Flucht
Geschrieben für Abbys Writing-Contests von SabinaOehler
Wörter: etwas über 900
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"Alles nur ein Traum, alles nur ein Traum..." murmelte Sam immer wieder vor sich her während sie zusammengesunken im dunklen und feuchten Keller hockte und ihre Knie umarmte. Sicher müsste sie es sich nur oft genug sagen, dann würde sie es irgendwann selber glauben oder es doch noch wahr werden. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie eigentlich schon, dass sich nichts mehr an der Situation ändern würde. Manche Dinge waren einfach endgültig und der Tod gehörte da auch dazu.
Während sich ihre Jeans immer mehr mit der Bodenfeuchtigkeit vollsog und ihre bereits leicht bläulichen Lippen angefangen hatten zu zittern, ließ sie den Tag nochmal Revue passieren. Alles fing so harmlos und gewöhnlich an: erst das gemeinsame Frühstück mit der Familie, bei dem sie sich mal wieder mit ihrem Bruder gestritten hatte wegen einer Kleinigkeit und ihr Vater lachend den Streit beendete weil ihre Mutter ihn schon wieder so seltsam angeblickt hatte.
Alles soweit normal, doch nach dem Frühstück ging jeder seinen Sachen nach. Ihr Bruder verschwand in seinem Zimmer, ihre Mutter ging ihrem Lieblingshobby, dem Gemüsegarten hinter dem Haus, nach und ihr Vater fing an vorne in der Einfahrt die Reifen am Familienauto zu wechseln. Natürlich mal wieder zu spät, immerhin war schon Juni und für die Winterreifen schon viel zu heiß, aber das war eigentlich fast jedes Jahr so.
Sie selber hatte sich gerade umgezogen und war noch am Überlegen, ob sie entweder ihrem Vater helfen wollte oder doch lieber im Gemüsegarten bei ihrer Mutter, als das Telefon klingelte. Sie nahm den Anruf an und es meldete sich eine Frau mit belegter Stimme: "Guten Tag, Seniorenresidenz Waldersee, ich würde gerne mit Frau Bienacker sprechen...". "O.K. ich hole schnell mal meine Mutter, einen Moment bitte" antwortete sie wie automatisch und ging dann in den Garten zu ihrer Mutter, die gerade im Schatten unter der Trauerweide einen Moment ausruhte.
"Mama? Telefon für dich... die Seniorenresidenz..." sagte sie monoton und ihre Mutter sprang erschrocken auf und rannte ins Haus. Irgendwie wollte der Gedanke nicht aus ihrem Kopf, dass ein Anruf um diese Zeit aus der Seniorenresidenz eigentlich nur eins bedeuten konnte. Aber das wollte sie nicht wahrhaben. Während eine Träne ihre Wange hinunterlief begann sie loszurennen. Durch den Garten, den ihre Mutter so liebevoll pflegte. Über das dahinterliegende Feld von Bauer Hemmler. Am kleinen Wäldchen mit den vielen Ulmen vorbei. Um den Teich vom Fischerverein herum.
Immer weiter rannte sie, bis sie an dem kleinen Gehöft ankam, welches mal ihren Großeltern gehört hatte und jetzt seit vielen Jahren leerstand und langsam verfiel. Ihre Schritte wurden erst langsamer, als sie vor der Tür zum Wohnhaus stand. Ihr Urgroßvater hatte die Tür einst geschnitzt, einst wunderschön mit Intarsien verziert, war sie jetzt nur noch ein Schatten davon. Von Aufklebern übersät und mit eingeritzten Sprüchen sowie Graffiti verunziert. Sie holte den großen Buntbartschlüssel aus seinem Versteck unter der Fensterbank und schloss die Tür auf.
Muffiger Geruch schlug ihr entgegen und gleichzeitig durchströmte sie das Glück alter und glücklicher Erinnerungen. Erinnerungen aus ihrer Kindheit, als sie mit ihrer Großmutter am alten Holzherd in der Küche auf die gebackenen Plätzchen gewartet hatte. Oder dort auf der Treppe, wo ihr Großvater extra den Knauf am unteren Ende des Geländers entfernt hatte, damit sie sich nicht wehtat beim Runterrutschen. Unwillkürlich musste sie lächeln. Erst hatte er es ihr lautstark polternd verboten, doch als er erkannte wieviel Spaß sie dabei hatte, wurde sein großväterliches Herz so weich wie Butter in der Sommersonne.
Doch dann verkrampfte sich ihr Gesicht und aus ihrem Lächeln wurde ein Schluchzen und wie schon als Kind ging sie in den Keller in die dunkelste Ecke um zu weinen. "Alles nur ein Traum... Alles nur ein Traum..." murmelte sie immer wieder und wieder. Sie wusste nicht wie lange sie dort schon hockte, als eine von Altersflecken übersäte Hand die Tränen von ihrer Wange strich. Aus verquollenen Augen blickte sie auf und ihr Herz stockte für einen Moment. "Großvater?" flüsterte sie ungläubig, "wie kann das sein?!".
"Aber, aber mein Kind, steh doch bitte auf, der Boden muss doch fürchterlich kalt sein!" erklang die tadelnde Stimme ihres Großvaters, der trotz seiner 93 Jahre noch einen sehr wachen und aufmerksamen Eindruck machte. Er zog sie auf die Beine, auch wenn das aufgrund seines Alters nicht gerade einfach war. Als sie stand zog er sie erstmal in seine Arme und strich ihr tröstend über den Rücken: "Aber, aber, was gibt es denn da zu weinen?". Wie oft hatte sie diese Worte früher gehört und noch vor fünf Minuten dachte sie, diese Stimme nie wieder zu hören. Wie war das nur möglich?
Sich gegenseitig stützend, der eine emotional und die andere körperlich, verließen sie den Keller und traten in das warme Sonnenlicht vor dem Haus, wo keine Minute nachdem sie dort standen das Auto mit zwei Sommer- und zwei Winterreifen auf den Hof gerast kam und schlitternd auf dem Splitt zum Stehen kam. Ihre Mutter, ihr Vater und ihr Bruder sprangen heraus und alle redeten durcheinander. Die Seniorenresidenz hatte angerufen, dass ihr Großvater in einem Anflug von Demenz abgehauen sei und sie wissen nicht wohin.
Doch es war nicht die Demenz, die heute absolut nicht feststellbar war, sondern schlicht und ergreifend Heimweh, die ihren Großvater dazu verleitet hatte abzuhauen. Es war also kein Traum, doch es war auch kein Alptraum. So gesehen, musste es wohl Schicksal gewesen sein, dass sie genau dort hingelaufen war, um zu Trauern, wo auch seine Schritte ihn hingeführt hatten. An diesem Tag saßen sie noch lange gemeinsam auf der alten Bank und schwelgten in Erinnerungen. Zum Glück, befand sie am Schluss, war es kein Traum.
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