Überführt
Anita ist sauer. Das ist sie immer, wenn sie einen Blick in den
großen Spiegel riskiert hat, der gleich links neben der
Eingangstür im Vorsaal hängt.
Anita ist 13 - und fett, hässlich - einfach das Letzte - meint sie neuerdings. Rund ist nur ihr Po, während sich ihr Oberkörper als Snowboard eignen würde. - So hat sie sich nach der letzten Reflektorbegegnung beschwert. Und nun bekommt sie auch noch Pickel. Sie möchte am liebsten sterben, wundert
sich, warum sich die Passanten nicht erbrechen - oder zumindest
vor Schreck erstarren, wenn sie ihr auf der Straße begegnen.
Das Telefon klingelt, Juliane ist dran. Die ist Anitas allerweltbeste Freundin.
"Gehste mit zum Frühlings-Rummel?", tönt es aus der Muschel.
"Nö, so eklig, wie ich ausseh, fangen die mich glatt für die Geisterbahn weg", witzelt das "Pockenmonster", wie sie sich selbst nennt - ein bisschen gezwungen.
"Ach komm schon! Ich beschütz dich. Ich zahle auch drei Runden
Twister - oder was immer du willst." - Honigsüßes Locken.
Schließlich hat Juliane Erfolg.
"Na gut, aber wenn mich wer blöd anmacht, gehn wir sofort
heim."
Sie wankt zur Küche, in dieser ihrer neuen, coolen Gangart.
"Mum, gibste mir ein bisschen Geld? Juliane will mich auf den
Rummel schleppen."
Die Mutter rückt einen "Zwanni" raus und grinst, als ihre
Tochter vor sich hin summend - unter Spiegelmeidung -
entschwindet.
Ein stiller Nachmittag vergeht, ehe Anita heimkehrt. Sie ist
sehr nachdenklich und verzieht sich gleich auf ihr Zimmer. Auch
während des Abendessens ist das Mädchen auffallend
verträumt.
Als sie anschließend noch am Tisch vor sich hin brütet, fragt
die Mutter, was denn los sei, dass sie so vor sich hin
meditiert.
"Mum, glaubst Du, dass Spiegel manchmal lügen?", murmelt Anita.
"Ihr wart wohl im Spiegelkabinett?"
"Genau. Und da konnte man alle möglichen Spiegelbilder finden.
Das eine war total cool. Da war ich schlank - und hatte
mächtig Holz vorm Haus."
Mutter lächelt vor sich hin.
"Und dann war da so ein Typ am Autoscooter, der hat mich die
ganze Zeit angestarrt... - also, so wie ein Kunstwerk oder
dergleichen.
Und da hab ich irgendwie gedacht, ob nicht vielleicht dieser
eine Spiegel die Wirklichkeit zeigte und unser Teil hier im
Flur einfach auch schwindelt."
"Schon möglich", scheint Mutter laut zu überlegen.
"Sag, Mum, bin ich fett oder hübsch?"
"Ich finde Dich sehr nett anzuschauen."
* * *
Weckerrasseln. Morgenroutine. Schnell eine Schüssel Corn Flakes verinnerlicht und einen Becher Milch getrunken...
Vor der Gartentür steht Juliane, gemeinsam mit dem Typen von
gestern.
Der ist ein bisschen verlegen, aber die Freundin plappert gleich
drauf los, dass das der Nils sei und der gern mit Anita gehn
wolle und er sich gestern nur nicht getraut habe, weil da alle
seine Kumpels dabei gewesen seien.
Als der Schultag beendet ist, hört man Anitas schiefes Pfeifen
durch das Treppenhaus. Ein wenig gespannt ist die Mutter schon,
was sich denn so ergeben hat.
Schlüsselklappern, die Schultasche schlägt krachend neben der
Wohnungstür auf. Ein Schuh erschlittert sich auf dem glatten Boden
einen neuen Flurrekord und verkriecht sich unterm Schuhschrank.
Mutter tritt aus der Küche.
"Nils hat gesagt, er findet mich total süß!", platzt Anita gleich mit der wichtigsten Neuigkeit heraus.
Sie schlüpft in ihren Pantoffel und präsentiert dem Lügenspiegel ihre Zunge:
"Bääääääh".
Mutter lacht.
[ Aufschreiber ]
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