5. Die Ankunft in der Nacht
Teo:
Nach vier weiteren Stunden sehe ich die Hochhäuser des Kapitols.
Sie ragen hoch in den Himmel, in ihren Fensterscheiben brechen sich die Lichtstrahlen. An einigen Gebäuden sind Fernsehbildschirme angebracht auf denen die Farben geradezu explodieren.
Staunend betrachte ich die Hovercrafts, die über den Himmel fliegen und Banner hinter sich herziehen.
"Ist es nicht atemberaubend?", fragt Jelly hinter uns seufzend.
"Es ist zauberhaft!", versichert ihr Patricia, die mittlerweile himmelblau angemalte Fingernägel hat. Jelly hat über 100 verschiedene Nagellackfläschen dabei.
Deshalb stinkt es jetzt auch nach genau diesem Zeug.
"Nur leider ist der Kriegsbereich noch abgesperrt!", sagt Jelly bedauernd.
"Der Kriegsbereich?", frage ich interessiert.
"Ja. Eine riesige Fläche. Die Rebellen haben dort alles zerstört, das einzige was du da findest ist Asche.", seufzt Jelly. "Eine schreckliche Tragödie. Es sind 10 Zivilisten ums Leben gekommen bei dem Angriff. Unschuldige!"
Ich beiße mir auf die Zunge, um sie nicht an die Todeszahlen in den Distrikten zu erinnern.
Das Kapitol hat ganz Distrikt 13 auf dem gewissen und bedauert dabei nur sich selbst.
"Was ist mit Knochen? Wenn dort Menschen gestorben sind, liegen dort noch ihre Skelette, oder?", frage ich. Es interessiert mich nicht wirklich, aber ich möchte Jelly provozieren.
Sie stößt einen spitzen Schrei aus: "Aber mein Junge, was denkst du denn vom Kapitol? Die Leichen wurden geborgen und feierlich begraben. Sogar der Präsident war anwesend. Ich habe ganze Seen um die Toten geweint, das könnt ihr mir glauben!"
"Präsident Snowdown?", fragt Patricia erstaunt. "Der war anwesend?" Scheinbar dachte sie genau wie ich, dass der Typ kein Herz hat.
"Ja, meine Liebe.", sagt Jelly. "Deine Nägel sehen übrigens hinreissend aus!"
Ich verdrehe die Augen.
"Also meine Kinder. Wir halten gleich, dann gehen wir schnurstracks zu unserem Gebäude und ich zeige euch eure Gemächer! Die Versammlung wird morgen abgehalten, da einige Distrikte eine etwas längere Fahrt haben.", verkündet Jelly.
"Was für eine Art Versammlung wird das denn?", fragt Patricia nervös.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie dieselbe Befürchtung hat wie ich.
Das Kapitol ist leider immer für eine Überraschung gut, was ist, wenn das der Auftakt für die Spiele wird? Alle versammeln sich und dann ab aufs Spielfeld?!
Ich kann Jelly schon laut "Amüsiert euch gut, meine Kinder!" schreien hören, bevor sie sich vor ihren Fernseher setzt und uns beim Sterben zusieht.
Garantiert lacht sie sich dann halb tot und diskutiert mit ihren 130 Haustieren die verschiedenen Fingernägel der Tribute.
Mir wird schlecht.
"Ich weiß es nicht! Aber was ziehst du denn für ein Gesicht Teo? Die Gemächer werden zauberhaft aussehen!", sagt Jelly.
Dann steigen wir aus dem Zug.
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Die Uhr schlägt zwei.
Ich starre immer noch an die Decke. Die "Gemächer" sind absolut riesig.
Noch ein paar Wände mehr und ich würde mich in einem Labyrinth befinden. Aber vielleicht tue ich das jetzt schon.
Ein Labyrinth aus dem es kein Entkommen gibt: Die Hungerspiele.
Nur ohne das Labyrinth.
Ich schlage mir mit dem Kissen auf den Kopf, meine Gedanken schweifen immer wieder ab und ich ziehe einen unlogischen Schluss nach dem anderen.
Eben erst hat mein Gehirn mir mitgeteilt, dass Patricias hellblaue Nägel ein Zeichen dafür sind, dass sie zu Distrikt 4 hält, also zu dem Distrikt der sich ums fischen kümmert.
Ich wäre fast in hysterisches Gelächter ausgebrochen.
Aber ich kann nicht schlafen, jedes mal wenn ich die Augen schließe, sehe ich Waffen.
Messer, Pistolen, Seile, Pfeil und Bogen, Speere, Bomben, alles.
Ich sehe Blut und höre Schreie.
Zwei mal bin ich schon schweißgebadet aufgewacht und musste mich vergewissern, dass ich überhaupt noch Lebe.
Ich höre wieder einen Schrei und glaube schon, dass ich wieder träume, als mir klar wird, dass ich wach bin.
Und hier schreit jemand.
Leise stehe ich auf und laufe zu dem bodenhohen Fenster, hinter dem ich den seltsamen Schrei höre.
Der Anblick verschlägt mir den Atem.
Tausende Lichter blinken und erleuchten den schwarzen Nachthimmel. Die Hovercrafts senden rote und violette Lichtsignale aus. Aber wo kommt jetzt der Schrei her?
Und warum hört dieser Schrei sich nicht menschlich an?
Dann erst fällt mir auf, dass es ein Hovercraft gibt, dass nicht leuchtet. Es fliegt auf das Gebäude hier zu und ... schreit?
Die Motoren sind unglaublich laut und erzeugen tatsächlich ein Quietschen, dass nach einem Schrei klingt.
Das Hovercraft landet auf einer Plattform in der Luft, auf der ein großes H steht.
Ein Landeplatz.
Heraus steigen eine Frau die wegen ihrer übertriebenen Kleidung als Jellys Zwillingsschwester zählen könnte und zwei Jungendliche.
Beide sind schwarz gekleidet, mehr kann ich nicht erkennen. Ich kann nur hoffen, dass eins dieser leuchtenden Hovercrafts über sie hinwegfliegt, sodass ich die Gesichter sehen kann.
Jetzt kommt dieselbe Gruppe heraus, die auch schon Patricia, Jelly und mich begrüßt hat. Die Frau in den glitzernden Klamotten umarmt alle nacheinander, die Jungendlichen tun gar nichts.
Ich drücke mein Gesicht noch näher an die Scheibe um nichts zu verpassen.
Und dann endlich fliegt eins der leuchtenden Hovercrafts nah an ihnen vorbei.
Es sind ein Junge und ein Mädchen, genau wie erwartet. Der Junge wird violett beleuchtet, das Mädchen rot.
Wenn ich das richtig erkennen kann, haben beide irgendetwas glänzendes dabei. Eine Art Klinge, die sie an ihre Schultern gebunden haben.
Ganz plötzlich dreht sich das Mädchen um und ich schrecke vom Fenster zurück, obwohl sie mich nicht gesehen haben kann. Die Scheiben sind verspiegelt, wie Jelly uns erklärt hat.
Trotzdem. Selbst auf die Entfernung hin weiche ich zurück.
Jemand klopft an der Tür, als ich öffne sieht mir eins der Gesichter des Begrüßungstrupps entgegen: "Die Tribute aus Distrikt 5 sind eingetroffen. Einer von beiden hat gewisse Probleme. Bitte ignorieren sie mögliche Lautstärken."
"Was sind denn mögliche Lautstärken genau?", frage ich und höre im Geiste schon abgefeuerte Schüsse.
"Das übliche. Lautstarkes Weinen, verzweifelte Schreie.", sagt der Typ. Seine Stimme verliert dabei etwas den monotonen Klang.
"Gute Nacht.", sagt er dann und wendet sich wieder ab.
Ich winke ihm hinterher, obwohl ich weiß, dass er das nicht sehen kann.
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