Kapitel 20
"Ich bin deine Schwester." Ihre Worte werden durch die Hände erstickt, die sie zu Boden reißen. Nein, sie reißen mich zu Boden. Ich sehe sein Gesicht, diese harten, grob geschnittenen Züge, seine dunkelbraunen Haare. Enttäuschung durchflutet meine Sinne, und ich schreie, laut, lauter.
Als ich zu mir kam, hatte ich Rückenschmerzen. Meine Hände waren mir rücklings zusammengebunden worden, ebenso meine Füße, die unter dem dicken Tau kribbelten und zwickten, weil sie einschliefen. Eine raue, steinige Wand drückte mir ihre Unebenheiten schmerzvoll in die Haut; ich konnte mich nicht bewegen. Ich stöhnte entkräftet, dann schlug ich die Augen auf und sah mich um. Eigentlich hätte ich es mir denken können, aber dennoch wurde ich von einer neuen Welle Panik durchströmt, als ich erkannte, wo ich war. Keith hatte mich in die Höhle gebracht, die geräumiger war, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war sehr hoch und verlief oben in spitzer Form zu einem kleinen Loch zusammen. Die Steine waren dunkelgrau, hart, spröde, der Boden jedoch eben und glatt. In der Mitte gab es eine kleine Mulde, in der sich Asche und Holz häuften. Ein Feuerloch. Der Höhleneingang war lediglich ein schmaler Spalt, waagerecht, sodass man den Bauch einziehen musste, um hinein zu gelangen. Wie hatte Keith es dann geschafft, mich herzubringen? Die Angst und meine missliche Situation legten meinen Verstand lahm. Ich beschloss, einfach anzuwarten, als meine Aufmerksamkeit von einem Geräusch vor dem Höhleneingang geweckt wurde. Es war nicht mehr als ein ersticktes Wimmern, ein kraftloser Prozess, der mehr weiblich als männlich klang. Ich erkannte sie nicht an ihrer Stimme, dafür an dem Geruch. Es war Poppy. Ich wollte ihren Namen rufen, doch da fiel mir auf, dass man mir den Mund mit einem Tuch verbunden hatte. Ich wandt mich, sofern es die Taue zuließen und stieß panische, hohe Töne aus. "Holly?", hörte ich Poppy rufen. "Bist du da drin?" Es folgte ein klatschendes Geräusch, dann ein Stöhnen. Es war jemand bei ihr und er schlug sie. Wahrscheinlich Keith. Lass sie in Ruhe!, wollte ich schreien, doch brachte ich kein Wort heraus. Alles in mir war wie betäubt, mein Kopf wie ausgestopft. Das Tuch um den Mund zwang mich zu schweigen. "Rein da", brummte Keith von draußen und kurz darauf sah ich Poppy's blonden Schopf am Höhleneingang. "Sie ist da drin", stellte sie halb erleichtert, halb zornig fest. "Was ist in dich gefahren!", schrie sie Keith zu. "Sei still und geh' rein", zischte er, ehe er etwas aus seinem Gürtel zog. Etwas, das eine kurze, silberne Klinge hatte, die mich im Sonnenlicht blendete. Ich geriet außer mir vor Panik und Empörung. Auch Poppy entdeckte das Messer in seiner Hand, holte scharf Luft und drückte sich in die Höhle. Sie wollte zu mir stürzen, doch konnte sie nicht, da Keith sie ebenfalls gefesselt hatte und die Stränge in seinen Händen hielt. Kurz darauf stand er selbst in der Höhle. Nachdem er mich gemustert hatte, spuckte er auf den Boden. Ich zuckte zusammen. "Was wird das?", fragte Poppy herausfordernd. Sie sollte sich fürchten, doch genau das tat sie nicht. Keith war ihr Freund. Sie konnte keine Angst vor ihm haben. "Sie weiß es", stieß er missbilligend hervor. "Und du hast es ihr verraten. Ich kann ihr nicht mehr trauen und dir noch weniger." Ein Schatten der Verletztheit legte sich über Poppy's hübsches Gesicht. Der Mond, der durch das winzige Loch an der Decke schien, ließ sie wirken wie ein Gespenst, weiß und gebrochen. Keith dagegen stand da wie aus Stein gemeißelt. Er warf das Messer in die Luft wie ein Spielzeug, fing es auf und tat es wieder. Ich wollte sagen, dass ich das Geheimnis nicht weitersagen würde, aber das Tuch um meinen Mund nahm mir jede Möglichkeit, sodass ich bloß unverständliche Laute von mir gab. Keith hielt das Messer fest und richtete dessen Klinge auf mich. "Sei leise." Wenn ich die Arme heben könnte, hätte ich es getan. "Keith, nimm dieses Tuch von ihrem Mund. Lass' sie reden. Und vor allem lass sie frei", sagte Poppy. Es war keine Bitte, es war ein Befehl, obwohl er derjenige war, der unsere Leben mit einem Schnitt beenden konnte. Keith blickte unschlüssig zu mir herunter. "Ich nehme dir das Tuch ab", sagte er schließlich. Seine Stimme klang heiser, rau, gefährlich. "Pass' auf, was du sagst, Püppchen." Er beugte sich tief zu mir herab, sodass ich den Geruch von Rasierwasser, Wind und Holz vernehmen konnte. Ich beobachtete seine tiefen, dunklen Augen, während er das Tuch von meinem Mund schnitt. Das Messer streifte meine Lippe, hinterließ einen feinen Einschnitt. Ich schmeckte Blut, doch fühlte ich keinen Schmerz. Ihm war es sowieso egal, also brauchte ich mich nicht verletzlich zu zeigen. Keith warf den Fetzen zu Boden und richtete sich wieder auf. "Sprich." Er machte eine auffordernde Handbewegung. Die Worte kreisten durch meinen Kopf, aber er hatte mich gewarnt. Ich musste aufpassen, was ich sagte, ansonsten würde er mir wahrscheinlich, ohne mit der Wimper zu zucken, sein Messer ins Herz rammen. Ich zitterte. "Püppchen", sagte er leise, ruhig, "wenn du nicht redest, kannst du das Tuch gern wieder haben." "Ich heiße nicht Püppchen", war das erste, was aus mir herausplatzte und ich biss mir sofort auf die Lippe. Was tat ich denn? Keith zog eine Augenbraue in die Höhe und verschränkte die Arme vor der Brust. Fast provozierend spielten seine Finger geschickt und schnell mit dem kleinen Messer. Ich schluckte, dann sagte ich: "Ich werde nichts verraten. Ich bin eine von euch." Irgendwie hatten diese Worte in diesem Moment etwas tröstliches für mich. Sie gaben mir das Gefühl, irgendwohin zu gehören, wobei sie natürlich total absurd waren. Ich war eine von ihnen, obwohl er mich gefangen hielt und mich in Null Komma nichts töten würde. Es hatte keinen Sinn, ihm etwas von Zusammenhalt und Gemeinschaft zu erzählen, und trotzdem tat ich es. "Keith, ich bin Poppy's Schwester und... ich mag euch. Niemals würde ich eure Geschichten jemandem erzählen. Aber ich bin froh, dass ich die Wahrheit weiß." Er wirkte mit einem Mal unsicher. Wahrscheinlich dachte er an seinen Teil der Geschichte und genau damit hatte ich den schwachen Punkt getroffen. "Schwörst du?", fragte er. Ich nickte. "Ich schwöre bei Gott, dass ich nichts verraten werde." Mit einem tiefen Atemzug schien seine Entschlossenheit zurückzukehren und er begann wieder, mit seinem Messer zu jonglieren. "Woher weiß ich, dass ich dir trauen kann?", fragte er aufgebracht. "Woher weiß ich, dass du nicht zur nächsten Polizeiwache rennst und mich anzeigst, wenn ich dich frei lasse? Dann würde ich auffliegen." Er beugte sich zu mir herab, bis sich unsere Nasen fast berührten. Zitternd stieß ich die angehaltene Luft aus. "Das würde ich niemals tun", hauchte ich. Das war eine schwache Aussage, das wusste ich, aber ich meinte es ernst. Ich würde Keith nicht verraten, nein, im Gegenteil: Ich würde alle Schuld auf mich nehmen, um ihn zu schützen. Denn paradoxerweise hatte ich Verständnis für seine Reaktion. Ich war ihm nicht böse, dass er mich eingesperrt hatte, ich dachte sogar, dass ich es in irgendeiner Weise verdient hatte. "Das könnte jeder sagen", flüsterte Keith zurück. Seine Worte waren kalt. "Sie ist aber nicht jeder", mischte Poppy sich ein. "Du kannst ihr vertrauen." Plötzlich sprang er auf und hielt ihr die Messerklinge an die Kehle. "Dir konnte ich auch vertrauen, Poppy. Aber du hast mich verraten, du bist Schuld!" Seine Finger hielten das Messer so fest, dass seine Knöchel weiß anliefen. Poppy hielt nicht einmal die Luft an, dafür aber geriet ich erneut in Panik. "Es ist meine Schuld!",japste ich. "Ich habe sie dazu gedrängt." Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Keith das Messer sinken ließ, aber ich mied es, die Waffe anzusehen. Stattdessen hielt ich Blickkontakt. "Das heißt gar nichts", sagte er leise, bevor er sich zu Boden sinken ließ und sich an die Steinwand lehnte. Poppy starrte ihn wütend an. "Du bist nicht mehr du selbst", zischte sie wütend. "Wer ist denn 'Ich selbst'?", fragte Keith aufgewühlt. Poppy schloss die Augen. "Der Keith, den ich kenne, ist humorvoll und charmant. Es dauert immer lange, bis das Eis gebrochen ist, aber dann stehst du den Menschen wirklich nahe. Aber du bist nicht jemand, der andere ermordet. Du bist einer, der vertraut." Die letzten Worte hauchte sie bloß und ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu weinen. "Der Keith, der vertraut, hat eingesehen, dass dieses Vertrauen gebrochen wurde. Tut mir leid, aber ich kann euch nicht verzeihen." Keith wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, stand auf und ging mit federnden Schritten zum Eingang der Höhle. Kurz darauf hatte er sich hinausgequetscht und uns allein zurückgelassen. Wir waren nicht einmal nah genug beieinander, um uns in den Arm zu nehmen.
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Kapitel 20 und über 80.000 Reads, vielen Dank! *0* Bitter hinterlasst wie im letzten Kapitel gaaanz viele Kommis und Votes. ★★★
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