Lehrpfad
Als ich sie das erste Mal sah, fragte ich mich, was ihr wohl alles widerfahren sein mag. Sie öffnete mir die Tür und wirkte so zerbrechlich in ihrem Gewand.
Während ich ihr in die Wohnung folgte, schaute ich mich um. Andere Menschen erblickte ich nicht, dafür eine Menge aufgestellter persönlicher Fotos, welche mich direkt in ihren Bann zogen. Eine hübsche kraftvoll wirkende Frau, ein charmant aussehender Mann, eine vergleichsweise jüngere Frau und eine vertraute Gruppe von Menschen lächelten einem entgegen.
Die hübsche Frau vom Foto mit einer kraftvollen Ausstrahlung und die Frau, die mir in dem Moment gegenüber saß, schienen nichts mehr gemein zu haben. Für mich war es, als sei sie zu einer anderen Person geworden.
Als sie mir Teewasser einschenkte, bemerkte ich, wie ihre Hände zitterten. Frust und Trauer kamen in mir hoch, da sie ihren Körper offensichtlich nicht mehr vollständig kontrollieren konnte. Ich stand auf, wollte ihr helfen, doch sie gab mir zu verstehen, dass sie es machen möchte. Einiges ging daneben, ich fragte, wo ein Lappen ist, doch wieder signalisierte sie, dass sie auch dies noch hinbekommen werde. Verzweiflung kam zu meinen Gefühlen hinzu, da sie sich wohl damit schwer tue, einfach mal Hilfe anzunehmen.
Connie Köcher und ich lernten uns an eben diesem Tag kennen. Dass ich das Ehrenamt aus Langeweile anfangen werde, erwähnte ich nicht, sondern, dass ich über die Nachbarschaftshilfe zu ihr vermittelt wurde. Nachdem wir den Rahmen unserer Betreuung absteckten, wollte ich mich auch aufmachen. Plötzlich schien sie sich gedanklich zu entfernen. Ich wartete einfach ab.
Indessen fragte ich mich, wer sie einmal war und wie sie zu dieser einsamen traurigen Frau werden konnte, wieso sie die Fotos an die alte schöne Zeit aufbewahrte, wenn sie doch nun in einem ganz anderen Leben feststeckte. Sie entschuldigte sich und versuchte sich zu erheben. Ich eilte zu ihr hinüber, doch sie streckte den Arm aus, sodass ich gar nicht näher herankam. Nun fühlte ich mich auch noch hilflos. Sie lehnte bereits zum dritten Mal meine Hilfe ab. Eindeutig schwand ihr die Kraft, trotz dessen begleitete sie mich an die Tür, als könne sie nicht von ihren Höflichkeitsritualen loslassen.
Zerrüttet wollte ich mich auf dem Weg machen, da vernahm ich ihre brüchige Stimme erneut. Sie bat mich darum ihr Rezept bei der Apotheke gegenüber einzureichen. Scham stieg in mir auf, weil ich hoffte, dass ich nicht einmal Stück für Stück meine eigene Autonomie verlieren werde.
Nicht an mich halten könnend, recherchierte ich die verschriebenen Medikamente. Warum gab sie mir das Rezept mit? Hatte sie vorher eine andere Hilfe oder war es ihre Art mir mitzuteilen, welche Beschwerden sie hat? Schuldgefühl blitzte auf, jedoch gesellten sich Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühl dazu, denn wie würde ich mit Parkinson weiterleben können, wenn ich wüsste, dass mein Leben nur noch in eine Richtung geht?
Sie ließ sich nichts anmerken, aber sie musste sich doch denken können, dass ich über ihre Erkrankung Bescheid weiß. Schuld und Scham kamen wieder. Hatte sie bereits Vertrauen zu mir? Und ich hatte es schon missbraucht?
Beim vielleicht vierten Besuch, wurde mir bewusst, dass ich wirklich gerne bei ihr war. Zwar hatte ich auch nicht viel anderes zu tun, aber es war mehr. Einerseits fand ich sie beziehungsweise ihr Leben traurig, andererseits faszinierte sie mich. Mit jedem Mal blieb ich länger. Bei einem unserer rituellen Abschlusstees fragte sie mich, ob ich sie nicht endlich ein wenig an meinem jungen Leben teilhaben lassen könnte.
Keine wirkliche Antwort wissend, sagte ich bloß, dass ich 20 Jahre alt bin, lediglich zwei Straßen entfernt wohne und es sonst nichts ernsthaft gebe, woran ich sie teilhaben lassen könne. Damit gab sie sich nicht zufrieden. Sie bohrte nach. Ich legte nach. Und meinte, dass es weder Beziehung noch Familie gibt, aber ein paar Freundschaften, ich gerne male und zeichne sowie natur- und tierverbunden bin, mein Ehrenamt bei ihr habe, ansonsten in der Entscheidungsphase bin, was ich wirklich studieren möchte.
Das war wohl genug, denn sie antwortete, dass sie es bemerkenswert finde, dass ich es ohne Familie so toll gemeistert habe, es bestimmt nicht immer einfach war, aber ich stolz auf mich sein darf und glücklich darüber. Ich ließ es einfach so stehen und fragte sie nach ihrem Leben und deutete auf die Fotos. Mit ihrer Offenheit auf meine Frage hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Ihr Mann Ludwig, ihr Ludi, war vor bereits 14 Jahren verstorben. Kurz zuvor bekam sie die Diagnose Parkinson. Es hatte mich sehr betroffen, den geliebten Menschen, die stabile Komponente zu verlieren, musste schmerzlich sein. Und dann auch noch ihre Tochter, Luise verstarb relativ jung. Ihre Geschichte versetzte mir einen Stich nach dem nächsten, Trauer, Verzweiflung, Frust vermischt mit Wut stiegen in mir hoch. In mir zog sich alles zusammen. Zusätzlich fiel durch ihre Erkrankung ihr Lieblingssport weg. Sie musste Stress penibel meiden.
Die Krankheit mittlerweile fortgeschritten, keine Familie mehr, ihr Sport weg, aber sollte in Bewegung bleiben, musste bestimmte Regeln beachten, was für ein Scheiß, dachte ich. Dankbar für meine Situation, aber gleichzeitig mitgenommen sowie tief traurig über ihre Geschichte, verabschiedete ich mich an jenem Tag.
Nachdem sie ihre Geschichte mit mir teilte, versuchte ich mir extra Zeit zu nehmen, damit sie jemanden zum Plaudern hat. Nur, und ich wusste nicht warum, ging es mir immer schlechter. Connie hingegen schon. Sie bat mich zu unserem Teeplätzchen, goss uns Tee ein und legte los. Ich würde sie an Luise erinnern. Sie kam oft zu ihr, vor allem nachdem ihr Ludi verstarb. Sie habe es nicht sofort begriffen. Leider erst viel später verstanden, dass ihr Leben ihre Tochter unglücklich stimmte. Sie sah die gleichen Blicke bei mir. Dass ein Leben wie ihres mit all den Schicksalsschlägen nur als unglücklich aufgefasst werden kann, dass ein vermeintliches Leid einer anderen Person zum eigenen wird, so erging es uns beiden.
Dass ein Mensch auch nach dem Tod des Ehemanns sowie mit einer chronischen Erkrankung wie Parkinson ein glückliches, genussvolles Leben führen kann, das lehrte Connie mich. Sie sagte immer, jeder Mensch habe sein Päckchen zu tragen, für jeden kann etwas ganz anderes ein schweres Leben bedeuten. Wir aber sollten auf unser eigenes Leben, eigenes Päckchen schauen und nicht bewerten, ob jemand anderes leidet. Sie verstand, welche Art des Denkens uns stärkt. Sie sagte sich, dass es so ist, wie es ist und Wörter wie 'hätte' und 'wäre' nichts verändern können, sie sich daher auf das, wofür sie dankbar und worauf sie stolz sein kann besann. Für ihre gemeinsame Zeit mit Ludi, für ihre Tochter, für ihren Sport, dafür, dass ihre Erkrankung sie nie gänzlich einschränkte, für all die freundliche Unterstützung, für ihre Freundschaften, für all die kleinen großen Dinge, die ihr guttaten. Sie sah ihre Lebenssituation als die, die sie ist und versuchte das Beste aus dem zu machen.
Ihr einziger Wunsch war, dass die Menschen in ihrem Umfeld nicht unter ihrem Leben leiden. Leid gibt es genug, sagte sie immer, was wir mehr brauchen, ist Verständnis.
Durch sie verstand ich, worauf es ankommt, was wirklich wichtig ist. Sie war mir eine gute und sensible Lehrerin, Anleiterin, Ersatzoma und schlussendlich Freundin geworden. Sie wird mir fehlen. Und ich fühle mich geehrt, dass sie mich auserwählte, diese Zeilen zu verfassen für unseren Abschied von einer der achtsamsten und wohlwollendsten Freundin von uns.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top