassen zu helfen, bist du jederzeit herzlich eingeladen. Aber glaub mir, ich komme wieder. Schönen Tag noch." Ich wirbelte auf der Ferse umher und stürmte aus der Höhle hinaus in mein chaotisches Leben.

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Hier ist jetzt das komplette Kapitel, ohne Fail und alles. ♡ Sagt in den Kommis, wie ihr es fandet. Was ist Nathans Geheimnis? Was wollte das Wassermädchen Holly so spät noch zeigen? ♥♥

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