2. Die Glaskugeln
Teo:
Der nächste Tag beginnt normal.
Meine Mutter setzt sich in unser Wohnzimmer vor den eingeschalteten Fernseher und fängt an eine protzige Goldkette zu bearbeiten.
Zuerst löst sie einige rosig glänzende Steine aus der Fassung und ersetzt sie durch türkis strahlende, dann poliert sie einige Silberelemente, die angegraut sind.
Ich sehe ihr schweigend zu, wie immer, und übe das Knüpfen von einfachen Armbändern.
Jeder fängt klein an.
Ich versuche an etwas schönes zu denken, mich abzulenken, aber die Ankündigung der Hungerspiele hängt über uns wie eine dunkle Wolke.
Meine Mutter macht bereits morgens schluss mit ihrer Arbeit, wir müssen schließlich zu dem Platz laufen.
"Zieht euch festlich an!", sagt sie uns und versucht zu lächeln.
Ich nicke und verschwinde in meinem Zimmer.
Eine halbe Stunde später gehen wir los, Tommy klammert sich an meiner Hand fest. Er hat immer noch nicht begriffen, was da für Spiele angekündigt wurden. Aber ich werde es ihm nicht erklären, er soll keine Angst vor seinem zwölften Geburtstag haben.
Außerdem wird er es noch früh genug erfahren.
Auf dem Dorfplatz sehe ich schon die anderen Jugendliche. Sie halten sich gerade, die Älteren werfen mit hochmütigen Blicken um sich. Aber es ist nicht zu übersehen, dass sie alle nervös sind.
Der Platz war mal wirklich schön, aber nach dem Krieg ist er etwas verwahrlost. Die Häuser drumherum sind zwar wieder strahlend weiß gestrichen, aber einige Fensterscheiben sind immer noch zerschlagen.
Was mich aber überrascht ist die Bühne, die vorne aufgebaut wurde. Sie ist riesig und an ihren Seiten sind Bildschirme aufgebaut auf denen ein Video von der Flagge des Kapitols läuft, die leicht im Wind flattert.
Der komplette Platz ist umstellt von Friedenswächtern. In weiß gekleidete Personen mit Waffen und Schutzvisieren. Man könnte sie für Roboter halten, wie sie da so in der Sonne stehen.
Tommy hat Angst vor ihnen, er drückt sich enger an mich.
"Nimm das Kind da weg.", sagt einer der Friedenswächter monoton. Sogar ihre Stimmen klingen wie die eines Roboters.
Zwei andere kommen und laufen auf Tommy zu.
"Was ist los?", frage ich beunruhigt. Meine Mutter sieht uns fragend an.
"Das Kind ist hier falsch. Es ist zu jung, gib es deinem Erziehungsberechtigtem!", sagt ein Friedenswächter. Seine Stimme klingt schon menschlicher, auch seine Bewegungen erinnern nicht an eine Maschine.
Tommy läuft zögernd zu meiner Mutter und wirft mir einen unsicheren Blick zu. Ich nicke ihm aufmunternd zu.
Dann stelle ich mich auf Anweisung der Friedenswächter hin in eine Schlange vor einem Tisch.
Vor mir und hinter mir stehen andere Jungen, alle im Alter zwischen 12 und 18. Sie alle können ausgewählt werden. In eine Arena geschickt werden, in der sie sich bekämpfen müssen bis sie sterben.
"Finger.", befiehlt mir ein Friedenswächter, der an dem Tisch sitzt. Ich gebe ihm meinen Zeigefinger, er drückt eine Nadel hinein und hält mir ein Stück Papier hin. Ich drücke meinen Finger vorsichtig darauf.
Der Friedenswächter nickt und ich gehe, die Augen auf meine blutigen Fingerabdruck gerichtet. Hätte man nicht auch einfach Tinte oder so nehmen können?
Wir werden zusammengepfercht, wenn ich das Richtig erkennen kann stehen wir nach dem Alter geordnet. Um mich herum stehen nur meine Klassenkameraden. Ihr Atem geht unregelmäßig.
"Hi.", sagt der Junge links neben mir. Ich nicke ihm knapp zu. Seinen Namen weiß ich nicht - oder doch.
Bertie.
Bertie, der Bekloppte. Einer der unbeliebtesten Typen der Schule. Er lebt bei seinem Großvater, seine Eltern sind in dem Krieg ums Leben gekommen, obwohl sie nicht an der Front gekämpft haben.
Bertie hatte nie seine Hausaufgaben, weil er arbeiten musste. Und zwar so richtig.
Nicht wie ich, ich gucke ja nur meiner Mutter zu und lerne etwas mit.
Bertie musste in die Goldminen und Geld verdienen, für seine jüngeren Geschwister. Er hat fünf Brüder und Schwestern.
Wenn er ausgewählt wird, wird vermutlich seine ganze Familie nach und nach wegsterben, denn sein Opa kann nicht arbeiten. Er ist blind und taub. Und alt.
Ich gucke nach vorne zu der Bühne. Es stehen zwei große Glaskugeln auf dem Podest.
Beide sind gefüllt mit ordentlich gefalteten Zetteln aus weißem Papier.
Da müssen unsere Namen draufstehen. Sie losen aus.
Es geht hier nur um Glück und Pech, mehr nicht. Sie wollen irgendwen, ihnen ist es egal wer leiden muss.
Am liebsten hätte ich die Glaskugeln zerschmettert, die Zettel verbrannt.
Zugesehen, wie unsere Namen verschwinden.
Aber ich tue es nicht, ich bleibe an meinem Platz neben Bertie stehen und stelle mir nur vor, wie die Kugeln zerstört werden und wir alle wieder nachhause können.
Weiterleben können.
Dann ertönt die Hymne des Kapitols.
Es geht los.
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