Kapitel 3
--- Seine Sicht ---
Gelangweilt nippe ich wieder an meiner Bierflasche und sehe den kleinen Luftblasen zu, die an die Oberfläche steigen.
"Was meinst du dazu, Charlie?", fragt plötzlich Ryan.
"Was?", frage ich und sehe ihn fragend an. Er seufzt nur auf.
"Du hast wieder nicht zugehört, oder?"
"War es sehr wichtig?"
"Nein, aber-"
"Dann muss ich auch nicht unbedingt zuhören."
"Jetzt sei doch nicht so blöd ... Du verdirbst uns den ganzen Abend."
"DU warst doch derjenige, der mich hierher gezwungen hat."
"Ja schon, aber-"
"Also ... Halt die Klappe und nerv mich nicht weiter."
"Wann wirst du endlich wieder wie früher?", fragt er etwas genervt. Ich zucke nur mit den Schultern und blicke wieder auf meine Flasche.
"Wieso sollte ich ... "
"Das geht so nicht weiter! Es ist ein halbes Jahr seitdem vergangen und trotzdem bist du genauso deprimiert, wie kurz nachdem-", fängt er an, aber ich unterbreche ihn.
"Bitte Ryan! Du brauchst mich nicht daran zu erinnern, was passiert ist! Ich glaube, das weiß ich ganz gut selbst", schnauze ich ihn an.
"Tut mir leid, Alter! Aber ich kapiere nicht, wie du immer noch jeden Tag so mies drauf sein kannst."
"Hör zu, Ryan! Ich sage es dir jetzt zum letzten Mal! Du weißt nicht, wie es mir geht. Du hast überhaupt keine Ahnung. Also tu nicht so, als würdest du mir helfen können. Lass mir einfach die Zeit, die ich brauche, um das, was passiert ist, zu vergessen." Ausnahmslos jeder unserer Kollegen am Tisch starrt mich an, da ich immer lauter geworden bin.
"Was?", frage ich empört. Schnell schauen alle wieder woanders hin, als wäre nichts gewesen.
"Du brauchst eine Frau!", schlägt Ryan vor. "Leg eine flach, danach geht's dir besser!"
Ich starre ihn fassungslos mit offenem Mund an. Wie kann er nur so unsensibel sein? Er weiß genau, was damals passiert ist. Aber jetzt reißt mein Geduldsfaden endgültig. Wütend knalle ich meine Flasche auf den Tisch und stehe auf.
"Komm schon, Charles!", ruft er mir nach, aber ich ignoriere ihn. Meine Stimmung ist von mies auf unterirdisch gesunken, als ich mich deprimiert auf den Barhocker fallen lasse. Ich stelle die Ellenbögen auf die Bar und lege mein Gesicht in die Handflächen. Als ich mich wieder beruhigt habe, bestelle ich mir ein neues Bier. Nur im Augenwinkel sehe ich, wie sich zwei Frauen ein paar Plätze rechts von mir niederlassen.
"Was ist eigentlich mit deinem Theo?", höre ich die eine fragen. Ich wende meinen Kopf in ihre Richtung. Das Erste, das mir auffällt, sind die Haare der Frau, die gerade gesprochen hat. Sie sitzt mir am nächsten, aber ich sehe sie nur von hinten. Ihre Haare fallen ihr in wilden Locken über den Rücken. Was mich aber total verwirrt, ist ihre Haarfarbe. Sie erinnert mich an den Nachthimmel! Die Farbe kann unmöglich ihre Naturfarbe sein, aber ich finde sie überraschenderweise wirklich hübsch.
"Was meinst du, Az?", fragt die andere. Sie sieht im Vergleich zu der Blauhaarigen ziemlich aufgedreht aus. Ihre braunen Haare hat die mit einem bunten Haarband zurückgebunden, das so gut wie alle mir bekannten Farben enthält. Ihr T-Shirt ist einfarbig schwarz. Dafür zieht ihre Hose wohl alle Blicke auf sie, denn sie ist genauso bunt wie ihr Haarband und hat ein Karomuster. An den Füßen trägt sie Chucks, deren ursprüngliche Farbe nicht mehr wiederzuerkennen ist. Sie sehen aus, als hätte sie wahllos mit Filzstiften darauf herum gemalt.
"Na, hat er dich schon angerufen?", fragt die Blauhaarige. Sie heißt anscheinend Az, obwohl ich glaube, dass das ein Spitzname sein muss.
"Nein, noch nicht angerufen. Aber wir schreiben seit Dienstag."
"Toll! Und trefft ihr euch mal?", fragt Az.
"Ich hoffe schon! Aber ich ... "
"Er soll dich fragen, oder?", grinst sie.
"Komm schon! Das würdest du auch wollen!"
"Stimmt schon!"
"Ein bisschen altmodisch darf man ja sein."
Ich verdrehe die Augen. Mädchengespräche sind doch immer gleich und führen immer auf dasselbe hinaus. Ich fahre mir durch die Haare, die mir wie immer etwas unordentlich ins Gesicht hängen und bestelle mir nach drei Minuten ein neues Bier. Vielleicht hilft ja Alkohol gegen meine Laune.
"Sicher, dass das reicht? Du siehst aus, als bräuchtest du was Stärkeres!", grinst James, der Barkeeper.
"Vielleicht!", meine ich.
"Whiskey?", fragt er.
"Ach was soll's! Ich nehme einen!", sage ich. Normalerweise trinke ich selten etwas. Aber heute kommt es mir eher wie eine Erlösung vor, wie es in meinem Hals brennt, als wie etwas Unangenehmes.
Mein Blick wandert wieder zu der Frau mit den blauen Haaren. Sie unterhält sich mit ihrer Freundin und beide lachen. Mich würde mal interessieren, wie diese Az von vorn aussieht. Und vor allem wüsste ich gerne ihren richtigen Vornamen. Ich will gerade meinen Blick von den beiden Frauen lösen, als sie plötzlich beide in meine Richtung blicken. Jeder normale Mensch hätte wohl zuerst auf die Braunhaarige geschaut, da sie durch ihr farbenfrohes Auftreten einfach aus der Menge heraussticht. Aber meine Aufmerksamkeit gilt alleine der anderen. Zuallererst fallen mir ihre Augen auf. Sie sind türkis und strahlen eine ungeheure Lebensfreude aus. Außerdem passen sie perfekt zu ihren dunkelblauen Haaren, die ihr in wunderschönen Locken um das blasse Gesicht fallen. Sie sieht aus wie eine Fee aus einem Märchenbuch. Und sie blickt genau in meine Richtung.
Für einen Moment scheint die Zeit stehenzubleiben. Ich sehe ihr in die Augen und sie blickt zurück. Und dann lächelt sie. Kaum merklich, aber trotzdem sieht sie gleich noch viel schöner aus. Ich lächele zurück und muss mich beherrschen, sie nicht noch länger anzustarren. Also schaue ich wieder vor mir auf den Tresen.
Doch schon nach wenigen Sekunden überkommt mich das Verlangen, sie wieder anzusehen. Also wende ich meinen Kopf in ihre Richtung. Sie sitzt anders da, als vorhin, sodass ich sie jetzt viel besser von der Seite sehen kann. Ihre Augen strahlen, während sie aufmerksam dem Barkeeper zuhört und ab und zu etwas einwirft. Während sie redet, gestikuliert sie mit den Händen und immer wenn sie lacht, fährt sie sich mit der linken Hand durch die Haare. Sofort komme ich mir wie ein Stalker vor, also schaue ich schnell wieder weg. Jedoch kann ich es nicht vermeiden, sie immer wieder anzublicken. Sie hat einfach eine Ausstrahlung an sich, die nicht viele haben. Wenn sie lacht, dann kommt es mir vor, als wäre der halb abgedunkelte Raum für ein paar Sekunden etwas heller geworden. Ich wüsste wirklich zu gerne ihren Namen.
"Hör zu, Charlie! Wenn du sie noch länger so anstarrst, dann fällt es irgendwann nicht nur mir auf!", lacht James, der mittlerweile wieder bei mir steht. "Sprich sie doch einfach an!", schlägt er vor. Ich schüttele nur den Kopf. "Warum denn nicht? Du stehst total auf sie, das sieht ein Blinder!"
"Ich kann nicht!", antworte ich.
"Dein Kumpel da hinten hatte recht. Du musst endlich über deine Ex hinwegkommen!", grinst er. Ich verdrehe die Augen. Kann Ryan nicht ein einziges Mal etwas für sich behalten? Der ist ja schlimmer als die Tratschtanten damals aus der Schule.
"Ich habe damit einfach noch nicht abgeschlossen und solange ich das nicht habe, brauche ich gar nicht an Frauen zu denken." Dieses Mal ist er es, der die Augen verdreht.
"Ich sage dir was! Das, was du 'drüber hinwegkommen' nennst, nenne ich 'vor dich hin trauern'. Und glaub mir, ich habe das auch schon hinter mir und das, was du machst, bringt dich kein Stückchen weiter! Sprich sie an, frag sie nach ihrer Nummer und sieh zu, dass du aus deinem Versteck gekrochen kommst."
Ich sehe ihn etwas genervt an und schüttele den Kopf.
"Ich kann das einfach noch nicht!"
"Wie du meinst, aber glaub mir, was ich sage! Ich habe das auch schon erlebt. Und ich habe ein halbes Jahr vor mich hin gejammert wegen ihr. Und dann hat mich mein Bruder einer Freundin von ihm vorgestellt und ab da ging es bergauf. Also glaub mir, wenn du so wie jetzt immer drauf bist, dann kommst du nie wieder aus diesem Loch raus", redet er weiter auf mich ein.
"Ich nehme lieber noch einen Whiskey!", sage ich. Erneut verdreht er sie Augen, stellt mir aber einen hin.
"Du tust mir echt leid!", meint er dann und verzieht sich wieder zu den beiden Frauen. Lustlos kippe ich meinen Whiskey runter, lege das Geld auf den Tresen und verlasse die Bar.
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