Kapitel 6


--- Seine Sicht ---

Mit einem Knall appariere ich vor meine Wohnung am Rand Londons, die ich mir mit Ryan teile. So leise wie möglich schleiche ich hinein. Doch kaum habe ich die Tür geöffnet, steht mein verwirrt und wütend aussehender Mitbewohner mit verschränkten Armen vor mir.
"Wo warst du?", fragt er.
"Geht dich das etwas an?", frage ich rhetorisch und will mich an ihm vorbei in mein Zimmer schieben, aber er versperrt mir den Weg.
"Charlie! Es ist beinahe drei Uhr morgens und mich würde einfach mal interessieren, was du die letzten sieben Stunden so getrieben hast."
"Wie gesagt, das geht dich nichts an."
"Hast du dich mit einer Frau getroffen?", fragt er grinsend und bevor ich überhaupt über eine Antwort nachgedacht habe, wird sein Grinsen immer breiter.
"Oh Mann! Ich glaube, ich spinne! Wie hat sie dich denn dazu gebracht? Ich versuche seit einem halben Jahr, dich aus der Bude zu schleifen und was hat es gebracht? Rein gar nichts", plappert er aufgeregt und bemerkt gar nicht, wie ich mich an ihm vorbei in mein Zimmer geschoben und die Tür hinter mir geschlossen habe.
Ich wusste doch, dass das nicht gut enden wird, wenn Ryan davon weiß. Jetzt lässt er mich sicher nicht mehr in Ruhe. Müde lasse ich mich auf mein Bett fallen und lasse den Abend noch einmal Revue passieren. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so glücklich war. Lächelnd schaue ich auf den neuen, mit einem Sternchen markierten, Kontakt in meinem Handy.


--- Deine Sicht ---

Lachend sehe ich Charlie zu, wie er verzweifelt versucht, seine Haare vom Schnee zu befreien. Wir sind in einem Park spazieren gegangen, als sich plötzlich ein Ast, der über seinem Kopf hing, von seiner weißen Last befreit hat, als ein Vogel auf ihm gelandet ist. Tja, und Charlie hat eben die ganze Ladung abbekommen.
"Das ist nicht lustig!", beschwert er sich und fährt sich immer wieder durch die Haare, die mittlerweile ziemlich nass sind. Aber ich lache nur noch mehr.
"Na warte!", meint er dann und knallt mir plötzlich einen Schneeball an den Kopf.
"Du ... Das bekommst du zurück!", rufe ich und schleudere einen Ball in Richtung seines Kopfes.
"Daneben!", grinst er und duckt sich unter ihm weg. Also schnappe ich mir kurzerhand eine Handvoll Schnee und klatsche sie ihm in den Nacken, sodass das kalte Nass unter seine Jacke rutscht. Doch bevor ich überhaupt anfangen kann zu lachen, habe ich einen Schneeball an die Schulter bekommen, der meine Haarspitzen durchnässt. So schnell wie möglich werfe ich einen zurück und treffe ihn dieses Mal überraschenderweise mitten ins Gesicht. Etwas geschockt steht er da und befreit sein Gesicht vom Schnee, während ich mich vor Lachen kaum mehr auf den Beinen halten kann.
"So, jetzt reicht es!", sagt er drohend und kommt schnell auf mich zu. Ich erwarte schon, dass er einen Schneeball hinter dem Rücken hervorholt, aber stattdessen landen wir beide auf dem Boden und ich bekomme wenig später ebenfalls Schnee ins Gesicht. Schnell will ich mir die Sicht freimachen, als eine zweite Ladung folgt. Lachend kreische ich auf und grabe meine Hand in den Schnee, die ich ihm dann wieder ins Gesicht drücke. Schnell will ich aufstehen, aber er greift um meine Mitte und ich lande wieder im Schnee, wo ich dann lachend liegenbleibe, er neben mir.

"Ich bin am Erfrieren!", schnattere ich, als wir eine Stunde später wieder in der Innenstadt sind.
"Lust auf Kaffee?"
"Da fragst du noch?" Er lacht und legt mir einen Arm um die Schultern.
"Deine Haare sind ja ganz nass", sagt er dann und nimmt eine meiner Strähnen in die Hand.
"Ja, jetzt sehe ich bestimmt schrecklich aus."
"So ein Quatsch! Du bist wunderschön", sagt er dann lächelnd. Sofort erröte ich.


Gemeinsam verlassen wir das Kino und treten auf die nachtschwarze Straße hinaus. Es hat schon wieder angefangen zu schneien, aber es sieht einfach wunderschön aus, da die Straßenlaternen die Schneeflocken funkeln lassen.
"Charlie? Können wir noch einmal in den Park gehen, wo wir vor zwei Wochen waren? Es war so schön da!", frage ich leise. Er sieht mich lächelnd an und nickt.
Dieses Mal führt er mich jedoch nicht zu der Brücke über dem See, sondern zu einer kleinen überdachten Bank.
"Sieh mal", sagt er leise und zeigt nach links an mir vorbei. Was ich sehe, lässt mich den Atem anhalten. Wie gelähmt beobachte ich das traumhafte Schauspiel.
"Komm", flüstert er und zieht mich vorsichtig neben sich auf die Bank. Ich lehne mich an ihn und spüre, wie er den Arm um mich legt. Meine volle Aufmerksamkeit liegt auf der Wiese vor unseren Augen. Sie wird von Bäumen begrenzt. Ihr Gras ist etwa kniehoch. Doch das, was mir wirklich den Atem raubt, sind die vielen kleinen leuchtenden Lichter, die in und über der Wiese umherfliegen. Es sind an die tausend und zusammen führend sie ein Schauspiel auf, das ich noch nie zuvor gesehen habe. Und jetzt verstehe ich auch das, was meine Mum früher immer zu mir und meinem Bruder gesagt hat: Das Leben besteht nicht aus Momenten, in denen wir atmen, sondern aus denen, die uns den Atem rauben!
"Sind das Glühwürmchen?", frage ich flüsternd.
"Ja", sagt er genauso leise. Immer noch fassungslos und wie in Trance sehe ich die vielen umher schwirrenden Lichter an.
"Das ist so wunderschön", sage ich leise und sehe ihn an. Er schaut mir in die Augen und ich ihm. Dieses intensive Braun macht mich einfach wahnsinnig. Mein Blick wandert über sein Gesicht, das ich - je länger ich es betrachte - immer schöner finde. Es ist etwas kantig, was ich aber unglaublich attraktiv finde. Seine Nase ist gerade und mit Sommersprossen übersät. Als mein Blick an seinen Lippen hängen bleibt, schlägt mir mein Herz bis zum Hals. Wenn er mich jetzt nur küssen würde ...
Dieser Wunsch in mir wird immer größer, je länger ich ihn ansehe. Auch seine Augen wandern über mein Gesicht und springen letztendlich zwischen meinen Augen und Lippen hin und her.
'Los! Küss mich!', denke ich, aber es passiert nichts. Wir sehen uns einfach nur an. Ich kann nicht sagen, wie lange wir das so gemacht haben. Ich gebe jedoch schließlich die Hoffnung auf einen Kuss auf. Aber dann kommt er meinem Gesicht langsam näher. Mein Herz hämmert in meiner Brust, sodass ich befürchte, sie zerreißt mir gleich. Es ist ein unglaubliches Gefühl.
'Küss mich, küss mich!' Unsere Gesichter sind gerade noch einige Zentimeter entfernt und unsere Nasen berühren sich. Sein Atem streift mir sachte über das Gesicht. Schon fast kann ich seine Lippen spüren. Doch plötzlich wendet er seinen Blick von mir ab und schaut wieder nach vorn. Mein Herz zieht sich schlagartig zusammen und jagt mir einen Dolch hinein.
"Ich sollte dich nach Hause bringen. Du bist ganz kalt", sagt er dann, ohne mich anzusehen. Seine Stimme klang seltsam kalt. Jetzt bin ich einfach nur verwirrt. Wir hätten uns beinahe geküsst, als er im letzten Moment zurückgezogen hat und jetzt ist er ganz erpicht darauf, mich nach Hause zu bringen. Und das nach dem wunderschönen Abend, den wir zusammen verbracht haben. Ich verstehe das nicht.
"Na schön", sage ich und bemühe mich, nicht allzu traurig zu klingen. Dann nimmt er seinen Arm von meiner Schulter.
Auf dem ganzen Weg bis zu mir nach Hause sprechen wir kein Wort miteinander. Oft sehe ich ihn an, aber er hat seinen Blick starr geradeaus auf die Straße gerichtet. Meine rechte Hand stecke ich absichtlich nicht in meine Jackentasche, dass er sie ergreifen kann, wenn er will.
Aber es passiert nichts dergleichen. Als sich unsere Hände unbeabsichtigt während dem Laufen berühren, steckt er seine linke sogar in seine Jackentasche und geht etwas weiter rechts von mir, sodass zwischen uns fast ein halber Meter Platz ist. So langsam kommt mir das alles spanisch vor.
Vor der Haustür des Wohnblockes, indem meine Wohnung liegt, bleiben wir stehen. Eine peinliche Stille tritt ein, in der keiner von uns beiden weiß, was er sagen soll. Wieder sehe ich ihn an. Er schaut dagegen unsicher zu Boden. Und dann tue ich etwas, was für meine Verhältnisse wirklich mutig ist. Ich mache zwei Schritte auf ihn zu, sodass ich direkt vor ihm stehe. Dann mache ich mich so groß wie möglich und küsse ihn. Zuerst passiert gar nichts, aber dann löst er sich ruckartig von mir und macht ein paar Schritte zurück. Traurig sehe ich ihn an.
"Ich kann nicht", sagt er leise. Es ist fast ein Flüstern. "Tut mir leid." Dann dreht er sich um, steckt die Hände in die Jackentaschen und geht mit schnellen Schritten davon. Mein Herz durchzieht einen stechenden Schmerz, aber ich gebe nicht einfach so auf.
"Charlie!", rufe ich ihm hinterher, aber er läuft einfach weiter und verschwindet um eine Hausecke. Deshalb renne ich ihm hinterher und bleibe vor ihm stehen.

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