Kapitel 17

Als ich wieder zu mir kam, trieb ich auf dem offenen Meer, unter mir ein kahles, nacktes Holzbrett. Die Sonne leuchtete blutrot. Nirgendwo war Land in Sicht, überall, wo ich hinsah, war Wasser. Panisch keuchend krallte ich mich an das Brett unter mir, während sich der Himmel auf einmal verdunkelte. Das Wasser wurde lila, blubberte und stieg mir zischend in die Nase. Neben mir trieb ein weißer Arm, rote Locken, ein Gesicht. Meine tote Schwester. Ich schrie und schrie und schrie, bis ich schweißgebadet aus meinem Alptraum aufwachte. Senkrecht und schwer atmend saß ich in meinem Bett, an dessen Ende das Wassermädchen saß und mich lächelnd musterte. Ein Kühlakku rutschte mir von der Stirn und landete mit einem plumpen Geräusch auf meiner Matratze. Ich schluckte, schloss die Augen und zwang mich zur Ruhe, während ich gleichzeitig zitterte. Ich hatte von Ruby geträumt. Zum ersten Mal seit ihrem Tod hatte ich wieder von ihr geträumt. "Hast du gut geschlafen?", fragte das Wassermädchen betont höflich. Ich öffnete die Augen und verzog das Gesicht. "Soll das ein Witz sein?" Stöhnend ließ ich mich ins Kissen zurücksinken. Nachdem der Schreck langsam aus mir heraussickerte, spürte ich die Schmerzen. Vor allem mein Kopf dröhnte und pochte, als würde er soeben mit einem Hammer bearbeitet worden sein. Meinen Kiefer traute ich nicht anzufassen, denn ich war mir ziemlich sicher, dass er nach dem Tritt des Wassermädchens ganz schön demoliert war. "Du siehst schrecklich aus", bemerkte sie nüchtern. "Das ist doch deine Schuld", jammerte ich. "Was erzähle ich denn jetzt meinen Eltern?" Das Wassermädchen begann meine Füße zu massieren. "Dass du beim Duschen hingefallen bist", schlug sie vor. "Vergiss es", brummte ich. "Dann erzähl ihnen gar nichts. Man kann es überschminken. Das Blut habe ich letzte Nacht schon abgewaschen." Sie erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung. "Was ist eigentlich passiert?", fragte ich trocken. "Nachdem ich in Ohnmacht gefallen war?" "Ich habe dich hergebracht und du hast schlecht geträumt." Das Wassermädchen öffnete mein Fenster und schwang sich auf das Sims. "Mach dir ein schönes Wochenende. Wir treffen uns Montag Nacht." Mit den Worten glitt sie zum Fenster hinaus. Ich sah ihr nach, wie sie sich durch die Büsche schlängelte und schließlich über den Sand trabte. Der starke Wind zerrte an ihren Haaren und Kleidern, die sie unmittelbar vor dem Wasser abstreifte. Schließlich sprang sie in den wilden Wellengang und verschwand. An meiner Tür klopfte es. "Ja?", sagte ich zögerlich. Ich hatte Angst, dass mein Kiefer zu offensichtlich zu erkennen war. Die Klinke drückte sich nach unten und ich zog mir die Decke bis ans Kinn. Es war Mum, die schließlich ihren Kopf hineinsteckte. Die blonden Locken umrahmten ihr blasses, unscheinbares Gesicht. Einem Gespenst gleichend schwebte sie auf mich zu. "Guten Morgen, Holly", sagte sie leise. "Hallo", brachte ich krächzend hervor. "Schatz, wir müssen in einer Stunde los." Ich ignorierte den Namen 'Schatz' und sah sie verwirrt an. "Wohin los?", wollte ich wissen. Mum setzte sich auf meine Bettkante. "Na, Jensons' Schwimmturnier. Heute ist Samstag." Auch das noch! "Stimmt." Ich ließ die Beine aus dem Bett baumeln, während ich mich wegdrehte. "Ich komme sofort."

Nachdem ich mir eine halbe Packung Make-up ins Gesicht geschmiert hatte, traute ich mich allmählich zum Frühstückstisch. Da das Wassermädchen mir geraten hatte, mich nicht zu ruckartig zu verändern, trug ich immer noch eins meiner weißen Kleider, hatte meine Haare jedoch zu einer aufwendigen Frisur aufgesteckt. "Hübsch siehst du aus", bemerkte Dad, als ich in die Küche kam. "Danke." Ich ging zu dem freien Stuhl und setzte mich hin. "Müssen wir uns beeilen?" Ich nahm mir einen Toast, bestrich ihn mit Marmelade und biss herzhaft hinein. Die Nacht hatte ihre Opfer gefordert und mich hungrig gemacht. Ich kam mir auf einmal vor, als würde ich in zwei verschiedenen Welten leben. Es gab die Welt, auf die ich mich vorbereiten musste, die schreckliche Welt, in der irgendetwas grausames auf mich zu kam. Und es gab die Scheinwelt meiner Familie. Jeder hier spielte seine Rolle, aber wir zeigten nie die Menschen, die sich hinter den Masken verbargen. Kaum war ich mit meiner Familie zusammen, kam mir die Welt des Wassermädchens unwirklich vor. "Wir fahren in zwanzig Minuten", beantwortete Mum meine Frage. Ich nickte bestätigend. Das war in Ordnung. Na ja, ich würde meine Rolle heute stärker spielen müssen als sonst, denn heute musste ich nicht nur meine Trauer, sondern auch die Schmerzen verbergen. Am liebsten würde ich die Felshöhle von Ruby's geheimnisvollen Freunden suchen und mit ihnen über alles reden. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich nicht für verrückt halten, sondern mich womöglich sogar verstehen würden. Aber ich musste zu Jensons' Schwimmturnier und außerdem wäre es unfair dem Wassermädchen gegenüber, irgendwem von ihr zu erzählen. Sie hatte mir zwar nie ausdrücklich gesagt, dass ich sie geheim halten sollte, aber irgendetwas vermittelte mir das Gefühl, dass es besser war zu schweigen. "Gegen wen wirst du antreten?", wollte Dean von Jenson wissen. Im Gegensatz zu mir fieberte er mit unserem Bruder mit. Mich beschlich ein schlechtes Gewissen, als mir auffiel, wie wenig mich dieses Turnier interessierte. Ich war eine miese Schwester. "Jacob wird mitschwimmen", sagte Jenson kauend. Jacob war einer seiner Freunde, an denen ihm wirklich etwas lag. Jenson legte nicht viel Wert auf soziale Kontakte, aber Jacob mochte er gerne. Vielleicht, weil sie beide gern für sich blieben. "Und ansonsten zwei von der Saint George. Den Rest kenne ich nicht." Dean verzog das Gesicht. Es war unschwer zu erkennen, dass er die Jungs von der Saint George nicht mochte. Es war eine private Jungenschule und die Leute, die sie besuchten, waren eingebildete Söhne reicher Geschäftsmänner. Dean mochte eher die Jungen, die natürlicher waren. Er hatte viele Freunde, jeder kannte ihn. Dean Spencer, der Surfer und gutaussehende Junge, den die Mädchen liebten. "Bist du aufgeregt?", fragte ich und nahm mir einen weiteren Toast vom Stapel, dann schaufelte ich mir Rührei und Schinken auf den Teller. "Quatsch." Jenson winkte ab. Ich hätte es mir eigentlich auch denken können, denn ich hatte meinen Bruder noch nie nervös erlebt. Er vertraute ganz auf sich und seine Schwimmkünste. Für ihn gab es keine Gründe zur Aufregung. "Gut", sagte ich nickend, da mir nichts einfiel, was ich hätte sagen können, um die Konversation am laufen zu halten. "Es ist kein schönes Wetter", meldete sich Dad zu Wort. "Es wird kalt für euch Schwimmer." "Es wird angenehm erfrischend", korrigierte Jenson. Ich lächelte in mich hinein. "Du hast Recht", sagte Dad matt. "Es wird angenehm." "Wie lang geht das Schwimmturnier?", führte ich meine Befragung fort. "Es fängt um elf an und dauert und geht bis drei", sagte Jenson. Ich meinte, nicht richtig zu hören! "Vier Stunden?", entfuhr es mir. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. "Jetzt beruhig' dich mal", sagte Dean erschrocken und legte seine Hand auf meinen Arm. "Wir haben doch nichts vor." Benommen nagte ich auf meiner Unterlippe. Warum war ich nur so aus der Haut geraten? Schließlich gehörte zu so einem Turnier nicht nur das Wettschwimmen. Es gab die Siegerehrung, ein Grillfest und einen Getränkewagen. Aber ich konnte ihnen schlecht sagen, dass ich noch zum Friedhof wollte, um den Fall um Bethany Faistone aufzuklären, dass ich meine neuen Freunde wiedersehen wollte und zudem ein seltsames Wassermädchen zu identifizieren hatte. "Wer kümmert sich um's Hotel?", fragte ich, ruhiger jetzt. "Charlotte", sagte Mum und begann, den Tisch abzuräumen. Ich starrte auf mein unangetastetes Rührei. Der Appetit war mir vergangen. Charlotte war eine unserer Reinigungskräfte. "Nimmt sie die Rezeption?", hakte ich nach. Dad nickte mit vollem Mund. "Mach dir darum keinen Kopf, Holly." Ich wollte etwas erwidern, aber die Worte verfielen innerhalb von Sekunden. Ich war ziemlich verwirrt, was wahrscheinlich an meinen sämtlichen Verletzungen lag. Wenn sie nur wüssten, was hier wirklich abgeht,  dachte ich verbissen, dann würde ihnen das blöde Schwimmturnier auch nicht meht so viel bedeuten!  Ja, so war es. Für meine Familie war der Wettkampf das Highlight der Woche, für mich jedoch stellte er nur ein weiteres Hindernis dar. Aber auf einmal kam mir eine Idee, wie ich die kommenden vier Stunden einigermaßen entspannt verbringen konnte. "Kann Abigail mitkommen?", fragte ich, während ich Mum meinen vollen Teller reichte. Sie nahm ihn an und warf die Reste in den Müll. "Natürlich", sagte sie trocken. "Wenn dir deine Familie nicht reicht." "Das habe ich nicht gesagt!", protestierte ich empört. "Nein, aber du denkst es doch", sagte sie, während sie geschäftig den Tisch abwischte. Wie sie es sagte, klang es, als wäre das schon keine Neuigkeit mehr für sie. "Das ist nicht wahr", sagte ich gekränkt. "Dann schaffst du es doch auch sicherlich, einen Tag ohne Abigail zu verbringen, oder nicht?", antwortete Dad. Obwohl er lächelte, war seine Aussage sehr bestimmt. "Das Mädchen will doch noch Zeit mit ihrem Freund verbringen", stimmte Mum ihm zu. "Und wir Zeit mit dir", vollendete Dad strahlend. Ich grummelte irgendetwas zustimmendes. Dann würde ich halt ohne meine beste Freundin zum Turnier fahren. Vielleicht hatten meine Eltern auch Recht und ich war tatsächlich so wiederwärtig und grenzte sie von meinem Leben ab. Aber was sollte ich schon tun? Die Wahrheit war eine Lüge in ihrer Welt, wie ein Märchen. Etwas, weswegen sie mich auslachen würden, wenn sie davon erfahren würden.

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Hallo ihr da draußen! ♥ Vielleicht habt ihr bei dem Wetter keine Zeit zu lesen, aber wenn doch, dann würde ich mich über eine kleine Rückmeldung sehr freuen. ♥

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