Geladen
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Silvester. Einen Abend, den ich stets zu meiden versuchte, woanders verbrachte, doch diesen einen konnte ich ausnahmsweise nicht für mich alleine verbringen. Nicki bat mich darum. Und auch, wenn ich nichts auf Hochzeitsfeierlichkeiten und dem ganzen Drumherum gebe, so ist sie meine Schwester und wir stehen uns nahe. Warum sie ihren sogenannten Polterabend ausgerechnet auf Silvester legen mussten?! Wahrscheinlich, weil an diesem Tag die Chance höher war, dass alle Zeit hatten oder es sowieso ein Tag beziehungsweise Abend des Feierns sei oder weil am darauffolgenden Tag ihre Hochzeit stattfinden würde.
Als Brautjungfer, wie ich mich derzeit zu schimpfen habe, sollte und wollte ich mich dort blicken lassen, jedoch eher um Nicki diesen Gefallen als Schwester zu tun. Meine Annahme bestätigte sich und ich konnte mich dank zahlreicher Gäste recht unauffällig durch die Feierlichkeit bewegen und so trotz dessen viel für mich sein und mich zurückziehen.
Zwischendurch schlüpfte ich lediglich in die Rolle der Brautjungfer, ging in das Rampenlicht, was mir steht, ich trotzdem anderen gerne überlasse, um meine Rede zu halten, die ich gekonnt warmherzig und humorvoll abgepasst zur Unterhaltung der anwesenden Gäste hielt. Meine Schwester nickte dankbar in meine Richtung.
Deswegen halte ich nichts davon. Für wen sind diese Feierlichkeiten? Für die, die sich auf ewig und immer lieben wollen? Oder doch eher für ihre Gäste, die sich auf deren Kosten währenddessen betrinken und den Magen vollstopfen? Jeder muss es selbst entscheiden. Meines ist es nicht.
Meiner Schwester hatte ich persönlichere Zeilen geschrieben, die ich ihr als schriftliche Botschaft überreichte, damit sie meine innerliche ehrliche Rede ebenso zur Kenntnis nehmen konnte.
Danach zog ich mich wieder in die obere Etage zurück, wenigstens bis zum nächsten Gang des Menüs. Ich schaute mich in dieser angemieteten Lokalität um. Imposantes Inventar, Verschnörkelungen, goldene Armaturen, vermeintliche stilvolle Gemälde. Ich setzte mich auf eins der bequem aussehenden Sofas weiter hinten in dem Flur.
Da kam er auf mich zu. Derjenige, den ich noch nicht kannte, alle anderen schon, entweder oberflächlich, von der Arbeit oder nur über seinen Spitznamen.
Doch Josh musste ihn doch näher kennen, zumal er sein Trauzeuge ist. Da mir sein Anblick völlig neu war und sein Auftreten seinem Spitznamen alle Ehre machte, konnte ich es mir sehr wohl denken, wer da auf mich zukommt. Der mysteriöse Trauzeuge, dessen richtigen Namen ich nicht kannte.
Doch nicht nur schien er mysteriös, mir war auch schleierhaft, warum er auf mich zukam. Kurz darauf saß er auch schon neben mir auf dem Sofa, was mich nur noch mehr verwirrte. Ich wartete auf eine Erklärung, doch es kam nichts von ihm.
»Halloo?!«, fing ich auffordernd an, in der Hoffnung aufgeklärt zu werden.
»Ja hey. Tut mir leid, ist dieses Sofa deines oder darf auch ich hier sitzen?«, fragte er mit einem gewissen Unterton sowie einem verschmitztem Lächeln, was ich beides nicht richtig deuten konnte. Doch das Wort 'mysteriös' ging mir erneut durch den Kopf.
»Es ist für jeden zugänglich. Na klar ...«, war meine einerseits neutrale und andererseits etwas schnippische Antwort. Daraufhin wand ich mich etwas ab und tat so, als würde ich mich den Gemälden widmen.
»Hätte ich das gewusst, säße ich nun nicht hier...«, durchbrach er nach kurzer Zeit die Stille.
»Hättest du was gewusst?«
»Dass du ein Mensch bist, der auf langweilige extravagante leidenschaftslose Gemälde steht.«
»Interessant. Ich dachte du wolltest dich lediglich setzen?!«
»Und wenn dies bloß ein Vorwand gewesen ist?«
»Und wenn mein Hinwenden zu diesen stillosen Wandschmückungen ebenso ein Vorwand war?!«
Bevor wir weiter reden konnten, ertönte die Glocke. Das Zeichen, dass der nächste Gang, der Hauptgang, ein wenig später am Tisch serviert wurde. So stand ich auf. Wir lächelten uns an und es gab diesen kurzen magischen Augenblick, in dem sich unsere Augen trafen. Danach gingen wir schweigend hinunter.
Als ich mich noch einmal umdrehen wollte, war er schon nicht mehr hinter mir. Der mysteriöse Trauzeuge, ein wirklich passender Spitzname. Stattdessen tippte mich nur kurz darauf Nicki an, die mich ins 'Hier und Jetzt' zurückholte. Wir gingen zusammen zum Tisch.
Da wartete die nächste Überraschung. Er saß neben mir. Nicki und Josh uns gegenüber. Innerlich musste ich grinsen, denn diese kleine Konversation auf dem Sofa kurz zuvor war das erfreulichste an diesem Abend und ich erhoffte mir noch mehr davon, was sich erfüllen sollte.
Seine mysteriöse Art war anziehend und das passende Pendant zu diesem Anlass, woran ich nicht teilgenommen hätte, wenn es sich nicht um die Hochzeit meiner Schwester handeln würde. Und dazu seine Ausstrahlung mit seinen magisch grünen Augen und seinem frech sowie gleichzeitig charmanten Lächeln.
Das Essen neigte sich dem Ende zu und Josh fragte meinen Sitznachbarn, ob und wenn, wen er mit zur Hochzeit mitbringen würde. Dieser beantwortete die Frage rasch und deutete auf mich. Alle Gesprächsteilnehmenden schienen überrascht, einschließlich mir.
Anstelle dem etwas entgegen zu setzen, stimmte ich nur nickend zu. In diesem Moment bahnte sich ein leichtes Kribbeln an und signalisierte mir, dass ich mich offenbar freute.
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Nun sitze ich hier, wartend auf ihn und lasse mir den gestrigen Tag sowie die Worte meiner Schwester zum abermaligen Male durch den Kopf gehen. Sie nahm mich gestern außer Sichtweite zur Seite und schien ernsthaft besorgt.
'Etwas ist komisch an ihm, er scheint nicht nur mysteriös, irgendetwas ist da noch, ich weiß nicht was und Josh spricht nicht mit mir über Luis. Aber bitte, sei vorsichtig und lass dich nicht auf ihn ein, Hannah', war das, was sie mir sagte, sagen konnte.
Was soll das nur bedeuten? Ist Luis gefährlich? Kriminell? Oder spielt er mit den Gefühlen? Es kann so vieles bedeuten. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich vor dem Trauzeugen ihres baldigen Ehemannes gewarnt werden würde. Wie schlimm kann er dann schon sein? Warum ist Josh dann mit ihm befreundet? Josh ist immerhin ein sehr netter lieber einfühlsamer Mensch. Oder ist auch das nur Schein? Wollte mir meine Schwester noch etwas anderes mitteilen? Sorge und Frust versucht sich in mir breit zu machen, doch bevor sie Überhand gewinnen können, höre ich die Türklingel bimmeln. Im Aufstehen schüttele ich meine ganzen besorgniserregenden Gedanken ab und sage mir, dass ich es auf mich zukommen lassen werde, aber gewissen Abstand zu ihm halten und ein Auge auf meine Schwester werfen werde.
Ich öffne die Tür. Oh, sieht er gut aus. Erneut wird mein Körper von einem Kribbeln erhascht, dieses Mal jedoch um einiges stärker. Bevor er mich umarmen kann, schnappe ich schnell nach meiner Tasche sowie meinem Mantel und trete dann hinaus, um die Tür hinter uns zu zuziehen.
»Dir auch ein hallo«, sagt er währenddessen.
»Ja. Hey.«
»Ist alles in Ordnung bei dir?«
»Ja nur ein bisschen im Stress. Tut mir leid.«
»Ok. Du siehst übrigens bezaubernd aus.«
Erst da schaue ich ihn richtig an, dessen Augen mich allein in den Wahnsinn treiben. Als ob er das wisse, fixiert er mich mit eben diesen. Oh je, das wird schwierig heute auf Abstand zu gehen.
»Du siehst auch nicht schlecht aus...«, versuche ich mich aus unserer geladenen Situation zu befreien.
»Oh, vielen Dank für dieses großzügige Kompliment.«
Nun auch noch dieses Lächeln. Jetzt reiß dich zusammen, du bist doch keine zwölf Jahre alt mehr, ermahne ich mich selbst. Ich gehe vor, obwohl ich weder eine Ahnung habe, wo er geparkt hat, noch was für ein Auto er fährt.
Er ergreift sanft meinen Arm. Ich erschrecke, wie schnell sich Gänsehaut breit machen kann. Er bedeutet mir, dass der Wagen in der anderen Richtung steht.
Die Fahrt, glücklicherweise nur ein paar Minuten lang, verbringen wir schweigend im Auto. Dort angekommen begrüßen wir alle, sind demnach zunächst abgelenkt. Doch durch seinen Auftritt wird allen klar, dass wir gemeinsam da sind. Ohne die Worte meiner Schwester wäre es mir vermutlich nicht aufgefallen.
Die Zeremonie beginnt. Ich freue mich für Nicki. Und auch Josh. Für beide. Sie wirken einfach glücklich.
Im Anschluss gehen wir in die gleiche Lokalität, aus der wir heute früh erst kamen. Bis zum Essen, zu den Reden, den Spielen und allem weiteren wird es noch einige Zeit dauern. Daher entschuldige ich mich unter dem Vorwand die Toilette aufsuchen zu müssen und verziehe mich erneut in die obere Etage.
Erst einmal den Abstand gesichert, versuche ich mir einen Plan zurecht zu legen, wie ich weiter fortfahren könnte. Warum fällt es mir so schwer seinem Blick zu widerstehen? Ich muss zugeben, dass in ihm viel liegt und auf eine merkwürdige Weise er mein Verlangen wachrüttelt.
»Wusste ich doch, dass ich dich hier finde.«
Überrascht, aber eher von meiner Unüberlegtheit, dass er mich natürlich hier aufsuchen würde.
»Habe ich irgendetwas falsch gemacht?«, fragt er in einem Ton, der mich trifft.
»Nein, nichts von dem ich wüsste.«
»Möchtest du mir etwas sagen?«
»Eher habe ich unzählige Fragen.«
Statt einer Antwort, einer Gegenfrage oder irgendeiner Reaktion steht er auf. Fassungslos sehe ich ihn an. Kann das nun sein Ernst sein? Erst kommt er auf mich zu, erweckt den Eindruck reden zu wollen und erhebt sich dann einfach? Dann bemerke ich, wie seine Ausstrahlung sich verändert, wie er sich mehr und mehr anspannt. Was ist denn nun passiert?
»Luis. Ich finde dich schon nett, aber...«
»Psst«, unterbricht er mich und legt seinen Zeigefinger auf seinen Mund. Ich soll meinen Mund halten? Hat er sie nicht mehr alle?
»Ich lasse mir doch nicht...«
Er macht einen großen Schritt auf mich zu und legt seine Hand auf meinen Mund, sodass ich nicht weitersprechen kann. Was geht hier vor sich? Angst keimt in mir auf. Ist es das, was Nicki meinte? Wird jetzt etwas mit mir geschehen, etwas furchtbares? Schweiß läuft an mir herunter. Luis scheint mich jedoch nicht weiter zu beachten außer, dass er mich weiter festhält. Er tut mir nicht weh, noch nicht. Er schaut sich um, behutsam, entscheidet sich offensichtlich dann mit mir in einen der Räume zu gehen.
Immer noch seine Hand auf meinen Mund, fängt er an leise mit mir zu sprechen, gerade so laut, dass ich ihn verstehen kann.
»Bitte habe keine Angst vor mir. Es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Aber wir müssen vorsichtig sein. Bitte. Ich werde meine Hand von deinem Mund wegnehmen, aber bitte, du musst leise sein.«
Ich nicke und er lässt seine Hand langsam ab. Um meine Chancen groß zu halten, rede ich genauso leise.
»Sag mir, was hier los ist, sonst... rufe ich die Polizei oder ich schreie oder keine Ahnung.«
»Psst. Bitte. Ich kann dir nicht alles sagen. Aber wenn du leben willst, solltest du leise sein.«
»Wenn ich leben will? Was?«
Ich lasse mich an der Wand hinunter gleiten. Was ist hier los? Ist er ein krimineller Mafiatyp oder so etwas in der Art? Mein ganzer Körper bebt. Plötzlich ertönt ein Knall. Ich schaue ihn an. Er legt wieder nur seinen Finger auf seine Lippen, um mir zu signalisieren, dass ich ruhig sein soll. Warum klärt er mich nicht wenigstens auf?
»Was war das eben?«, frage ich so leise ich kann.
»Jemand hat geschossen.«
»Geschossen? Dann müssen wir die Polizei rufen. Oh meine Schwester oder Josh oder...«
Während mir Tränen runter kullern, kommt er zu mir.
»Nein, ich tue dir nichts. Ich bin keiner der Bösen. Ich habe nicht geschossen. Glaube mir. Ich versuche die Lage zu sichern.«
»Wie soll ich dir glauben? Ich kenne dich nicht. Woher weißt du, was hier los ist? Warum hast du keine Angst?«
»Weil das mein Beruf ist.«
Bevor ich richtig darüber nachdenken kann, was er mir gerade mitteilen wollte, schnappt er meine Hand und ich sehe dabei zu, wie er mich von dem Raum, indem wir uns eben noch befanden, hinaus in den Flur zieht, mich eng an die Wand drückt, sich ebenso an die Wand lehnt und so vorwärts schleicht.
'Mysteriös', aber auch à la Bond oder Statham geht mir durch den Kopf, bevor ich mich selbst für diese bescheuerten Gedanken rüge. Konzentration und Achtsamkeit ist jetzt angesagt, auch wenn ich nicht weiß, worauf ich zu achten habe. Ich tue es ihm gleich und taste mich vorsichtig vorwärts.
Schockstarre. Erneut. Ein Klang, den ich nun einzuordnen weiß. Ein zweiter Schuss. Ich hoffe inständig, dass keiner verletzt ist. Weiß er, wer die verdächtige Person ist, die da unten ihr Unwesen treibt? Auf einmal laute Stimmen, wildes Durcheinander, Fetzen von Aussagen kann ich vernehmen, dringen zu mir durch. Panik steigt auf. Habe ich das richtig verstanden?
Ich bemerke, wie Luis mich ansieht mit seinen grünen Augen, sein Lächeln nun nicht mehr so frech, eher betrübt. Ich habe allen Anschein das gleiche vernommen wie er. Er packt meine Hand und wir beschleunigen unsere Schritte. Geschickt öffnet er mit der anderen Hand ein Fenster am Ende des Flurs, ich soll da raus. Aber ich bin doch keine Sportlerin. Er flüstert mir zu, dass dort eine Leiter am Mauergewölbe ist, die ich hinunter klettern kann und er mir folgen wird.
Schwerer als ich es erwartet hatte, klettern wir die Außenmauer hinunter, Luis dabei stets wachsam mit einem Auge nach oben blickend. Unten angekommen ist er darauf bedacht, dass wir von innen nicht bemerkt werden können. Doch selbst möchte er seinen Verdacht bestätigt haben und riskiert es näher ran zu gehen.
Ich begreife langsam, dass er etwas von seinen Beruf versteht, denn auch ich habe ihn nicht Richtung Fenster gehen und wiederkommen sehen. Als er wieder kommt sagt er zu mir, dass ich auf der gegenüberliegenden Seite der Straße hinter dem Baum warten solle und er dem nun ein Ende bereiten wird.
Aber das möchte ich nicht. Ich will nicht alleine sein. Was, wenn mich jemand anspricht, was soll ich dann sagen? Nachdem ich nicht mit mir reden ließ, gibt er auf und nimmt mich mit zum Nebeneingang. Er öffnet jene Tür nur einen Spalt, lugt hinein, gibt mir ein Zeichen zu warten und schließt diese wieder vorsichtig.
»Ich kann es nicht riskieren. Du musst hier bleiben. Hör mir jetzt genau zu. Du gehst dort rüber, stellst dich hinter die Stellwand. Wenn du noch weitere Schüsse hörst oder jemand anderes als ich oder deine Familie herauskommt, dann rufst du diese Nummer an und nennst meinen Namen und den Ort.«
Erwidern kann ich nichts, er lässt es nicht zu, er deutet auf die Stellwand auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich nehme die Karte aus seiner Hand, blicke in seine Augen und sehe, dass er es ernst meint.
Hinter der Stellwand, die Karte fest in meiner einen Hand, mein vorher überprüftes lautlos gestelltes Handy in der anderen, schaue ich starr auf dieses Gebäude. Zunächst ihm, Luis, hinterher, wie er dort hinein schlüpft, dann, ob sich etwas regt.
Totenstille, so kommt es mir vor, eine gefühlte lange Zeit. Ein Schatten wird ersichtlich. Mir stockt der Atem. War dieser nur für mich ersichtlich oder auch für diejenigen, die dort diese Tat verüben? In angespannter Position hoffe ich inständig, dass nur ich es bemerkte, ich keinen weiteren Knall hören muss. Meine Augen nicht abwenden könnend, da ich zumindest aufmerksam beobachten will, falls ich den nötigen Anruf tätigen muss. Ich flehe innerlich, dass es bald ein Ende findet, dass Luis es irgendwie schafft die Menschen dort drin inklusive sich selbst unbeschadet aus dieser Situation zu befreien.
Nur wie will er das eigentlich alleine schaffen? Es kommen Zweifel in mir auf. Da ist unmöglich nur eine Person drin. Gehört er doch zu denen? Wieder übermannt mich Panik und ich weiß nicht, was ich tun soll. Soll ich hier bleiben? Soll ich da rein gehen? Aber was kann ich schon ausrichten? Und nun fällt mir wieder ein, was sie vorhin sagten. Sie suchen nach ihm. Warum suchen die nach ihm? Wieso habe ich das vergessen? Suchen sie nach ihm, weil er ihnen etwas schuldet oder weil er wirklich ein Polizist oder dergleichen ist? Vielleicht ein verdeckter Ermittler?
Meine Gedanken bringen mich noch um den Verstand. Fokussiere dich, ermahne ich mich. Denk an deine Schwester, an ihren Mann, an deine Familie, deine Freunde, deine Freundinnen.
Was kann ich tun?
Ehe ich mich entscheiden kann, passiert es.
Ein weiterer Knall. Der dritte Schuss des Tages.
Ich blinzele, um mehr erkennen zu können. Durch das Fenster sehe ich ihn, Luis. Aber ich sehe nicht, wer geschossen hat oder wer getroffen wurde.
Was sagte er? Bei einem Schuss, die Nummer anrufen. Ok. Ich tippe die Nummer ins Handy. Sehr schnell geht jemand, ohne den Namen zu nennen, dran. Ich spreche das hinein, was Luis mir nannte. Die Person sagt, dass sofort Leute geschickt werden und ich dort bleiben soll, wo ich bin. Es wird aufgelegt. Ich hocke mich hin.
»Psst.« Jemand erschreckt mich. Von wo kam das denn? Noch mehr verkriechen kann ich mich ja gar nicht an diesem Fleck? Galt das überhaupt mir?
»Sind Sie die Anruferin gewesen?«
Ich antworte nicht, sehe noch nicht mal die sprechende Person und woher soll ich wissen, wem ich trauen kann? Warum hat Luis mir nicht gesagt, dass so etwas auf mich zukommen kann?
»Drehen Sie die Karte um, da steht etwas drauf, es ist unser Code. Der Code lautet Deckenbeleuchtung.«
Ich drehe die Karte um und die Person hat recht, da steht Deckenbeleuchtung drauf. Was für ein merkwürdiger Code.
»Ich komme jetzt zu Ihnen. Bitte nicht erschrecken.«
Die Person hockt nun vor mir. Er erzählt mir, dass sich weitere der Einheit in das Gebäude geschlichen haben und sie gemeinsam die Situation beenden werden, dass Luis die Verdächtigen bisher ruhig halten konnte, dass es bald ein Ende haben wird, dass er mich nun weiter abseits bringen wird. Er greift meine Hand. Ein paar Schritte später befinde ich mich an der Stelle, an der ich zuerst warten sollte, an dem Baum, an dem ich vorhin nicht warten wollte. Jetzt bin ich für diesen Abstand dankbar. Ich warte und hoffe.
Gefühlt geht die Zeit nicht vorüber, gefühlt passiert gerade nichts, gefühlt liegt in der Luft eine abschnürende Stille.
Der Unbekannte an meiner Seite ist genauso achtsam wie Luis und behält alles im Blick, bewegt sich kaum, hockt starr in seiner Position, aber nicht aus Schock oder Furcht, sondern, um seine Tarnung zu gewährleisten.
Dann wird die Stille durchbrochen. Ich schaue auf. Viele Menschen rennen wild umher, kommen aus dem Gebäude, indem ich gestern und heute war, die Hochzeit meiner Schwester feiern wollte.
Ich blicke angestrengter hin, versuche sie ausfindig zu machen. Ich sehe Uniformierte mit augenscheinlich Verdächtigen hinauskommen. Wo ist aber meine Schwester? Habe ich sie übersehen? Und wo ist Luis? Galten ihnen die Schüsse? Zittern durchzieht mein Körper. Ich habe Angst.
Der Unbekannte tippt mich an und meint, wir sollten nun zu den anderen gehen. Ich folge ihm, schaue mich immer wieder um, sehe sie nicht.
Aus dem Augenwinkel sehe ich jemanden in meine Richtung laufen. Ich drehe mich um. Nicki. Erleichterung. Ich schaue an ihr vorbei. Josh. Puh. Sie kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.
»Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wir haben dich die ganze Zeit nicht gesehen und wussten nicht, wo du bist, was mit dir ist. Welch ein Glück, dass wir alle wohl auf sind.«
»Luis war bei mir, bis er wieder rein ist. Er hat mir geholfen, raus zu kommen und ich informierte dann irgendwelche anderen. Also ist keiner verletzt? Ich hatte solche Angst.«
»Bis auf den Schock sind alle glücklicherweise unversehrt.«
»Es tut mir so leid, deine Hochzeit...«
»Hauptsache dieser Albtraum hat erst einmal ein Ende, vielleicht sehen wir es später als unterhaltsame Anekdote. Wer weiß?!«
»Ja, wer weiß... Ich bin so froh, dass es dir gut geht.«
»Suchst du jemanden?«
»Ich möchte mich bei Luis bedanken. Er hat mir echt geholfen.«
»Was Luis angeht, da habe ich mich ordentlich getäuscht, hm?! Und ich denke, wir kennen sein Geheimnis nun auch.«
»Danke.«
Nicki deutet hinter mich, ich drehe mich um und sehe ihn. Während ich zu ihm gehe, denke ich, dass das eine prima Schlussszene in einem Actionfilm wäre. Die Frau marschiert auf ihren Helden zu, der gerade von Sanitäter*innen am Arm behandelt wird. Dabei sitzt er auf dem Rand des Rettungswagens und blickt im richtigen Moment zu ihr, fixiert sie daraufhin mit seinen magisch grünen Augen und sogar sein verschmitztes freches Lächeln kommt zum Vorschein.
Kurz bevor ich bei ihm stehe, sagt er wohl der Sanitäterin Bescheid, dass sie gehen kann und wir befinden uns nun alleine da. Doch statt eines Nullachtfünfzehn-Spruches kommt etwas anderes.
»Hannah, ich bin froh, dass es dir gut geht.«
»Wie kommst du auf gut?!«, sage ich in meinem gewollt schnippischen Ton, den er von gestern kennt. Er zeigt mir sein Lächeln und unsere Augen treffen sich.
Da waren wir doch schon gestern, bevor die Glocke läutete.
»Was wolltest du mich vorhin fragen?«
»Meine Schwester warnte mich vor dir und ich wollte wissen, ob du mir sagen kannst, was sie damit meint.«
»Du meinst abgesehen von dem, was heute passiert ist?!« Sein sowohl freches als auch charmantes Lächeln blitzt erneut auf und erwärmt mir immer mehr mein Herz.
»Ich denke... Sie meinte sicher, dass ich mich bisher noch nie auf jemanden eingelassen habe. Das hat sie wohl mitbekommen und machte sich Sorgen um dich... Oder aber sie hat es vielleicht spüren können. Aber du... Gestern... Deine Ausstrahlung, so magisch. Eine so ehrliche Ausstrahlung. Und unser Gespräch war schön und ehrlich. Bei dir war ich einfach ich. Und deswegen möchte ich dich wirklich kennen lernen.«
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