WegWeisend
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Es ist dunkel und doch weiß ich ganz genau, dass es hell ist. Ein merkwürdiges Gefühl überkommt mich. Es erinnert mich an längst vergangene Tage, die nicht mehr richtig zu mir gehören.
Trotz dessen schafft es dieses eigenartige Gefühl, dass sich ein kleiner unangenehmer Schauer über mich ausbreitet.
Gefolgt von kleinen Schweißperlen, die sich bilden und langsam ihren Weg über meinen Körper suchen.
Nach den ersten kribbeligen Sekunden bemerke ich, dass meine Augen noch geschlossen sind. Ich öffne sie und stelle glücklicherweise fest, dass ich recht behalte.
Atmen.
Ich atme beruhigt ein und aus. Diesen Moment koste ich ruhend aus und versuche mich wieder zu entspannen. Zu meiner Freude spüre ich den Puls sich senken, meine Anspannung abklingen, meinen Geist sich mit meinem Körper verbinden. Ich werde eins mit mir.
Mein Blick gewöhnt sich an die Helligkeit, die durch die warmen Sonnenstrahlen hervorgerufen werden, welche durch die hohen Fenster hineingelangen. Eine Wärme, die ich mit Geborgenheit und Wohlwollen assoziiere. Jedoch gesellt sich ebenso ein wenig Wehmut dazu.
Ich setze mich auf, schüttele das letzte Gefühl ab und genieße die Strahlen auf mir.
Der Ausblick ist einfach fantastisch. Doch noch schöner ist dieser von der Veranda aus.
Bevor ich überlegen kann, ob ich noch ein wenig in meinem kuscheligen Bett liegen bleiben soll, kommt er angelaufen. Ich muss schmunzeln. Vielleicht hat er dafür einen extra guten Spürsinn. Er ist mein treuester Gefährte, mein Ein und Alles. Mein Hund Freddie. Und er hätte es wohl gerne, dass ich nun aufstehe.
Aber nur weil du es bist, sage ich gedanklich zu ihm. Schwanzwedelnd steht er vor mir, wartet freudig auf mich und begrüßt mich mit seiner schlabbernden Zunge, die er mir einmal quer durch das Gesicht zieht.
Mmmmh ... Ja, sehr lecker, denke ich mir. Nun brauche ich mehr als vorher eine frische Dusche. Erfrischt aus dem Badezimmer gehe ich auf seine Näpfe zu, schnappe sie mir, gehe weiter in die Küche und bereite uns beiden Frühstück zu.
Für mich das und für dich das, stelle ich klar. Ob mich jemand für verrückt halten würde, weil ich mit meinem Hund rede?! Ach egal.
Mit meinem Kaffee sowie Toast gehe ich auf meine weite Veranda hinaus und setze mich in die Sonne, um die Energie aufnehmen zu können. Mitunter ist es hier so schön, weil ich mich frei fühlen und ebenso bewegen kann. Das liegt natürlich auch daran, dass sie nicht von anderen einsehbar ist.
Geschützt bin ich hier.
Freddie kommt nach seinem Mahl ebenso hinaus, bequemt sich jedoch eher in einem schattigen Platz nieder.
Nach meinen ersten Schlucken kann ich den Anblick des Briefkastens nicht mehr standhalten. Ich sehe mehrere wartende Briefe dort drin und weiß nicht, welche Überraschungen sie für mich in sich enthalten und das möchte ich ändern. Geduld ist keine meiner Stärken und ja, daran darf ich gerne noch arbeiten.
Aber sie verhöhnen mich.
Auf; rein greifen; zu; wieder abgeschlossen und zurück auf meinen warmen wohligen Platz.
Jetzt sind sie, die mich zuvor anstarrenden Briefe zumindest schon einmal nicht mehr in dem Briefkasten, von wo aus sie mich eben noch verhöhnten.
Zunächst lege ich die Briefe vor mich auf den Tisch hin und genehmige mir zwei weitere Schlucke meines Kaffees. Darauffolgend schnappe ich mir den ersten Brief, halte ihn zwischen meinem Daumen und den Zeige- und Mittelfinger. Er ist dünn und doch kann da so viel drin stehen.
Möchte ich den Inhalt erfahren? Will ich das? Warum kann ich meinen Morgen nicht einfach weiter genießen? Warum lasse ich mich von diesem Briefkasten so sehr anstacheln?
Ich kann das nicht.
Ich stehe abrupt auf, gehe hinein, dort durch alle meine Räume, immer wieder in den Flur, um wieder hinaus zu gehen, doch ich mache wieder kehrt.
Ich komme mir albern vor. Es ist doch nur meine Post. Meine Post, Papier, Zettel, was sollen sie mir anhaben können?
Atmen.
Ich atme tief ein und aus und gehe so ruhig wie möglich hinaus auf die Veranda, setze mich auf meinen Stuhl und nehme wieder den gleichen Umschlag in die Hand.
Je eher, desto besser, dann habe ich es überstanden. Dieses Prozedere weckt manchmal einige vergangene Erfahrungen, auf die ich gut verzichten hätte können.
Aber müssen es gleich alle sein?
Ok, erst einmal nur diesen, sage ich mir beschwichtigend zu. Das Geräusch des aufreißenden Umschlages lässt mich zucken und doch fühle ich mich ebenso gestärkt. Als ich den Inhalt sehe, muss ich über mich lachen. Es ist nur Werbung. Zuversichtlich nehme ich gleich den nächsten Umschlag in die Finger und öffne ihn. Ebenfalls Werbung. Ja, das hätte ich mir auch denken können. Ich bestelle eben manchmal, da kommt es dann natürlich vor, dass sie mir Werbung plus Gutscheine oder dergleichen zukommen lassen.
Warum stelle ich mich nur so an?
Der dritte, ein großer Umschlag, ist dran. Rasch wird er geöffnet und enthüllt wird ein Prospekt für die neue Frühjahrsmode. Ich blättere ein wenig darin rum, schlürfe dabei meinen Kaffee und beginne endlich meinen Morgen zu genießen. Und das, obwohl ich dabei bin, die Post zu öffnen.
Wie es sich manchmal wenden kann.
Nun aber zum letzten Brief, das Prospekt kann ich ja später noch in Ruhe durchblättern. Optimistisch, wie ich eben geworden bin, öffne ich auch diesen und nehme das Schreiben heraus.
Schock. Ich erstarre.
Mist. Was soll das denn jetzt? Mist. Das kann nicht sein. Was jetzt? Puh ... Hm ... Nein, nein, nein! Oh ... Was soll ich jetzt machen? Geht das? Nein ... Oder doch? Wer hat? Das geht doch nicht. Mist. Nein. Wieso? Hm.
Beruhige dich, sage ich zu mir selbst.
Nein, das kann ich nicht, erwidere ich mir.
Na klar, kannst du, versuche ich mich zu überzeugen.
Ach ja und wie?, frage ich mich.
Ach, keine Ahnung, stimme ich mir zu.
Es ist frustrierend und zum Verzweifeln. Ich schubse die Post vom Tisch weg. Eine solche Wut, aber auch Angst kommt in mir hoch, dass ich überhaupt nicht weiß, was ich machen soll oder kann. Meine Energie ... liegt irgendwo mit den Briefen auf dem Boden.
Ich starre geradeaus. In die Ferne. Einfach ausharren. Vielleicht kommt eine Lösung herbeigeflogen.
Freddie versucht sich mit seinem Kopf auf meinen Schoß zu drängen. Er möchte, dass ich weiß, dass er da ist. Ich weiß es, doch ich habe keine Kraft.
Ich starre weiter nach vorne. Auf die Bäume und Klippen. Auf den Sand und das Wasser. Auf die Vögel und Wellen.
Mein Blick schweift immer mehr in die Ferne, als würde ich so dem 'Hier und Jetzt' entfliehen können beziehungsweise dieser Situation. Das hat schon früher nicht funktioniert. Aber vielleicht ja jetzt.
Denkst du wirklich?, frage ich mich selbst, versuche meine innere Stimme aber immer mehr zu verdrängen.
An einem für mich fast vergessenen Ort, dem ich damals bloß entkommen wollte, da versuchte ich es immer wieder. Vergeblich. Am liebsten wäre ich ein Vogel gewesen, der einfach davonfliegen kann. Das habe ich mir ganz oft gewünscht. Teilweise war ich sogar neidisch auf diese wundervollen Geschöpfe, dass sie hinauf in die Lüfte steigen, sich der Erde entziehen können. Und ich musste weiter an Ort und Stelle bleiben. Ich wäre so gerne mit ihnen hoch hinaus geflogen.
Es war nicht auszuhalten. Mein Leben, wenn es als solches bezeichnet werden konnte. Eigentlich war es eher ein Überleben. Ein Umfeld, in dem ich hinein geboren wurde, aus dem es kein Entkommen gab. Als Embryo wirst du nicht gefragt, ob es für dich in Ordnung wäre, dorthin zu kommen, wo alles grau und trist sein wird, keine wärmenden Momente auf dich warten. Es passiert einfach. Niemand trägt die Schuld und doch gibt es Leidende. Später als Kind passt du dich an, auch wenn es dir komisch vorkommt und dir die Unterschiede zu anderen deines Alters auffallen. Es ist dir unangenehm. Du willst nicht auffallen. Aber diesen Wunsch nach Freiheit und davon zu fliegen, den hatte ich, der begleitete mich jeden Tag. Im Alter einer Heranwachsenden wurde mir bewusst, wie tief ich drin war und versank immer mehr darin. Der Boden klebte teilweise an mir, sodass ich nicht vor und auch nicht zurück wusste, ebenso ein Schritt zur Seite war mir nicht möglich. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte oder konnte. Niemanden zum Ansprechen, ich konnte keinen Rat erhalten. Mein Traum vom Wegfliegen verflüchtigte sich.
Er verwandelte sich in einen Wunsch des Flüchtens und sich unsichtbar zu machen.
Einstige innerliche Qualen begleiteten mich Tag für Tag. Eingesperrt in meinem Leben mit meinem Gefühlschaos, ohne die nötigen Kräfte, sich daraus zu befreien. Ohne einen Menschen an der Seite zu haben, der es ernst und wohlwollend mit mir meinte.
Solch einen Menschen habe ich auch heute nicht. Diese Erkenntnis sticht gewaltig und ich begreife jetzt das Gefühl von vorhin ... Warum mich heute früh dieses Gefühl der Wehmut durchzog.
Dafür habe ich Freddie. An unserer Bindung allein kann ich erahnen, was wahre Liebe bedeuten kann.
Das Abschweifen hat schon früher nicht funktioniert. Meine Hoffnung, dass es vielleicht dieses Mal klappte, auch wenn es irrational klingen mag, hat sich nun in Rauch aufgelöst. Vielleicht ist das ja aber auch ganz gut?!
Mein damaliges Leben war nicht auszuhalten und doch schaffte ich es.
Ich habe es geschafft.
Der Weg bis hierher war vielleicht nicht einfach, aber ich habe es hinbekommen. Ich habe mich aus der damaligen Lage befreien, mir mein Leben aufbauen können, so wie ich es wollte.
ICH habe es geschafft. Ich bin nicht mehr die Gefangene meines Lebens.
Langsam spüre ich erneut die Gegenwart der Sonnenstrahlen, wie sie auf meine Haut treffen, sie erwärmen. Ich fühle das Metall unter meiner rechten Hand, die auf der Stuhllehne liegt. Unter meinem Gesäß merke ich, wie das Sitzkissen wieder mehr nachgibt, weil meine Anspannung etwas ablässt. Ich komme wieder in dem 'Hier und Jetzt' an. Einen Augenblick bleibe ich noch nach vorne fokussiert, um mir meine Erkenntnisse zu verdeutlichen.
Ich nehme wieder die Umwelt wahr, die Bäume und Klippen, den Sand und das Wasser sowie die Vögel und Wellen.
Vögel.
Ich empfinde sie nach wie vor als bezaubernde Geschöpfe, doch bin ich nicht mehr neidisch. Ich betrachte sie noch einen Moment in der Luft, wie sie umher kreisen und ihre Rufe schreien.
Dann komme ich vollends zurück an diesen Tisch, an dem ich sitze.
Ich blicke Freddie an, der immer noch nah bei mir liegt, um mir seine Treue zu signalisieren. Streichelnd zeige ich ihm, dass es auf Gegenseitigkeit beruht. Er robbt auf dem Boden langsam näher an mich heran und kommt langsam mit seinem Kopf hoch. Für ihn, meinen treuen Begleiter, bin ich sehr dankbar, und als hätte er es gehört, schlabbert er mir wieder durchs ganze Gesicht und wackelt freudig mit seiner Rute. Dieses Mal genieße ich den Moment einfach.
Ich bin nicht allein.
Von meinem Stuhl sehe ich mich um, stehe auf und suche die Papiere vom Boden zusammen. Auch das werde ich hinbekommen. Hier an meinem Platz kann mir nichts wirklich passieren. Ich lese mir den Brief noch einmal durch.
Lachend über mich selbst stelle ich fest, dass da etwas ganz anderes drin steht, als ich vorhin dachte. Oh mensch. Was hat mein Hirn oder habe ich da mit mir gemacht?!
Geduldiger, wohlwollender, achtsamer mit dir selbst sein.
Frei sein wie ein Vogel, habe ich mir früher gewünscht, mich danach gesehnt.
Frei wie ein Vogel, damit ich einfach davon fliegen könnte. Von allem davon, meinem Leben, manchen Menschen, von mir, von allem.
Heute fühle ich mich tatsächlich frei wie ein Vogel. Aber anders. Es ist besser als erwartet und ich je für möglich gehalten habe. Den Wunsch davon zu fliegen, hege ich gar nicht mehr. Ich mag den Boden, den ich mir geschaffen habe, die Wege, denen ich begegne, auf denen ich laufe.
Mittlerweile fühle ich mich frei wie ein Vogel ... ohne Flügel, welche ich auf dem Weg abnehmen konnte. Ich brauche sie nicht mehr. Sie waren mir hilfreiche und ausgleichende Stützräder, haben mir einst den Weg gewiesen. Hierher.
Und sollte es mal anders kommen, weiß ich heute, was ich brauche. Dann hole ich mir meine wegweisenden Stützräder zurück.
Doch heute fühle ich mich frei wie ein Vogel ohne Flügel und das fühlt sich wundervoll an.
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