Kapitel 21

"Du stinkst nach Rauch." Ich saß in meinem Bett und beobachtete Ruby, die durch das Fenster in unser Zimmer geklettert kam. Es war drei Uhr morgens, aber ich hatte vor lauter Sorge nicht schlafen können. Jetzt hatte sich die Angst um meine Schwester in eine zischende Wut verwandelt. Warum machte sie das immer? "Ruby!" Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Sie torkelte zu meinem Bett und ließ sich fallen. Ihr buntes Desigualkleid war hochgerutscht und gab den Blick auf ihr weißes Flanell-Höschen und ihren hellen, flachen Bauch frei. An ihrem Nabel steckte ein glitzerndes Steinchen. "Seit wann hast du diesen Piercing?", japste ich entsetzt. Ruby stützte den Kopf auf ihrer Hand. "Weiß nicht", lallte sie und verdrehte die Augen. "Du bist betrunken." Ich verengte die Augen zu Schlitzen. "Immer schön geschmeidig bleiben." Auf einmal war Ruby's Stimme hellwach und klar. Ich berührte ihre feuerroten Locken und kämpfte gegen die Tränen an. "Warum tust du das immer?", hauchte ich. "Was?" Ruby rollte sich hustend auf den Bauch und schaute mich aufmerksam an. "Rauchen. Trinken. Dir Piercings stechen. Warum? Warum kannst du nicht eine Nacht bei mir bleiben?" Meine Stimme war tränenerstickt und belegt. "Weil ich nicht anders kann", antwortete sie. "Wer sind diese Leute, Ruby? Was machen sie mit dir?", fragte ich aufgewühlt. Schon seit einem Jahr wusste ich nicht, was Ruby nachts trieb. Sie hatte sich von der Vorzeigetochter in eine Rebellin verwandelt. Ich war mir sicher, dass sie irgendwie beeinflusst wurde. Ruby strich mit dem Finger über meine Frottee-Bettwäsche. "Es sind die nettesten Leute, die ich kenne", sagte sie leise. "Und sie haben mir gezeigt, wer ich wirklich bin. Du solltest überlegen, ob du bloß existieren willst wie jetzt, oder leben möchtest, Schwesterchen." Schwesterchen, Schwesterchen, Schwesterchen.

Ich schlug die Augen auf. Mein Hals war trocken und meine Hände und Füße schmerzten von den Fesseln. Ich hatte schon wieder von Ruby geträumt, diesmal aber von einer realen Situation, die sich wirklich abgespielt hatte. Ob Ruby wusste, dass sie nicht meine leibliche Schwester war? Der Gedanke war zu schmerzlich. Und tief im Innern wusste ich, dass dem nicht so war. Sie wusste nichts von dem Vertauschen der Babys im Krankenhaus. Aber woher wusste Poppy davon? Ich richtete mich mühsam auf und blinzelte dem gleißenden Sonnenlicht entgegen, das durch das Loch an der Höhlendecke fiel. "Poppy?" "Hey, Süße." Ihre Stimme war melodisch und ganz nah an meinem Ohr. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie mich in den Armen hielt. Der süße Geruch von Orangen und Mädchenschweiß waderte durch die Luft. "Wie...?" Ich versuchte, mich aufzusetzen, ließ es aber bleiben, als ein dumpfer, heftiger Schmerz durch meinen Kopf schoss. Stöhnend sank ich gegen Poppys üppige Brust zurück. Meine Kehle war trocken und meine Zunge fühlte sich an wie Schmirgelpapier. "Wie bist du frei gekommen?", krächzte ich. Poppy strich mir liebdvoll eine verschwitzte, blonde Strähne aus dem Gesicht. Ihr Atem ging ruhig und tief. "Keith hat mich losgebunden. Er kam nachts nochmal wieder, nachdem er sich abgeregt hatte." "Oh." Ich fuhr mir mit der Zunge über die Zähne. "Wo ist er jetzt?" Poppy seufzte. "Das wissen wir nicht", sagte sie gedämpft. Ich richtete mich auf, obleich mir dabei schwindelig wurde und sah ihr in die Augen. "Wir?" Sie lächelte matt. "Lilith, Vic, Nathan..." Sie machte eine abrundende Geste mit der Hand. "Stimmt." Ich senkte den Blick. Ich hatte ganz vergessen, dass der Rest der Gruppe ebenfalls hier hauste. "Wer bindet mich los?", fragte ich leise, in der Hoffnung, sie würde ein Messer hervorholen und die Taue aufschneiden. Doch Poppy zuckte bloß die Achseln. "Das muss Keith selber machen. Keine Angst. Du wirst hier rauskommen." Ich schluchzte auf. "Ich will nach Hause", presste ich hervor. Meine Hände waren aufgeschürft von den Seilen, meine Füße eingeschlafen. Die dunkle Steinwand stach mir in den Rücken und mein Hintern fühlte sich so platt an wie ein Brett. Es gab nichts, was ich mir sehnlicher wünschte, als meine langweilige Arbeit im Hotel, Abigail, die mir schwärmerisch von Finley erzählte.  Selbst meine Eltern und meine Brüder fehlten mir. Was sie wohl gerade dachten? Es musste ihnen wohl aufgefallen sein, dass ich verschwunden war. Ob sie schon die Polizei alamiert hatten? Bei dem Gedankem krampfte sich mein Magen zusammen. Bitte nicht!  "Bitte, mach' mich frei", bettelte ich mit tränenerstickter Stimme. Poppy biss sich auf die Unterlippe. "Das geht nicht", hauchte sie, dann senkte sie schuldbewusst den Kopf. "Wir haben mit Keith eine Abmachung getroffen." Ich schluckte schwer. "Was für eine Abmachung?" Poppy sah zur Seite und fuhr sich mit dem Finger über die zartrosa schmalen Lippen, über die kleine Stupsnase, bis zu ihren großen Augen mit den langen Wimpern. Ich zupfte zaghaft an ihrem Ärmel. "Wir halten dich hier, bis er... bis er sich sicher ist, dass er dir trauen kann. Dann lässt er dich gehen." Ihre Stimme war zum Schluss nicht mehr als ein Flüstern und mir sackte das Herz in die Knie. "Was?", stieß ich japsend hervor. "Bitte sei mir nicht böse!", flehte Poppy. "Das bin ich sehr wohl." Missmutig drehte ich mich aus ihren weichen Armen und starrte dem steinernen, zerklüfteten Höhleneingang entgegen. In der Ferne schipperte ein Fischersboot über das seichte Wasser, verfolgt von einem Schwarm kreischender Möwen. Der Himmel war babyblau, lediglich ein paar weiße Wölkchen waren zu sehen. Dann hörte ich Stimmen und wenig später zwängte Lilith sich durch den Eingang. "Holly, Schätzchen!", rief sie, nachdem sie bemerkt hatte, dass ich wach war. "Hallo", krächzte ich. Poppy streckte ihre Hand nach mir aus, als wolle sie mich streicheln, doch als ich sie wütend anblitzte, ließ sie sie langsam sinken. "Es tut mir.. -", setzte sie an. "Lass' das", fuhr ich dazwischen. Lilith sah erst mich mitleidig an, dann schwenkte ihr Blick zu Poppy, die die Lider niedergeschlagen hatte und gegen die Tränen ankämpfte. "Du hast es ihr gesagt?" Lilith kniete sich vor mir auf den Boden und reichte mir einen silbernen Flachmann. Ohne zu zögern nahm ich ihn an mich und nahm einen tiefen Schluck. Kurz darauf brannte meine Kehle wie Feuer; ich verzog das Gesicht. Poppy rappelte sich auf. "Ich habe ihr alles gesagt, Lilith. Wir haben einen Fehler gemacht. Wir sollten ihr helfen." Sie war zum Schlitz gerauscht und zwängte ihren Körper hindurch. "Wo willst du hin?", rief Lilith über ihre Schulter. "Ich gehe Keith suchen", antwortete Poppy von draußen. Mit den Worten tapte sie davon und ließ mich und Lilith seufzend zurück. "Sie meint es gut mit dir", sagte Lilith sanft. War das ihr Ernst? Ihr verdammter Ernst? "Soll das ein Witz sein?", fauchte ich sie an. Lilith schüttelte leise den Kopf, während sie meine blutigen Hände sauber machte. "Nein. Sie will dich beschützen. Sei nicht so hart mit ihr." "Das sagst du, während ich gefesselt in einer dunklen Höhle liege?" Ich zog demonstrativ an den Tauen und sie holte tief Luft. "Wir haben Angst vor Keith. Gestern Nacht war er mit einem Mal ein Junge, den wir alle nicht kannten und er hatte dieses Messer in den Händen..." Mit eindringlichem Blick fasste sie meine Schultern. "Holly, er war drauf und dran, dich umzubringen! Wir haben diese Abmachung getroffen, damit du leben  kannst. Im Nachhinein betrachtet ist es ein Fehler, aber gestern blieb uns nichts anderes übrig." Sie schluckte schwer und mit glasigen Augen, dann nahm sie ihre Hände von meinen Schultern. Ich starrte auf den Boden. War es nun falsch, wütend auf Poppy zu sein, oder sollte ich dankbar sein, dass sie mir das Leben gerettet hatte? Spontan entschied ich mich für Letzteres. Es war das Vernünftigste, nicht mit ihr, meiner Schwester, auch noch Streit anzufangen. "Oh", sagte ich matt. Lilith gab ein zustimmendes Grunzen von sich. "Ziemlich verrückt, das Ganze, nicht wahr?" Sie zog die Bein an und schlang die Arme um ihre Knie. "Allerdings",gab ich nickend zurück. Und dann sahen wir uns an, um kurz darauf zu lachen. Es war kein fröhliches Lachen, eher trocken, monoton, ungläubig. Diese ganze Situation war so verrückt, dass wir gar nicht anders konnten. "Äh", kam es plötzlich vom Höhleneingang und wir fuhren auf. Dort stand Vic mit nassen Haaren, triefenden, klammen Shorts und Wassertropfen im Gesicht. Wie Jenson hatte er eine breite Schwimmerbrust und eine sehr ausgeprägte Schultermuskulatur. Wie er da stand, sah er extrem attriv aus. Wenn ich mit Abigail am Strand gelegen hätte und er würde über den Weg laufen, würden wir seinen Körper bestaunen und dann die Köpfe zusammenstecken, um zu kichern und zu tuscheln. Aber ich lag nicht mit Abigail am Strand und deswegen sah ich ihn einfach nur an. "Hast du ihn gefunden?", fragte Lilith leise. Vic zitterte am ganzen Leib, während er mit starren, nach innen gerichteten Augen auf den Boden sah. "Vic?" Lilith stand auf und ging auf ihn zu. Nichts. "Hallo!" Bei der Schärfe ihrer Stimme zuckte er zusammen. Was hatte er bloß? Also, entweder, Keith war im Meer ertrunken, er hatte ihn nicht gefunden, oder es war etwas Furchtbares passiert. "Hast du Keith gefunden?", fragte Lilith Vic erneut. "Ich nicht", antwortete er rau, "aber sie." Am Höhleneingang erschien das Wassermädchen. In ihren Armen lag Keith's schlaffer Körper;  seine stählerne Brust war nackt und sandig. In seinen feuchten Haaren hing eine Alge. "Hey", sagte sie lässig und mit unverkennbar rauchiger Stimme. Trotzdem hörte ich ihr an, dass sie extrem wütend war, dass man mich entführt hatte. Womöglich hatte sie Keith selber K.O. geschlagen. Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, kam Lilith mir zuvor. Sie keuchte ein einziges Wort, einen Namen. "Ruby."

********************

Kommis? ♥

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top