Irrglaube
»Jess ... Geht es wieder?« Oh je, erst bekommt sie die volle Matschepampe beim Ketchup Weitwerfen ab und dann verträgt sie noch nicht mal das Essen. Wenn sie so weiter reihert, dann ... Mir ... ist auch schon ganz schlecht. Kotzegeruch ist echt widerlich! Aber ich kann doch nicht einfach ... Nein, natürlich gehe ich nicht!
»Gleich«, stammelt sie zittrig in die Kloschüssel. Ich hoffe es für sie und auch mich. Sonst können wir gleich die Plätze tauschen. Ich streichle ihr weiter über den Rücken. Wir sollten wohl hiernach lieber nach Hause gehen. Sie ruckt etwas und scheint fertig zu sein. Im mehrfachen Sinn. Na dann ...
Wie es die Gewohnheit will, schauen wir in den gegenüberhängenden Spiegel. Unser Anblick ... Gruselig und witzig gleichermaßen. Der geschmückte Badezimmerspiegel lässt uns aussehen, als seien wir zwei Hexen. Auf dem Spiegel sind solche spitzen Hüte gepinselt worden, doch unsere Gesichter wirken auch nicht ganz mehr fresh. Nach unserem ersten Schock müssen wir grinsen, wenden uns dann aber auch schnell ab. Wir hangeln uns den Weg durch die dekorierte Badezimmertür, die voller klebriger Masse durchzogen ist und lauter Gebamsel unterbrochen wird. Damit es ja gruselig wirkt. Immerhin ist heute der 31. Oktober und wir befinden uns auf einer Halloweenparty, die wir nun aber für uns beenden. Jess muss dringend nach Hause, so blass wie sie ist.
»Dannie!«, winke ich sie ran.
»Trish. Ach du scheiße! Was ist denn los?«, fragt sie sofort schockiert, als sie bei uns ist.
»Ja. Wir hauen ab. Wollte dir nur Bescheid sagen. Ich denke nicht, dass ich noch mal wiederkomme. Sehen wir uns dann morgen?«
»Ja, äh ... klar. Soll ich nicht lieber Jess nach Hause bringen?«, bietet sie so nett, wie sie ist, an. Hach, sie ist schon echt toll.
»Ey ... Jaaa. Die Jessss ...«, stammelt Jess mit erhobenem Zeigefinger herum, klappt dann aber in meinen Armen wieder fast weg.
»Das bekomme ich schon irgendwie hin, ihre Eltern wohnen ja hier um die Ecke, aber danke. Feier du noch schön.«
Dannie beugt sich zu mir rüber und gibt mir einen Kuss. Dann bringt sie uns durch die Menschenmenge hinaus. Bevor ich starten kann, umfasst sie auf einmal mein Handgelenk und guckt mir ernst in die Augen.
»Trish. Bitte geh nicht durch den Park. Komm wieder oder ... schlaf bei Jess. Oder geh einen Umweg. Aber bitte, du weißt, was die Leute sagen.«
»Hm«, gebe ich lediglich zurück, da ich mir das offenhalten will und ich nicht an solche Märchen glaube. Wie oft ich schon durch den Park gelaufen bin ... Das kann ich gar nicht mehr zählen.
»Trish?« Sie wartet wohl auf eine Antwort.
»Ich werd' gucken, für was ich mich davon entscheide. Süß, dass du dir Gedanken machst. Und nun hopp, geh darein und feier noch.«
Sie lässt wieder locker, gleichzeitig funkeln mir ihre Augen wieder mehr Fröhlichkeit entgegen. Ich gebe ihr noch einen Kuss auf die Wange und wende mich zum Gehen.
»Jess, komm schon. Benutz mal deine Füße. Hilf mir mal.«
Alle anderen würden wahrscheinlich denken, dass sie sturzbetrunken ist. Aber nee, ... Dannie kann keinen Alkohol trinken und somit gibt es auch keinen Alkohol auf den Partys. Jess ist einfach erledigt von der Kotzerei. Kann ich auch irgendwie verstehen. Zumindest mir denken. Die Bilder will ich gar nicht mehr in meinem Kopf haben. Bäh.
»Na los. Einen nach dem anderen. Ja. Genau.«
Vielleicht hätte ich doch Dannies Angebot annehmen sollen. Oder zumindest gemeinsam Jess nach Hause bringen sollen ... Dann hätten wir sie jeder an einer Seite unter den Armen packen können. Mist. Aber für die zwei Straßen? Ich drehe mich um. Oh wow, wir haben schon ganze hundert Meter geschafft. Der riesige Kürbis, durch den wir beim Ankommen laufen, – eher springen – mussten, ist auch noch zu sehen. Hätten wir da jetzt auch noch durchlaufen müssen ... Puh. Zum Glück nicht. Dannie hat sich echt was einfallen lassen. Eine Kürbis-Hüpfburg als Eingang.
Direkt kribbelt es wieder in meinem Bauch bei der Erinnerung an vorhin, als wir dort drin waren ... Nachdem Jess und ich ankamen und sie Jess bat vorzugehen, die das mit einem dreckigen Schmunzeln hingenommen hat und wir dann gemeinsam gehüpft sind und uns dann ... geküsst haben. Ja, ... das war wirklich mal wieder ein schöner Moment.
Zurück ins Jetzt. Wir müssen weiter. Sonst wird das ja nie was.
Nach gefühlten dreißig Minuten habe ich mit Jess den Weg geschafft und sie zu Hause bei ihren Eltern abladen können.
Tatsächlich kommt mir zunächst der Gedanke, ob ich wieder zurück zur Party gehen soll, doch ich bin viel zu erledigt. Schnell tippe ich eine Nachricht an Dannie, dass Jess zu Hause ist sowie ich mich zu mir in meine Wohnung aufmache und wir uns dann morgen sehen. Nächste Frage tut sich auf: Welchen Weg nehme ich? Ein kleines Schmunzeln überkommt mich bei ihren Sorgen. Ist ja niedlich, aber echt unnötig. Natürlich gehe ich durch unser Grün inmitten der Stadt. Dann bin ich bald zu Hause und kann mich in mein Bett einkuscheln. Auch wenn das Grün nicht wirklich sichtbar ist, da es schon düster ist. Die fahlen Lichter durch die Laternen bringen leider herzlich wenig, da sie hochragen und kaum Licht nach unten dringt. Aber das ist kein Problem, so oft, wie ich hier schon durch bin, kenne ...
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Was zum Geier ...? Ich bleibe stehen und drehe mich um mich selbst. Nichts zu sehen. Kein Wunder bei diesem fast nicht existenten Licht. Halloween. Es ist Halloween. Unwillkürlich, denn absichtlich ist es mit Sicherheit nicht, klatsche ich mir gegen die Stirn. Wie doof. Hier wird auch irgendwer eine Fete feiern. Ist doch der ideale Platz. Und eine Bö wird den Fetzen des Lieds zu mir getragen haben. Ist doch klar. Ja, so wird es sein und meine Beine setzen ihren Weg fort.
Hauch um Hauch wird mir nun um den Körper geweht. Langsam wird es wirklich kühl und ich Idiotin habe meine Jacke bei Dannie liegen lassen. In meinem dünnen Strickpulli ziehe ich das Tempo nun an. Doch je schneller ich gehe, desto stärker wird der Wind. Als würde er sich mir entgegen drücken.
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Und wieder schallt er mir dieses Lied herüber. Komme ich dieser Feier näher? Wo aber sind sie denn genau?
Verdammt, was war das denn?
Einmal nicht aufgepasst und dann werde ich beinahe von einem herumwirbelnden Ast getroffen. Kann doch nicht wahr sein. Mein Handy!, fällt mir ein. Da gibt es doch die Funktion einer Taschenlampe! Abrupt bleibe ich stehen, um es aus meiner Hosentasche zu fischen, nur um dann fassungslos auf das dunkle Display zu starren. Na toll. Ich war bis eben gerade eigentlich noch der Meinung, dass es zu mehr als die Hälfte geladen war. Hm. Anscheinend nicht.
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»Okaaay. Langsam reicht es«, spreche ich zu meiner eigenen Überraschung laut in die Dunkelheit aus. Woraufhin sich ein Schemen erkenntlich macht.
Natürlich muss ausgerechnet jetzt jemand auf mich zukommen. Peinlich. Die Person denkt doch, dass ich bescheuert bin und obendrauf, dass ich sie meine. Innerlich suche ich nach irgendeiner Ausrede, doch es fällt mir einfach nichts ein, was nicht total Banane klingen würde.
Ich warte und warte, aber niemand spricht mich an. Dennoch ... dieser Schemen bewegt sich weiterhin auf mich zu, oder ich auf ihn?
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No, no, no! Unmöglich! Spinn jetzt nicht so rum, Trish! Das war sicherlich nicht der Schemen! Wahrscheinlich ist es gar kein Mensch. Hast dich bloß getäuscht! Da ist bestimmt nichts. Vielleicht nur ein Schatten.
Nach oben schauend gehe ich in Gedanken den gesamten Weg noch einmal durch. Obwohl ich friere, bildet sich ein dünner Schweißfilm auf meinem Rücken sowie Handinnenflächen. Müsste ich nicht schon das Ende des Parks sehen können? Ich bin rein, dann zweimal abgebogen, einmal so, einmal so, dann einfach geradeaus und dann müsste ich zum Schluss, wenn der Ausgang erkennbar ist, etwas schräg reinlaufen. Aber dieser Weg kam bisher noch nicht.
Ich blicke wieder nach vorne. Der Schemen ist weg. Dann spüre ich etwas Kaltes an meinem Nacken.
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Irgendwie kommt es mir eigenartig vertraut vor. Aber andererseits auch nicht. Ein unheimlicher Schauer überzieht mich. Jetzt geh schon!, befehle ich mir selbst. Aber langsam und bedacht! Von einem Ast möchte ich nicht erschlagen werden. Einfach geradeaus.
Ein merkwürdiges Vibrieren an meinen Füßen macht sich bemerkbar, was sich verstärkt. Und auch wieder nachlässt. Einordnen ... kann ich es nicht, aber so langsam mache ich mir Sorgen, dass ich in irgendeinen naturkatastrophenähnlichen Zustand geraten bin. Da ist es wieder. Und Hölle, ist das doll! Wenn ich davon mal nicht morgen Muskelkater bekomme! Ziehst du das gerade selbst ins Lächerliche, damit du keine Angst haben musst?, stelle ich mich selbst infrage. Und wenn ... Verflucht, was passiert hier?!
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Soll das jetzt bedeuten, dass dieses Erdbeben mich verschlucken will? Was soll es heißen? Warum höre ich eigentlich immer nur diesen einen Vers?
Ein immenses Vibrieren holt mich auf den Boden, ich kann mich gerade noch mit den Händen abstützen. Gras kann ich spüren, das ist schon mal gut. Das bedeutet, ich bin im Park ... mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit. Nur bestimmt, warum auch immer, falsch abgebogen. Ich ziehe meinen Pullover, der etwas verrutscht ist, nach unten und versuche zu erkunden, ob ich mich irgendwo verletzt habe. Scheint alles gut zu sein. Okay. So, dann jetzt aber weiter. Ich möchte gerade meine Handflächen wieder auf den Boden positionieren, um mich besser abstoßen zu können, da spüre ich etwas anderes ...
Was ist das? Spuren? Von einem Tier? Ich umkreise sie, lege meine Hand hinein. Wow! Meine Hand macht vielleicht mal ein Drittel aus. Ich habe keine Ahnung, was hier auf einmal gespielt wird, aber ich glaube, ich sollte ganz schnell weiter.
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Die Luft wird plötzlich dünn, ganz warm und ... mir so schummrig. Geh jetzt weiter! Nicht den Spuren nach! Oder willst du dem Viech in die Arme oder was auch immer laufen? Doch es ist zu spät, meine Füße haben mich schon längst diesen Weg weitergetragen, bevor mein Verstand sich einschalten konnte. Mein Brustkorb senkt und hebt sich angestrengt, um wenigstens etwas Sauerstoff durch meinen Körper pumpen zu können. Das Zittern meiner Gliedmaßen nehme ich nur noch benebelt wahr. Pause. Luft. Der Wind, er hat nachgelassen. Doch diese Wärme ... ist fast noch unerträglicher ... Kommt das von mir oder was ...? Nein, Trish, denk nicht so was! Das ist albern.
Plötzlich sehe ich, wie sich die Büsche rechts von mir bewegen. Ich bin auf alles gefasst, was mich gleich anspringt. Vielleicht. Eventuell auch nicht.
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Die Bewegung in den Pflanzen stoppt. Mit einem Seufzen schüttle ich den Kopf über mich selbst. Da ist nichts.
Doch plötzlich greift mich etwas am Nacken. Kalt und ebenso rau. Es hat mich in seinem Griff und jagt mir schreckliche Angst ein, mehrere Panikschübe bahnen sich an. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Momentan verharre ich in meiner Starre. Ich blinzle. Doch sehen kann ich es nicht. Nach der ersten Schocksequenz kommen erstickte Schreie aus mir heraus, die ich selbst nicht hören kann. Sie gehen in der dunstigen Dunkelheit unter. Die Tränen, die mir über das Gesicht laufen, tropfen mir in den Mund.
Auch sonst höre ich nichts, kein Röcheln, kein Rascheln, lediglich mein Atmen und das Rauschen in meinen Ohren. Ich warte. Und dann, ... so schnell wie es kam, ist es wieder weg. Mit ihm auch die schwüle Luft. Als wäre es nie da gewesen. Perplex stehe ich da und traue mich nicht, mich zu bewegen.
Doch es drängen sich noch andere Ängste in mein Bewusstsein. Was, wenn es wirklich weg ist und es wieder kommt? Ganz langsam bewege ich mich. Ein Körperteil nach dem nächsten, bis ich mich schlussendlich umdrehe und nichts auszumachen ist. Mit meiner Hand streife ich über die Stelle, wo es mich hielt. Eisig. Aber sonst ist auch da nichts.
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Voller Angst renne ich nun los. Dieser Vers sitzt mir im Nacken. Er verfolgt mich. Er bedrängt mich.
Der Boden verändert sich. Mit ihm dieser Park. Das ist doch absurd! Denk nach, wo könntest du falsch abgebogen sein?! Ich habe keine Ahnung! Ich erkenne die Wege nicht mehr. Die Finsternis hat deutlich zugenommen. Sie umgibt mich wie ein bleierner Wall. Ich muss weiter, laufe weiter, doch der Boden macht es mir zunehmend schwerer. Mit seinen Erhebungen. Ich muss meine Geschwindigkeit drosseln. Oh Gott, bitte lass mich nicht dem Viech begegnen oder was auch immer es ist. Und dann passiert es. Schon wieder. Ich fliege hin.
Eine leise Hoffnung keimt in mir. Ob ich irgendwo liege, nach dem ich von einem Ast am Kopf getroffen wurde?! Soll ich einfach liegen bleiben?
Ein Grollen, dann wieder Wind. Oh nein.
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Ich rapple mich auf, bemerke, dass ich nur noch einen Schuh anhabe, doch das ist mir egal. Ich renne einfach drauf los. Irgendwann muss doch ein Ausgang kommen. Egal welcher. Bitte lass mich zu einem Ende anlangen! Ein Teil meiner Haare kleben mir am Gesicht fest, die anderen werden in der Luft herumgewirbelt. Der Wind zerrt an mir. Er rüttelt so enorm an meinem Pullover, als würde er sich ihn gewaltsam nehmen wollen. Die Böen nehmen erneut so stark zu, dass ich kaum vorwärtskomme. Ich spüre schon, wie dort vorne die unerträgliche, feuchte, warme Luft auf mich wartet.
Ich halte inne. Mir wird bewusst, was die Zeile bedeutet. Hätte ich bloß auf Dannie gehört. Damit gebe ich Vollgas, in dem Irrglauben, entkommen zu können.
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Strampelnd. Außer Atem. Schweißnass.
Noch einen Moment.
Ich öffne meine Augen.
Meine Wohnung.
Ich liege in meinem Bett.
Verdammter Radiowecker.
Jetzt weiß ich, warum es mir vertraut vorkam.
Ein kleines Grinsen.
Es war ein Traum.
Ein Glück!
Schnell aufstehen und duschen. Dannie schreiben. Die Gedanken daran loswerden.
Verdammt!
Wie sieht denn das Bett aus? Und der Boden?
Grüne Verfärbungen ... wie Grasflecken. Und der ganze Dreck auf dem Boden ...
Ich betrachte die Spur ...
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1.Platz Halloween Vault 2022
WattpadMilitaryFiction / WattpadParanormalDE
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