Kapitel 16
"Wir fangen mit dem theoretischen Teil an", sagte das Wassermädchen und setzte sich im Schneidersitz vor mir hin. "Wozu dann diese Kampfkleidung?", fragte ich, während ich mich ihr gegenüber setzte. Sie lächelte und im Mondschein wirkte dieses Lächeln monströs und gefährlich. Ich fragte mich, wo das wunderschöne Mädchen von eben abgeblieben war und wann sie sich in diese Bestie verwandelt hatte. "Du trägst sie nicht nur wegen des Trainings, du trägst sie, um zu wissen, wer du sein kannst", erklärte sie. Ich verstand nicht ganz. "Wer ich sein kann?" Ich lehnte mich vor, wobei mir meine langen Haare wie ein Vorhang über die Schultern glitten. "Langsam solltest du aus deinen Klein-Mädchen-Kleidern rausgewachsen sein, meinst du nicht?" Sie legte den Kopf schief und presste die Lippen zu einer geraden Linie zusammen. "Ich mag diese Kleider. Außerdem kenne ich mich ja selbst nur darin. Was anderes steht mir nicht", entgegnete ich schüchtern. "Das kannst du nicht wissen", widersprach sie scharf. "Du trägst sie, weil du Angst hast, aufzufallen. Weil du ein mickriges Selbstvertrauen hast, weil du nicht erwachsen wirken willst." Ich legte meinen Kopf in den Nacken und sah zu der schmalen Mondsichel auf. Die Nacht war schwül; ein Netz aus Schweiß hatte sich auf meiner Stirn gebildet. Irgendwie schmerzten ihre Worte mich. Vielleicht, weil sie gerade dabei war, die Welt zu zerstören, die ich, naiv wie ich war, aufgebaut hatte, wobei sie natürlich Recht behielt. Nur tat mir die Weise weh, wie sie diese Worte sagte. Das Wassermädchen stellte mich als Versagerin hin. "Warum machst du mich so fertig?", fragte ich geraderaus. Das Wassermädchen durchbohrte mich mit einem eisigen Blick. "Ich mache dich nicht fertig, ich bin ehrlich", erklärte sie nach einer Weile. "Ja, aber was genau willst du von mir? Wozu das alles? Und jetzt erzähl mir nicht, dass es zu meinem Schutz ist. Ich muss konkret wissen, was auf mich zukommt." Ich stieß die Luft aus, während ich die Haltung änderte. "Es gibt nichts konkreteres", zischte das Wassermädchen. "Und ich tue das, damit du dich in deiner Haut endlich wohler fühlst. Ich will, dass du für voll genommen wirst, die Leute sollen dich mit Respekt behandeln." "Aber das tun sie!", unterbrach ich schrill. Sie lachte auf, dann zeigte sie mir einen Vogel. "Falls es dir nicht aufgefallen sein sollte: Du wirst herumkommandiert! Den ganzen Tag arbeitest du im Hotel, den ganzen Tag kümmerst du dich um andere. Wo bleibst du? Wo bleibt deine Freizeit? Es ist nicht okay, was deine Familie mit dir anstellt." Ich schloss die Augen, um ihre Worte zu verdauen. Das Wassermädchen sprach schnell und viel. "Meine Familie macht sich Sorgen um mich", erklärte ich geduldig. Sie stöhnte auf. "Hör auf, ständig das Verhalten anderer rechtfertigen zu wollen! Die Menschen leben nicht ohne Fehler und du musst bereit sein, das einzusehen und dich zu wappnen", sagte sie. Während ich dem Rauschen der Wellen lauschte, beschloss ich, nicht mehr nachzufragen, sondern einfach ihrem Instinkt zu folgen. "Na gut", sagte ich und straffte die Schultern. "Dann zeig mir, wer ich sein kann." Im Dunkeln der Nacht meinte ich ein Lächeln über ihr Gesicht huschen zu sehen. Ihre flammend heiße Hand griff nach meiner, um mich wenig später elegant aufzuziehen. "Lass uns einen Spaziergang machen." Ich folgte ihr den Strand hinunter, bis wir so nah am Wasser liefen, dass der Schaum der Wellen unsere Knöchel umspielte. Mich überkam eine Gänsehaut, für die ich mich beinahe schämte. Sie hatte Recht, ich musste mehr Risiko eingehen. "Also", begann das Wassermädchen mit einer sanften, schaumigen Stimme, die fast so klang wie der seichte Seegang dieser Nacht. "Fangen wir mit ein paar Aspekten für die Zukunft an." Sie sah mich abwartend an, worauf ich nickte, um meine Bereitschaft zu demonstrieren. Ich würde diese Aspekte erfüllen, was sie auch abverlangten. "Hauptsächlich geht es darum, dein Selbstbewusstsein zu stärken", sagte das Wassermädchen. "Erst besprechen wir ein paar Dinge, die dich psychisch belastbarer machen und dann kommt das Kampftraining. Es wird dir helfen, zu überstehen, was kommt und passieren wird, also nimm es bitte entsprechend ernst." Als sie eine Sprechpause einlegte, nickte ich wieder, da ich zu schüchtern war, etwas zu sagen. "Schön", fuhr sie fort. "Was du tun solltest: trage andere Klamotten. Sei mutig mit deinem Style, falle auf, schminke dich, um der Welt zu zeigen: Das bin ich. Ich bin selbstsicher. Schon allein das kann dich vor einigen Vorfällen bewahren." Wieder bildete sich eine Gänsehaut auf meinen Unterarmen. Diesmal lag es jedoch nicht am Meer, sondern an den 'Vorfällen', die sie erwähnte. Sie wusste mehr, aber sie wollte nichts verraten. Es sollte auf mich zukommen und ich würde handeln müssen - wenn möglich mit Gewalt. "Sei eine Fünfzehnjährige, die als solche erkannt und respektiert wird. Ich weiß, du bist geistig sehr reif und erwachsen, aber dein Aussehen wirkt kindlicher. Du wirst merken, dass auch deine Familie dich anders behandeln wird. Ziehe Kleidung an, die deine Figur betont. Mache etwas mit deinen Haaren. Und auf Abigail's Party: Trage ein angemessenes Kleid oder einen Rock! Etwas, weswegen die Leute dir hinterhersehen werden." Das Wassermädchen legte mir ihre Hand auf die Schulter und sah mich an. Ihr Blick bohrte sich wie Feuer in meine Wangen, doch ich starrte krampfhaft dem Horizont entgegen. "Woher..." Ich schluckte. "Woher weißt du von Abigail's Party?" Ich spürte ihr Grinsen. "Ich habe die Einladung unter deinem Kopfkissen gefunden", erklärte sie knapp. "Aber zurück zum Thema. Holly, was du brauchst, ist Ausstrahlung und Selbstbewusstsein. Außerdem solltest du deinen Eltern Widerworte geben und deine Meinung durchsetzen. Ja, du musst deine Meinung klar und deutlich sagen können. Ohne Rücksicht auf ihre Gefühle", fügte das Wassermädchen hinzu, als ich zum Protest anhob. "Schön", sagte ich grimmig. "Das bekomme ich hin." Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. "Es muss auch nicht von heut auf morgen sein. Lass es langsam angehen." "Ich verstehe", antwortete ich, obwohl ich rein gar nichts von dem verstand, was hier ablief. Es kam mir alles so unrealistisch vor, wie ein viel zu langer Traum. Und gleich würde ich aufstehen und alles wäre wie immer. Es würde sein, als hätte es das Wassermädchen nie gegeben. "Jetzt üben wir dich im Kämpfen", unterbracg sie meine Gedanken und fegte den Traum vom Albtraum davon. Bei ihren Worten zog sich mein Magen zusammen. "Bitte nicht!", hauchte ich und zog den Kopf ein, doch ihre Miene blieb hart, während sie sich breitbeinig vor mir aufbaute. Schließlich spuckte sie mir vor die Füße, dann klatschte sie in die Hände. "Ganz wichtig: Bleibe immer stehen! Sobald du am Boden bist, sinken deine Chancen zu entkommen. Beachte immer, eine stabile Haltung zu bewahren. Breitbeinig, die Knie leicht gebeugt!" Stöhnend tat ich wie geheißen und stellte mich vor sie. "Und sei niemals vorsichtig. Wenn du zuschlägst, dann richtig. Warte nicht, bis du angegriffen wirst, sondern greife selber an. Das macht Eindruck und schüchtert den Gegner ein." Ich hob fragend die Faust. "Soll ich dich jetzt schlagen, oder was?" Das Wassermädchen verdrehte die Augen. "Nein!", rief sie, dann warf sie ihr Haar zurück. "Und solltest du treten", fuhr sie fort, "dann hole seitlich aus. So bekommst du mehr Schwung." Ehe ich mich's versah, hatte sie mir mit voller Wucht in den Oberschenkel getreten. Ich schrie auf, ruderte mit den Armen und fiel fast hin, doch ich fing mich im letzten Moment. Das Wassermädchen lachte mich aus. "Du musst noch einiges lernen, Schätzchen." Der Kosename klang herablassend. Ich verzog das Gesicht. "Du hast mit wehgetan", sagte ich mit zittriger Stimme. "So ist das Leben", erwiderte sie, ohne die Miene zu verziehen. Dann ließ sie ihre Fäuste dennoch sinken. "Holly, das musst du aushalten. Und du du musst schnell handeln. Es gibt immer einen Weg, sich zu befreien, ob du nun trittst oder schläfst. Sehr effektiv ist ein Fausthieb auf die Nase. Das tut höllisch weh und lässt einen Menschen minutenlang tränen. Du kannst vor den Kehlkopf schlagen, du kannst in die untere Mitte boxen. Und schau nur, aus Griffen kannst du dich mit einer Bewegung lösen." Sie hielt mir ihr Handgelenk hin. "Was soll ich damit?", fragte ich irritiert. Mein Oberschenkel brannte höllisch. "Halt es fest", forderte sie mich auf. Langsam schloss ich meine Finger um ihren perfekten, porzellanweißen Arm. Mit einer Bewegung hatte sie sich befreit. "Jetzt du", grinste sie und packte mein Handgelenk. Ich ahmte ihre Bewegung nach - und kam tatsächlich frei. "Dagegen ist dein Gegner wehrlos. Kneifen, beißen, kratzen ist auch super. Oder mit dem Kopf kannst du jemanden auch verletzen. Und du solltest immer schreien. Damit verleihst du dir mehr Kraft uns sorgst für Hilfe." Erst schüttelte ich den Kopf, dann nickte ich. Das war zu viel für mich. Die Schmerzen, die Müdigkeit, ihr Anblick und dann noch dieses Training, von dem ich nicht einmal wusste, was es mir bringen wollte. Das Wassermädchen hob die Fäuste. "Bereit?" "Nein", gab ich zurück, doch da hatte ich schon ihr Knie im Bauch. Für einen Moment fürchtete ich, mein Abendbrot zu verlieren, doch dann erinnerte ich mich an ihre Anweisungen und schlug ihr auf die Nase. Nicht so fest wie ich konnte, aber sie verzog trotzdem das Gesicht. Blut strömte ihr Gesicht hinunter. Wenig später trat sie mir mit voller Wucht auf den Fuß und verpasste mir einen Kinnhaken. Da sie mir letzte Nacht schon einen gegeben hatte, schürte dieser nur meine Wut. "Lass das!", brüllte ich, während ich ihr meinen Ellbogen vor die Brust rammte. Ich sah genau, wie sie nach Luft schnappte, ich beobachtete ihr Gesicht haargenau. Röte stieg ihr in die Wangen und ihre Augen bekamen etwas wildes. Knurrend schlug sie mir ins Gesicht, duckte sich unter meinen Fäusten himdurch unr trat mir vor den anderen Oberschenkel. Dann sah ich den Sand immer näher kommen und fiel der Länge nach hin. Ich realisierte es erst, als sich die scheuernden Sandkörner in meine Haut brannten. Doch mir blieb keine Zeit, mich aufzzrappeln, denn keine zwei Sekunden später war das Wassermädchen über mir. Mit dem Handrücken wischte sie sich das Blut von der Nase, während sie lachte. Es war ein fieses Lachen, das über das Meer sauste und von den Felsen im Horizont zurückgeworfen wurde. Ich sah, wie sie ihren Fuß hob. Ich merkte, wie ich meine Hände vors Gesicht hob, ich merkte, wie ich "Stopp!" kreischte, aber was ich nicht merkte, war ihr Fuß auf meinem Kiefer. Was ich allerdings schon merkte, war, wie mein Kopf von dem Tritt nach hinten katapultiert wurde. Ein grässlicher Laut verließ meine Kehle, ein Gurgeln, und in meinen Mund drang metallisches Blut. Das Blut, nach dem sie roch. Ich machte ein weiteres Geräusch, einen Stöhnen diesmal, bevor ich mich in den Strudel gleiten ließ, der mich umgab. Das letzte, was ich spürte, war der leise Wind, der auffrischte, um meine schweißnasse Stirn zu trocknen.
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[Und falls ihr die Tribute von Panem mögt, schaut doch mal bei meiner neuen FF vorbei. :) Sie heißt:"Die Tribute von Panem - mörderisches Vergnügen" und ist ganz neu. ♥]
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