Kapitel 27

Schweigend liefen wir nebeneinander her, überquerten den Friedhof und hielten erst an, als wir die kleine Bucht erreichten, an der ich schon mit Matthew damals war. Wieder - oder wohl eher: immer noch - lagen hier grüne Fischersnetze, verwitterte Holzbretter von ehemaligen Boten, in einer großen Grube verschimmelten tote Fische. Die Luft war voll von Fliegen und es stank entsetzlich, doch ich setzte mich trotzdem zu Boden. Die ganze Situation mit Kirby und ihrer Mutter, der verschwundenen Isabel und schließlich Keith wühlte mich im Innern auf. Wer waren all diese Leute? "Kennst du Kirby?", fragte ich. Ich hätte wissen sollen, warum er so war, warum er mich entführt hatte, was er im Schilde führte, aber aus irgendeinem Grund geriet all das in den Hintergrund. Keith bückte sich stumm nach einem Stein, um ihn über das siffige Wasser springen zu lassen. Er trug abgetragene, schwarze Vans, Jeans, die ihm fast in den Kniekehlen hingen und ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift 'Can you see me?'. Seine dunkelbraunen Haare wellten sich um seinen Kopf, seine grauen Augen waren auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Keith sah angespannt aus. "Kennst du Kirby?", fragte ich wieder, drängender dieses Mal, während ich aufstand. Ich war zwar nicht ansatzweise so groß wie er, aber mich vor ihm aufbauen konnte ich trotzdem. "Nein." Sein Kiefer knirschte, ehe er sich blitzschnell zu mir umdrehte. "Warum wolltest du dann, dass ich mich von ihr fernhalte?", fragte ich seelenruhig. Ich wusste nicht wieso, aber in diesem Moment war ich tiefenentspannt. Vielleicht, weil Keith auf einmal so verletzlich aussah, vielleicht zeigte auch mein Training Wirkung. "Ich will doch nicht, dass du dich von Kirby fernhältst! Ich will, dass du dich allen  in diesem Dorf fernhältst", rief Keith aufgebracht und rang die Hände. Verwundert wischte ich mir die zotteligen Haare aus der Stirn. "W-wieso das denn?" Warum ich jetzt stotterte, konnte ich ebenfalls nicht sagen. "Diese Leute hier haben einen an der Waffel", erwiderte Keith mit geblähten Nasenlöchern. "Das hier ist der Abschaum Cornwalls, Holly. Diese Menschen sind weder gebildet, noch zivilisiert. Sie hängen in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt fest. Es ist ein Wunder, dass diese Kirby überhaupt sprechen konnte. Viele hier haben geistige Behinderungen oder sonst irgendwelche Fehler. Die Hygiene ist gleich Null. Dass die meisten ziemlich früh sterben, muss ich wohl nicht erwähnen." Als Keith sich am Kopf kratzte, sah er auf einmal schrecklich erschöpft aus. Heute erschien er wie ein ganz normaler Junge aus einer ganz normalen Familie, nicht wie ein Verrückter, der in einer zerlotterten Höhle hauste und kleine Mädchen entführte. Obwohl ich es so sehr versuchte, konnte ich nicht sauer sein. Ich fühlte.... Ja, was fühlte ich? Mitleid? Weil seine Mutter... "Matthew Smitherson hat dich nie erwähnt", sagte ich möglichst kühl. Keith sollte nicht merken, wie verständnisvoll ich wirklich war. Er zuckte die Schultern. "Er kannte mich nicht." Dann trafen mich die Erinnerungen mit einem Schlag: Bevor Keith mich K.O. geschlagen und entführt hatte, hatte Poppy mir die Geschichte der fünf erzählt. Und Keith war der Junge, den seine Mutter, also Bethany, vor seinem Vater - Matthew - geheim gehalten hatte. Auf einmal wurde ich ganz aufgeregt. "Weshalb hat deine Mutter Matthew nie erzählt, dass er Vater geworden ist?", sprudelte ich hervor, woraufhin Keith einen matten Laut von sich gab. "Ganz einfach: Weil er nicht mein Vater ist." Mir blieb die Aufregung im Halse stecken und was zurück blieb, fühlte sich dumpf und schmerzhaft an. Jetzt machte es auch Sinn. Bethany hatte Matthew betrogen, war schwanger geworden und hatte das Kind geboren. Blieb nur noch eine Frage... "Wie konnte sie dich so lange verheimlichen?" Ein heftiger, heißer Windstoß peitschte mir Sand ins Gesicht. "Ganz einfach:", sagte Keith wieder, "sie hat mich weggegeben." "Und wohin?", hörte ich mich sagen. Was tat ich denn? Es war ein Wunder, dass Keith überhaupt sprach. "Hierhin. In ihr Elternhaus." Keith's Stimme war trocken und monoton. Ich schrie leise auf. "Du hast hier... gewohnt?" Kein Wunder, dass er nicht richtig tickte! Aber auf einmal fühlte ich noch mehr Mitleid und Betroffenheit. Was für ein Leben muss er gehabt haben? Dagegen erschien mir mein zerwühltes, anstrengendes Leben wie ein Zufluchtsort: Ich hatte eine Familie und ein vernünftiges Dach über dem Kopf. Ich konnte zur Schule gehen, hatte Freunde, mit denen ich Parties feiern und gemütliche Abende vor dem Fernseher haben konnte. Was davon hatte Keith? Er hatte Freunde. Keine Familie. Kein vernünftiges Dach über dem Kopf. Keine Schule. Kein Geld. Er und die anderen lebten vom Nichts, und während es bei mir selbstverständlich war, dass jeden Tag was zu Essen auf dem Tisch stand, mussten sie sich für jeden Bissen anstrengen. Seltsamerweise bekam ich zu allem Überfluss auch noch Schuldgefühle. Ich beschloss, Keith nicht weiter auszufragen, denn auf einmal erschloss sich mir alles von selbst. Keith hatte mich entführt, weil ich erstens sein Geheimnis erfahren hatte, Matthew von ihm erfahren könnte und aus Angst, ich könnte ihn bei der Polizei verpfeifen. Mehr gab es nicht zu klären. "Hey." Er zupfte an meinem Ärmel und sah auf einmal ziemlich ängstlich aus. "Du erzählst doch niemandem davon, oder?" Ich nickte mit einem schwachen Lächeln. Dass Abigail davon wusste, war für mich selbstverständlich und galt als Ausnahme. Ich kannte meine Freundin; sie würde dicht halten. Es war unser aller Geheimnis. "Keine Sorge", sagte ich beruhigend. Keith atmete erleichtert auf, aber zufrieden sah er immer noch nicht aus. "Das Mädchen war nicht Ruby, oder?" In seinen Augen flimmerte ein Hoffnungsschimmer auf. "Nein." Ich schüttelte den Kopf und seufzte tief. "Ruby ist tot. Wer das Mädchen ist, weiß ich selber nicht genau." "Okay." Keiths Schultern sackten ein Stück hinab und sein Blick fiel auf das silberne Kettchen an meinem Schlüsselbein. "Sie ist sehr furchteinflößend." Gedankenverloren spielte er mit dem Kreuz, das an der Kette hing. Ich schmunzelte. "Daran gewöhnst du dich." Keith wirkte, als hörte er mir gar nicht zu. Er ließ das Kreuz los, um stattdessen den großen blauen Fleck zu berühren, der - wenn auch nur schwach - mein Kinn zeichnete. Er war noch von einem der Kämpfe, denen ich mich mit dem Wassermädchen geliefert hatte. Eigentlich achtete ich immer darauf, ihn so gut es ging zu überschminken, aber mit dem Schweiß war das Make Up wohl etwas verwischt. "Hat dieses Mädchen dir weh getan?", flüsterte Keith, ohne den Blick von meinem Kinn zu nehmen. Ich räusperte mich. "Nein. Sie hat mir geholfen, als du  mir weh getan hast, Keith. Der Fleck stammt von ihr, ja, aber das hilft... du verstehst das nicht. Aber das Wassermädchen ist mir wirklich wichtig." Ja, das war sie tatsächlich. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich sie beinahe schon vermisste. Warum meldete sie sich nicht mehr? Keith senkte beschämt den Blick und nahm seine Finger zurück. "Ich weiß", murmelte er zerknirscht. "Tut mir leid. Ich wollte das nicht, aber in dem Moment hatte ich mich nicht unter Kon-" "Stopp", schnitt ich ihm das Wort ab. "Reden wir nicht weiter drüber." Keith sah erst verwundert, dann erleichtert aus. "Danke." Ein Schwall angehaltener Luft verließ seinen Mund und ließ die feinen Häärchen an meiner Stirn aufwirbeln. "Bitte", presste ich hervor. Auf einmal war es mir unangenehm, hier zu sein. Ich hatte alles geklärt, was es zu klären gab. Hiermit war ich durch. "Ich geh dann mal besser", sagte ich leise und berührte zum Abschied Keith's Arm. Ohne auf seine Antwort zu warten, stapfte ich den Strand hinauf in den Schatten. Mein Atem ging schnell und flach. "Holly!", rief Keith von unten. Äußerst unwillig drehte ich mich zu ihm um. Was war jetzt noch? "Danke, dass du hergekommen bist." Keith sprach schnell und leise, und doch verstand ich jedes Wort. Weil ich jedoch nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte, drehte ich mich wieder um. "Du solltest dich demnächst von Port Isaac fernhalten!", rief Keith mir noch nach, aber ich stellte mich taub. Das fehlte noch, dass ich mit ihm diskitierte, wo ich hinzugehen hatte und wo nicht! "Glaub mir, ist besser so. Mädchen wie du sollten sich nicht allein hier herum treiben. Nicht jeder ist so harmlos wie Kirby." Es schien Keith anscheinend nicht zu interessieren, ob ich ihm antwortete oder nicht. Insgeheim jagte mir seine Warnung ein bisschen Angst ein, aber ich gab mich lässig. "Blödmann", stieß ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor, so leise, dass er es längst nicht mehr hören konnte. Was bildete er sich ein? Ein Entführer warnte mich vor Entführern? Das war doch lächerlich. Obwohl ich es eigentlich nicht wollte, drehte ich mich noch mal um, bevor ich den Friedhof erreichte. Doch von Keith war keine Spur mehr zu sehen. Lediglich meine Fußspuren im Sand zeugten davon, dass wir dort gestanden und uns unterhalten hatten. Kopfschüttelnd wandt ich mich ab und ging eiligen Schrittes zu meinem Fahrrad zurück.

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Was haltet ihr von dem Gespräch? Wie wird es weitergehen? ♥
Antworten in den Kommis!

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