Das Mädchen mit der bunten Buchhülle
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Warum ich hier bin, wurde ich nun schon mehrmals gefragt. 'Fragt doch meine Mutter, warum ich unbedingt auf diese dämliche von unserer Schule organisierte Silvesterparty gehen musste', hätte ich am liebsten geantwortet. Doch ich versuche krampfhaft ruhig zu bleiben, lächle bloß und tue so, als hätte ich mich um entschieden und dass ich mich sehr freuen würde dabei zu sein. Das stimmt natürlich nicht.
Glücklicherweise bin ich keine der beliebtesten Schüler*innen unserer Schule, also bleibt es bei diesen Höflichkeitsfloskeln. Unabhängig davon, ob sie meinen Aussagen Glauben schenken mögen, freuen sich meine Mitschüler*innen darüber, dass ich da bin oder tun auch nur so und gehen dann weiter, um die nächsten Leute voll zu quatschen.
Und ich, ich bleibe da stehen, wo ich eben stehe. Still und für mich in der Ecke der riesigen Aula mit meinem alkoholfreien, aber doch sehr leckeren Cocktail. Keine Lust nur einen Schritt weiter zu gehen, um mich an diesem Vorgeplänkel zu beteiligen.
Auch wenn dies angeblich dazu gehört, habe ich überhaupt keine Lust, von A nach B und sonst wohin zu gehen und irgendwelchen unnötigen Smalltalk zu machen.
Ich kann mit meinen Klassenkamerad*innen sowie ihren Themen nichts anfangen, ständig geht es um Liebesdramen, wer hat wen, irgendwelche Klamotten, Bilder und sonst irgendeinen Schwachsinn, der mich einfach nicht interessiert. Ja, vielleicht bin ich anders. Aber ich kann doch auch nichts dafür, dass mich deren Themen so wahnsinnig langweilen und ich lieber Silvester alleine oder gar nicht feiern würde als hier mit ihnen. Meine Mutter versteht das anscheinend nicht. Vielleicht sollte ich es ihr noch einmal klar machen. Ich bin wer ich bin, oder nicht? Oder muss ich mich ändern, nur damit ich mit ihnen quatschen kann?
Plötzlich taucht ein Lichtpunkt vor mir auf dem Boden auf, der mich in seinen Bann zieht. Mit meinen Augen verfolge ich ihn. Er amüsiert mich, jedoch löst er auch etwas anderes in mir aus. Doch was, das kann ich nicht beschreiben. Ich versuche meine Gedanken zu ordnen, zu fassen, wenigstens umschreiben zu können, doch da entfernt er sich schon wieder, wird kleiner. Wohin entschwindet er?
Es durchzuckt mich. Ich bin überrascht.
Seit über einem Jahr sehe ich sie jeden Tag an meiner Bushaltestelle, an der ich einsteige, um hierher gelangen zu können. Sie tauchte vor etwas mehr als einem Jahr ebenso plötzlich auf, wie eben dieser Lichtpunkt. Dort an der Bushaltestelle. Und immer mit ihrer schönen bunten Buchhülle.
Geht sie auch auf diese Schule? Ich habe mich immer gefragt, wohin sie jeden Tag fährt. Sie stieg doch nie an der Bushaltestelle zu dieser Schule aus, oder doch? In der Schule habe ich sie auch nie gesehen. Oder habe ich sie übersehen? Oder geht sie auf unsere Kooperationsschule? Diese Party wird doch von beiden Schulen zusammen organisiert, wenn ich es richtig in Erinnerung habe.
'Oh wow, beruhige dich mal', sage ich mir selbst. Starre ich sie an? Nein, mein Kopf ist wieder leicht zum Boden gesenkt. Meine Wangen fühlen sich ganz warm an. Bin ich rot? Oh mensch, wie peinlich ... Ich hoffe, keiner sieht mich an. Was löst sie nur so oft in mir aus? Ich freue mich seit längerem morgens auf diesen Augenblick, sie an der Haltestelle zu erblicken. Wie schafft sie das nur? Wir haben doch noch nie miteinander geredet. Sie ist stets vor mir an der Haltestelle, sitzt oder steht dort, manchmal hört sie Musik, jedes Mal hat sie ein Buch in der Hand. Ich kann nie erkennen, was sie liest, weil sie eine bunte Buchhülle, immer die gleiche drum herum hat. So rätsele ich an manchen Morgen, das sie in ein schönes Freundschaftsbuch oder berührendes Drama vertieft ist.
Sie scheint innerlich vollkommen ausgeglichen zu sein und gleichzeitig eine aufgeschlossene humorvolle Persönlichkeit zu sein. Ihre Ausstrahlung zieht mich magisch an.
'Jetzt schalte mal einen Gang runter, Elli', ermahne ich mich. Immerhin habe ich ja noch nicht mal mit ihr geredet. Ich denke da viel zu viel rein und weiß ja auch nicht, ob sie ... sowie ich auf ... Sie hat mich wahrscheinlich noch nicht einmal registriert.
Ok, ich ändere das jetzt. So spontan mein Entschluss ist, steht er auch fest.
»Hallo.«
Mehr habe ich nicht zu sagen? Das soll meine Vorstellung gewesen sein?! Genial. Hätte ich mich nicht mal besser vorbereiten können?! 'Schnell, lass dir noch was einfallen', fordere ich mich auf. Oh, ich sollte mich einfach wieder umdrehen.
»Hey Elli.«
»Du kennst meinen Namen?«
Sie sagte das so normal und ruhig, als würden wir ständig miteinander quatschen. Meine Aufregung steigt.
»Ja, habe ich im Bus mitbekommen.«
Ihr Lächeln ist so schön.
»Ja klar. Deinen kenne ich leider nicht. Tut mir leid.«
»Ich heiße Monia.«
»Ein schöner Name. Ich wusste gar nicht, dass du auch hier auf die Schule gehst.«
»Ich gehe auf die andere. Und du auf diese?«
»Ja genau.«
Warum bekomme ich nicht mehr Worte heraus aus mir? Ich möchte ihr so viel mehr sagen, doch ich schaffe es nicht. Warum kann ich ihr nicht einfach das sagen, was in mir vorgeht, was ich vorhatte ihr zu sagen?
»Elli?«
»Hm?«
»Die Antwort ist Ja.«
Was sagt sie? Habe ich eben irgendeiner meiner Gedanken laut ausgesprochen? Kann sie sich irgendetwas denken? Steht sie auch auf Frauen? Worauf ist die Antwort Ja? Was soll ich sagen? Wieso ist sie so ruhig und nicht so aufgeregt wie ich?
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich richtig verstanden habe.«
»Ich habe mich nie getraut dich anzusprechen.«
»Wirklich?«
»Ja. Aber ich habe gehofft, dass du hier bist.«
»Wirklich?«
»Ja. Wir sehen uns doch nun schon seit mehr als einem Jahr an der Bushaltestelle ...«
»Findest du das auch schön? Also ich meine ...«
»Ja, ich freue mich morgens darauf.«
»Ich mich auch. Ich wusste nur nicht, ob du auch auf ...«
»Die Antwort ist Ja.«
»Oh, jetzt verstehe ich.«
Ich kann mein Lächeln nicht länger verbergen.
»Woran denkst du gerade, Elli?«
»In Gedanken habe ich gerade meiner Mutter gedankt, dass sie mich heute mehr oder weniger gezwungen hat, hierher zu gehen.«
Nun muss sie auch grinsen.
»Ich bin auch froh darüber, du hast mich endlich angesprochen.«
»Und du konntest es mir endlich sagen?!«
»Ja genau.«
Sie nimmt meine Hand, als wäre eine Barriere durchbrochen worden, und ich lasse mich von ihr zu einer der Couches, die für heute hier hingestellt wurden, führen. Glücklicherweise stehen nicht alle dicht beieinander und wir können so weiterhin ungestört quatschen. Aber irgendwie wäre es mir auch egal gewesen, da ich mich auf eine seltsame schöne Weise mit ihr vertraut fühle.
Unsere Bushaltestellenbegegnungen mit der Mündung in diesen Abend waren wohl Schicksal. Und dieser schöne Abend wird der Start von etwas Wunderbaren sein.
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