Kapitel 11 - Das Mädchen
„Bist du sicher, dass sie nicht tot ist? Sie bewegt sich schon ganz lang' nicht mehr."
„Sie atmet. Das heißt, sie wird auch wieder aufwachen. Lass uns noch warten."
„Aber soll'n wir nicht Hilfe holen?"
„Das dauert ewig! Und sie ist nicht verletzt. Und wenn sie aufwacht, wenn wir weg sind, hat sie bestimmt panische Angst! Guck sie dir an! Sie weiß doch gar nicht ... also ich glaube nicht, dass sie damit rechnet und weiß, wie ... naja, alles funktioniert."
„Okay, na gut. Aber darf ich sie noch mal anstupsen und gucken, ob ich sie aufgeweckt krieg'? Ich mag nicht ... Also ich mag es hier nicht."
„Du hast recht. Ich will hier auch weg. Vielleicht ein ganz kleiner Stups."
Ich lausche dem Gespräch aufmerksam. Ist das die Hölle oder der Himmel? In beidem dürfte es diese nervigen Wesen nicht geben. Im Himmel spielen Kaffeesahne und Katzenminze eine große Rolle und Menschen gibt es da nicht. In der Hölle ... nun ja, ich muss gestehen, dafür sind sie nicht schlimm genug. Um genau zu sein, wäre es sogar möglich, dass ich die beiden ein bisschen mag. Eventuell sogar mehr als ...
„Fchch!" Ich fahre herum, als mich etwas Kaltes an der Schulter berührt und schaue in Michaels erschrockene Augen. Hat er mich allen Ernstes mit seinen schmutzigen Fingerchen gepiekt?
Mit einem Quietschen hüpft er zurück und stolpert gegen Nadja, die ihn vor dem Fall bewahrt und an sich drückt. Ich nehme alles zurück! Die beiden sind eine Plage und können mir gestohlen bleiben! Dreiste Bälger!
Sekunde. Warum starren sie mich so seltsam an? Warum ist mir so kalt? Warum hört sich mein Fauchen so falsch an? Warum liegt da eine Decke auf mir, die ...
„AAAHHHH!" Beine! Warum habe ich rosa Beine? Und Füße! Eklige menschliche Stummelzehen statt meiner knuffigen samtigen Pfoten? Die Decke fällt vollständig von meiner nackten pelzlosen Haut und mit ungelenken Bewegungen versuche ich, einen Blick auf diese Katastrophe von Körper zu werfen. Ich fühle mich so grauenhaft schwerfällig, dass ich vor Frust schreien möchte!
„Kitty? Bist du das?" Michael löst sich von seiner Schwester und kommt vorsichtig einen Schritt näher. Erschrocken sehe ich, dass Blut durch den provisorischen Verband um seine Hand sickert. Mit derlei Verletzungen ist nicht zu spaßen. Die seelischen Wunden, sind zwar schlimmer, aber dagegen kann ich nichts tun.
Außer vielleicht ...
„Wie geht es dir? Verstehst du uns? Kannst du sprechen?" Nadja zieht ihren kleinen Bruder wieder zu sich und sieht mich skeptisch an.
„Aah ihiinns", erklingt aus meinem Mund. Moment, ich habe doch ganz deutlich ‚Ja, ich bin es' gesagt. Vermutlich sind meine menschlichen Sprechkünste außer Übung. Genau wie meine Motorik. Langsam schaue ich mich um. Warum sind wir in der Küche? Die beiden müssen mich aus dem Flur gezogen haben. Das Feuer ist wohl nicht auf das Haupthaus übergesprungen. Es dauert drei Anläufe, bis ich meinen Arm in Richtung Spüle richten kann und zwei Mal hochkonzentriertes Kopfschütteln, bis die Kinder begreifen, dass ich etwas zu trinken will.
„Sag mal, willst du dir vielleicht auch etwas anziehen?"
Nadja beobachtet mich mit hochgezogener Augenbraue, wie ich nackt im Schneidersitz auf dem Boden hocke und versuche mein Wasser mit der Zunge aus dem Glas zu schlabbern. An Lippen muss ich mich erst wieder gewöhnen.
„Ja. Ansiehin", sage ich deutlich und nicke. Ich bin kurz davor zu erfrieren!
„Ich schau mal, ob ich was finde." Sie geht zur Garderobe und kramt in den Jacken und Mänteln meiner ... Nein! Sie ist nicht mehr meine Herrin. Wie betäubt lasse ich das Glas sinken. Ich bin ja frei!
Was ist denn da los? Warum funktionieren diese Augen nicht mehr? Warum ist plötzlich alles verschwommen. Noch etwas unkoordiniert fasse ich mir ins Gesicht. Meine Finger glänzen nass. Tränen. Langsam erinnere ich mich, wie es sich in diesem Körper angefühlt hat.
„Hey, es wird alles gut. Wir nehmen dich mit zu unserer Familie. Mama und Papa freuen sich bestimmt", versichert Michael mir.
Meine Lippen verziehen sich. Lächeln. Das ist doch ein Lächeln!
„Hier, schau. Ich helf' dir." Nadja hält mir einen warmen Mantel hin und fädelt meine Arme in die dafür vorgesehenen Löcher. Das Aufstehen will noch nicht gelingen, aber ich schaffe es mich hinzuknien und Nadja schließt den langen Reißverschluss. „Achtung, jetzt noch die Stiefel."
„Wasis basiat?", will ich wissen als mir endlich ein wenig wärmer wird.
„Du hast gebrannt! Ganz doll!", erklärt Michael.
„Dein Fell zumindest." Nadja sieht mich immer noch an, als wäre ich eine Außerirdische. „Darunter kam rosa Haut zum Vorschein. Und plötzlich, als du aufgehört hast zu schreien, ist das Fell explodiert und du bist ... dieser Körper war plötzlich ..."
„Sie hat elogen!", murmle ich vor mich hin. Das Miststück hat mich angelogen, als sie behauptet hat, ich würde sterben, wenn sie stirbt. Die ultimative psychische Fessel.
„Du bist auch ein Kind gewesen und sie hat dich zur Katze gemacht, wie sie aus mir 'nen Fuchs machen wollte, gell?" Der kleine Kerl scheint sichtlich stolz, dass er das durchschaut hat. „Deswegen hast du uns geholfen."
Langsam nicke ich. „Buder. Wegen Buder", flüstere ich leise. Meine sprachlichen Fertigkeiten nehmen mit jedem Wort zu.
„Du hattest auch einen Bruder?" Nadja starrt mich mir runden Augen an. „Und die Hexe hat ... hat ihn ..."
„Iha müssd nach Hause", erkläre ich ihnen langsam, aber deutlich und versuche mich wieder auf die Beine zu arbeiten. Sie sehen todmüde aus, aber es wird ihnen nicht guttun, weiter hier zu bleiben. Und falls ihr Vater noch keine Hilfe bekommen hat, ist das dringend nötig. Schnell packt Nadja mich am Arm, als ich wieder umzukippen drohe, und hilft mir schwankend stehen zu bleiben. Gar nicht so leicht ohne Schwanz.
„Ja, das Telefon ist kaputt und wir können nicht Auto fahren. Wir müssen wohl laufen. Meinst du, du schaffst das?"
Zuversichtlich nicke ich und gehe probeweise einen Schritt nach dem anderen. Schnell merkt Nadja, dass sie mich loslassen kann. Es ist leichter in Bewegung das Gleichgewicht zu halten. Vor dem Spiegel im Flur bleibe ich stehen und stütze mich ab. Grünbraun gesprenkelte Augen, bleiche Haut, kastanienfarbenes Haar und pinke Lippen. Auch mein dünner Körper hat sich kaum verändert. Ein vierzehnjähriges Mädchen starrt mich an. Nur der Ausdruck will nicht so recht passen. Es ist der Blick von jemandem, der zu viel gesehen hat.
„Wie schnell meinst du denn, können wir los?" Ungeduldig tippelt Nadja von einem Bein auf das andere. Ihre Nervosität ist ansteckend. Die unterschwellige Panik ebenfalls. Sie ist in Sicherheit, doch sie wird sich nie wieder sicher fühlen. Nie wieder einfach nur glücklich sein. Unbeschwert.
„Jest. Nur nich' so nell laufen. Holt eure Sachen." Das klappt doch super. Bis auf das ‚Sch' bin ich wieder hervorragend kommunikativ unterwegs.
Geschwind haben wir drei kleinen Rucksäcke gepackt. Etwas zu essen und zu trinken, Taschentücher und eine Decke für alle Fälle. Als sie nicht hinsehen, lasse ich ein kleines halbvolles Fläschchen mit pinkem Pulver in meine Manteltasche gleiten und schon sind wir auf dem Weg.
„Wisst ihr was? Was ist, wenn die Zauberpulver die Hexe gar nicht getötet haben?" Nachdem wir eine gute halbe Stunde die verlassene staubige Straße entlanggelaufen sind, ergreift Michael das Wort. Es arbeitet schon eine Weile in ihm.
„Was meinst du?" Nadja wirkt abweisend. Nachvollziehbar. Ich habe auch keine Lust darüber zu sprechen.
„Naja, vielleicht war es nicht das Zauberpulver, sondern wir. Wir drei!" Er strahlt uns an. "Unsere Hoffnung, unser Mut und unsere Liebe, haben sie getötet!"
„Du meinst, es hast geklappt, weil wir etwas gefühlt haben?", frage ich skeptisch nach. „Was für ein seltsamer Gedanke. Dann wart ihr das. Denn ich habe definitiv nichts davon gespürt."
„Oh. Okay." Traurig lässt Michael den Kopf hängen. Verdammt! Warum fühle ich mich jetzt schlecht? Es fällt mir schwer mich zurückzuhalten. Als sie mich nicht verstanden haben, konnte ich frei denken, was ich wollte. Jetzt sollte ich wahrscheinlich etwas filtern.
„Egal, was es war, du hast auf jeden Fall deinen Mut gefunden", versuche ich ihn aufzumuntern und tatsächlich huscht ein kleines Lächeln über sein Gesicht.
„Ja, du warst sehr mutig!", bestätigt seine Schwester. Ihre Worte klingen anerkennend, doch in ihrem Blick ist nur Leere. Sie hat mehr durchgemacht, als sie verkraften kann.
„Zeit für eine Pause", rufe ich und deute auf einen trockenen Platz am Wegesrand. Wir setzen uns auf den Boden, wofür ich wirklich dankbar bin. Ohne mich abzustützen, ist es noch ziemlich schwierig, das Gleichgewicht zu halten.
Michael beißt in einen Apfel, doch Nadja starrt nur teilnahmslos vor sich hin.
„Da! Trinken!", befehle ich, nachdem ich etwas in meinem Rucksack gekramt habe und halte ihnen zwei halb gefüllte Plastikbecher hin.
„Was ist das?" Michael rümpft skeptisch die Nase.
„Himbeersaft! Sehr lecker."
Mit zwei Zügen hat der Junge den Becher geleert.
„Du auch. Komm, du brauchst Energie, um deinen Bruder sicher nach Hause zu bringen!" Nadjas Augen flackern, doch der Hinweis auf ihren Bruder fruchtet und sie schüttet das Getränk hinunter.
„Das war gar nicht wirklich doll süß!" Michael schaut unzufrieden in meine Richtung.
„Na ja, vielleicht schmeckst du es nach dem ganzen Zuckerzeug einfach nicht mehr", gebe ich zurück. „Iss mal eine Weile Gemüse, dann wird der Geschmackssinn wieder normal."
Er sieht nicht begeistert aus.
„Sag mal, Kitty, wie lange warst du denn eigentlich bei ... ihr?" Nadja sieht mich auf einmal komisch an. Vermutlich ist ihr meine Verwandlung noch immer suspekt.
„Zu lange." Ich will nicht darüber reden und senke den Blick.
„Und wie heißt du richtig? Kitty ist doch nur dein Katzenname, oder?"
„Uuuuuaaa!" Michael gähnt laut. Seine Augen werden kleiner.
„Nur? Ich hatte den Namen den größten Teil meines Lebens."
„Ja, aber ... Uuuaa!" Auch Nadja kann es nicht unterdrücken. „Aber jetzt bist du ein Mädchen. Wie ist dein Name? Wie war dein Name davor?"
Ich spüre, wie meine Augenbrauen sich aufeinander zubewegen. Warum ist sie so neugierig? Ahnt sie, wer ich bin? Wen wir da getötet haben?
Die Kinder kommen nicht gegen die Müdigkeit an. Ich beobachte, wie sie sich bemühen den Kopf gerade zu halten, doch es geling nicht. Michael kippt zuerst zur Seite weg. Nadja nur Sekunden später. Umsichtig ziehe ich ein Döschen mit einer grauen Salbe aus dem Rucksack und reibe die Paste dick auf die Wunden der beiden. Mit etwas Glück werden weder auf Michaels Hand noch Nadjas Arm dauerhaften Spuren bleiben.
Nun heißt es warten. Mit spitzen Fingern zupfe ich einen Grashalm aus der Erde und beobachte fasziniert, wie meine Menschenhände ihn drehen und wenden, während meine Gedanken davongleiten.
„Mein Name?", flüstere ich. Mehr zu mir selbst als zu den tief schlafenden Kindern. "Mein Name war Gretel."
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