Kapitel 2

Ich lief die Strandpromenade entlang, vorbei am Pier, und rannte im Sand weiter. Es war anstrengender hier zu laufen, anstatt auf festem Asphalt, doch ich liebte es. Die Musik begleitete mich und vielleicht war ich sogar für die Zeit des Joggens unbeschwert und frei. Mein Pferdeschwanz baumelte hinter meinem Nacken hin- und her, während erste Schweißtropfen mein Gesicht hinunterrannen. Es fühlte sich gut an, nach einer öden Hotelführung über den weißen Sandstrand zu fliegen.

Aus den Augenwinkeln sah ich Dean, der mit dem Brett unterm  Arm über den Pier lief und sich schließlich in die Wellen warf. Schon allein bei diesem Anblick wurde mir mulmig und ich hielt mich mehr an die Dünen.

Diese Wellen hatten auch Ruby einst verschluckt und getötet. Ich traute ihnen nicht mehr.

Bald hatte ich den Teil des Strandes, den die Touristen belagerten, hinter mir gelassen und joggte vollkommen einsam dem Horizont entgegen, bis etwas, ein feuerroter Haarschopf, der urplötzlich aus dem Meer aufragte,  mich dazu veranlasste, nach Luft zu schnappen und stehen zu bleiben. Meine Augen flitzten unruhig über die Wasseroberfläche. Da! Da war er schon wieder. Unwillkürlich musste ich an Ruby's Haare denken, die genauso ausgesehen hatten. Ich schluckte. Konnte es sein, dass... Unsinn! Ruby befand sich seit einem Jahr und zwei Monaten unter der Erde.

Doch dann ragte der komplette Kopf aus dem Wasser und zwei giftgrüne Augen streiften meine. Ihre Augen. Das konnte doch nicht wahr sein!

Mit zittrigen Fingern fischte ich mein Handy aus meinem Ausschnitt, um Abigail's Nummer zu wählen.

Während es regelmäßig ein Tuten von sich gab, rannte ich weiter. Weg von diesem gruseligen Kopf, der dem meiner Schwester glich als wäre sie es. Auch dieses eisige Lächeln...

Als Abigail's schlaftrunkene Stimme sich meldete, hatte ich bereits Seitenstiche bekommen, doch ich rannte eisern weiter. "Holly? Was ist los?" Die alamierte Stimme meiner besten Freundin ließ annehmen, dass sie schon jetzt hellwach war. "Ruby!", keuchte ich in den Hörer und blieb nun doch stehen. "Was ist mit ihr?", fragte Abigail. Als mein Blick über das dunkelblaue Meer glitt, musste ich zu meinem Erschrecken feststellen, dass sie mich verfolgt hatte. "Dort im Wasser ist ein Mädchen, das so aussieht wie sie!", wisperte ich in mein Handy. "Ja und?" Ich schluckte. "Es verfolgt mich." "Und du bist dir sicher, dass du dir das nicht einbildest? Ich meine, bei den Temperaturen... Vielleicht hast du ja einen Sonnenstich oder so." "Abigail, zu hundert Prozent!" Eine leise Panik kroch über meinen Rücken und mein Atem wurde flach. Das rot gelockte Wassermädchen schwamm auf's Ufer zu. "Sie kommt auf mich zu!", winselte ich panisch. "Sag' ihr, sie soll weggehen." Ich starrte unverwandt auf dieses Mädchen, das nun begann, durch das Wasser auf mich zu zuwaten. "Abigail, das geht - Heilige Scheiße!" "Was ist passiert?" "Sie ist aus dem Wasser gekommen!" "Und?" "Sie ist nackt." Mein Hals wurde ganz trocken und ich hatte das Gefühl, gleich in Ohnnacht zu fallen.

Unterdessen ließ das Wassermädchen seinen Blick über meinen Körper streifen und lächelte zufrieden. "Nackt?", rief Abigail ungläubig. Das Mädchen kam auf mich zu. "Holly?", fragte Abigail in den Hörer, doch ich war nicht mehr imstande zu antworten. Ich stand da, als hätte ich Wurzeln geschlagen und starrte mit schreckgeweiteten das Mädchen oder meine Schwester an. Wäre Ruby nicht schon längst beerdigt worden, hätte ich ihne zögern gesagt, dass sie es ist.

Das Mädchen hielt vor mir an und begann, die feuerroten Locken um den Finger zu drehen. Ich hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. "Sag mir deinen Namen, Kleines." Sie grinste gefährlich. Oh Gott, diese rauchige Stimme! Alles an ihr passte haargenau zu Ruby. Aber was wollte sie von mir? Ich presste die Lippen aufeinander, woraufhin das Lächeln auf den Lippen von Ruby's Doppelgängerin verschwand. "Los, sag schon!" Oh, warum hatte ich nur so weit raus joggen müssen? "Holly!", schrie Abigail in den Hörer. "Lauf weg!" Das Wassermädchen grinste zufrieden und riss mir das Handy aus der Hand. "Holly." Sie musterte mich. "Hab ich eh schon gewusst." Mit den Worten drehte sie sich um und schleuderte mein Handy ins Wasser. "Warum fragst du dann?" Mit einem Mal kam Leben in mich. Ich wartete ihre Antwort gar nicht ab, sondern sprudelte weiter. "Warum verfolgst du mich?" "Ich möchte dich zu mir nach Hause einladen." Ich funkelte sie feindselig an. "Warum?" "Ich will dich kennenlernen." Ich verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. "Ich will dich weder besuchen noch kennenlernen", sagte ich dann. Sie zog die Augenbrauen in die Höhe, ehe sie die Augen zu dünnen Schlitzen verengte. "Du hast dich ganz schön verändert." Ich schwieg, aber ich war mir sicher, mein klopfendes Herz sagte bereits, was ich dachte. Sie kam näher an mein Gesicht, sodass ihr kalter Atem meine Wange streifte und sich eine Gänsehaut auf meinem Arm ausbreitete. "Ich bin sicher, wir würden uns mögen", raunte sie dann in mein Ohr. In einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Ich musste sie besuchen. "Ich hab jetzt keine Zeit", erklärte ich rasch, doch sie zuckte mit den Schultern. "Dann kommst du eben ein anderes Mal!" Sie wandte sich ab und rannte durch den Sand auf das Wasser zu.

Ich stand da und beobachtete sie, wie sie sich geschmeidig ins Meer begab und schließlich Eins mit den Wellen wurde.

Auch ich rannte weg, allerdings in Richtung Pier. Als ich dort angekommen war, blieb ich vollkommen aus der Puste stehen und rang nach Luft. Noch nie waren mir die Touristen so Willkommen gewesen wie heute.

Erschöpft durchquerte ich die Dünen und machte mich auf den Weg ins Hotel, wo ich für den Rest des Tages meine Aufgaben erledigte.

*

Beim Abendbrot kämpfte ich mit mir selbst. Sollte ich es ihnen erzählen, oder nicht? "Ich habe Ruby gesehen." Das hatte ich doch jetzt nicht gesagt, oder? Hatte ich, den entsetzten Gesichtern zufolge. "Wann soll das gewesen sein?" In Dad's Stimme lag Spott. "Beim Joggen. Sie hat mich verfolgt." Schweigen. "Sie hat sogar mit mir geredet", fügte ich hinzu. Warum war ich auf einmal so überzeugt, tatsächlich Ruby getroffen zu haben und nicht ein anderes Mädchen? Es war schließlich unmöglich... "Du spinnst ja", sagte Jenson und stand auf, um eine neue Flasche Wasser zu holen. Die alten Holzplatten ächzten unter seinen Tritten. "Nein, wirklich! Ich habe sie gesehen!", beharrte ich. "Das geht nicht", sagte Mum müde. "Warum?" "Sie ist tot, Holly. Tot." Ich erschrocken, wie viel Bestimmung auf einmal in ihrem Ton lag. "Aber -", setzte ich an, doch Dad packte mich grob am Arm. "Geh auf dein Zimmer!" "Wieso?" Tränen traten mir in die Augen. "Weil ich es sage!" Das stand auf und bugsierte mich durch unsere Altbauküche, hinaus auf den Flur. Dort ließ er mich stehen und knallte die Tür hinter sich zu. Ein Luftzug ließ die wenigen weißblonden Strähnen, die sich aus meinem Zopf gelöst hatten, aufwirbeln. Ich zuckte zusammen, ehe ich schluchzend auf mein Zimmer stürmte und mich auf mein Bett warf. Durch den Tränenschleier sah ich den Sonnenuntergang, der sich heute über dem Meer kräuselte wie rote Locken.

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Ich weiß, ich hatte ursprünglich gesagt, ich schaffe die updates nicht so oft, aber es ist Wochenende und da hab ich natürlich mehr Zeit. :)
Das nächste Kapitel wird entweder nächsten Sonntag oder vielleicht sogar erst am darauffolgenden Donnerstag erscheinen. Ich hoffe, das haltet ihr aus. :| Ansonsten, bitte kommentieren und voten! ♥

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