Das Telefon

Für den Contest von bierfreunde (eineqvalle).

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Wenn wir meine Oma Gudrun besuchen, gibt es nur eine Regel. Keiner benutzt das Telefon. Das Telefon ist alt, hat eine Wählscheibe, eine Schnur, die zu keiner Steckdose führt, und einen Ehrenplatz auf einem kleinen Mahagoni-Tischchen direkt neben dem Sofa.

Selbst als ich noch klein und niedlich war und Oma Gudrun mir quasi alles erlaubt hat (auch wenn sie dann ihrem Nachbarn eine geschminkte und frisierte Katze erklären musste), war das Telefon schon immer ein Tabu für uns gewesen. Nicht mal meine Mutter, Omas geliebte Tochter, durfte es benutzen.

Natürlich hat das Verbot damals wie heute einen großen Reiz auf mich ausgeübt. 

Was mochte an diesem Telefon so besonders sein, dass es keiner außer Oma Gudrun berühren durfte? Ob es einen hohen Sammlerwert hatte und Oma einfach nicht wollte, dass meine Kinderhände es zerstörten? Aber das würde nicht erklären, warum ich sie manchmal spät abends mit dem alten Ding telefonieren hörte, wenn ich an die Wohnzimmertür gepresst dastand und lauschte. 

Ich kann nicht sagen, ob sie jede Nacht nach unten ging, um mit wer weiß wem zu telefonieren. Doch jedes Mal, wenn mein rebellisches Kinderhirn den Plan gefasst hatte, nachts nach unten zu schleichen, um das Telefon zu berühren – einfach aus Trotz, war Oma immer da gewesen und hatte telefoniert. Mit ihrem Herzblatt, Mausebärchen und Täubchen. 

Als kleines Kind verstand ich nicht, mit wem sie da redete, gerade wo doch das Telefon nicht mal an eine Steckdose angeschlossen war. 

Doch mittlerweile ist mir klar, dass sie sich einbildete, mit meinem Großvater zu reden – der, der im Krieg gefallen ist, wie meine Mutter mir mal erklärt hatte. Mein achtjähriges Ich hatte nicht verstanden, warum er dann nicht einfach wieder aufgestanden und zu uns zurückgekehrt war. Doch mittlerweile bin ich älter und klüger. 

Obwohl Letzteres vielleicht anzuzweifeln ist, denn gerade jetzt stehe ich vor diesem kleinen Mahagoni-Tischchen mit diesem kleinen, alten Telefon und frage mich, ob ich den Hörer abnehmen soll. Meine Mutter ist mit ihrer Mutter auf einem Sinfonie-Konzert und das erste Mal seit ich denken kann, bin ich allein im Haus meiner Oma. 

Allein, mit dem Telefon. 

Aus alter Gewohnheit hat Gudrun vor dem Losgehen noch einmal die Tür des Gästezimmers geöffnet und mich ermahnt: 

„In der Küche steht Kuchen. Bediene dich ruhig. Aber fass bloß nicht mein Telefon an, hörst du Maya?" 

Ich habe genickt, mir ein Stück Erdbeerkuchen genommen und mich aufs Sofa gesetzt, um den Fernseher einzuschalten. Ich hatte meiner Oma zuliebe wirklich nicht vorgehabt, das Telefon anzufassen. 

Aber es thront in meinem Augenwinkel, die ganze Zeit spöttisch präsent, als wolle es sagen: Ich bin hier. Komm und benutze mich. Davon hast du doch dein ganzes Leben geträumt.

Und jetzt stehe ich hier, meine Finger nur Zentimeter über dem Hörer schwebend. 

Was erwarte ich mir davon, es anzufassen? 

Ich würde den Hörer an mein Ohr legen, würde nichts hören. Es enttäuscht zurücklegen und für immer mit einem schlechten Gewissen leben müssen. 

Schuldgefühle würden in mir hochkommen, jedes Mal, wenn ich meine Oma beobachten würde, wie sie ihrem heißgeliebten Telefon sehnsüchtige Blicke zuwirft, in der fälschlichen Annahme, dass es weiterhin nur ihr gehöre, dass niemand die Verbindung zu ihrem verstorbenen Mann unterbrechen könnte. Ich will nicht mit diesen Gefühlen leben müssen.

Meine Hand schließt sich um den Hörer und hebt ihn an mein Ohr.

Menschliche Neugierde ist etwas Schreckliches. Etwas, das einen in den Wahnsinn treiben kann und etwas, das die Vernunft ausschaltet. Ob sich so die Erfinder der Atombombe oder des Dynamits gefühlt haben? Vermutend, dass sie etwas Schlimmes schufen, aber dennoch nicht in der Lage, es - sich selbst - aufzuhalten?

Ich drücke den kühlen Hörer an mein Ohr und lauschte einen Moment der absoluten Stille.

„Mein Engel, es ist zu lange her. Sag, quälen dich deine Gelenke nun schon so sehr, dass du nicht einmal mehr zu deinem Täubchen gehen kannst?"

Vor Schreck hätte ich beinahe den Hörer wieder fallen lassen oder laut geschrien. Oder beides. Ich sehe mich um, nicht bereit zu glauben, was ich da höre. Doch der Fernseher ist lautlos und niemand steht außer mir im Wohnzimmer.

Da spricht jemand aus dem Telefon. Eine männliche Stimme, jung mit einem leichten Akzent, wie der meiner Oma, die aus dem Süden stammt, bevor sie sich mit meiner Mama im Bauch in Sachsen niederließ.

„Opa Hanno?" meine Stimme zittert und keine weitere Silbe will meine Lippen verlassen. Spielt mein Verstand mir einen Streich?

In der Leitung ist es für einen Moment still und ich bezweifele kurz, jemals eine Stimme gehört zu haben. Bevor ich jedoch auflegen und mir aus Omas Medizinschrank ein Aspirin nehmen kann, spricht die Stimme – mein Opa – wieder.

„Maya? Meine Enkelin? Bist du es?"

Auch er klingt zittrig und ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen. 

„Ja, ja, ich bin es! Kennst du mich? Siehst du mich?" 

Ich muss wieder an die Worte meiner Mutter denken, die sie mir als kleines Kind eingebläut hat. Dass mein Opa und all die Lieben, die von uns gegangen sind, nun im Himmel über uns wachen und uns immer beobachten, weshalb ich es besser unterlassen solle, weiter heimlich Schokoladeneis zu naschen, wenn sie arbeitet.

„Nein, ich kenne dich nicht, aber deine Oma, meine Gudrun, sie erzählt mir alles über dich. Es ist, als hätte ich dich selbst aufwachsen sehen. Deinen ersten Schritte, das erste Wort, die kleine Maya mit der Zuckertüte in der Hand. Unsere kleine Maya, die ihr Abschlusszeugnis stolz in die Höhe reckt. Oh, ich bin ja so stolz auf dich!"

Ich spüre, wie etwas auf meine Hand tropft und ich realisiere, dass ich zu weinen begonnen habe. Darum, dass ich meinen Großvater nie habe kennenlernen dürfen, und darum, dass er nie mich hat kennenlernen dürfen – nicht richtig.

„Ich bin so stolz", wiederholt er leise.


„Maya?" Ich wirbele herum. Meine Oma steht im Türrahmen. Ich befürchte für einen Moment, dass sie wütend auf mich ist, oder schlimmer: enttäuscht. Doch sie lächelt traurig, fast wehmütig.

„Ich wusste, dass früher oder später der Tag kommen würde, an dem du das Telefon doch benutzen würdest. Alles, was ich tun konnte, war, es so lange wie möglich hinauszuzögern, damit du auch verstehst, was du da hörst."

Ich setze zu einer Entschuldigung an, doch sie wischt sie mit einer Handbewegung fort. Mit schlurfenden Schritten geht sie zum Sofa und setzt sich. Sie sieht auf einmal so alt und müde aus, dass es mir das Herz bricht.

„Weißt du, Maya", beginnt sie, „eigentlich hätte ich dir schon viel früher von dem Telefon erzählen sollen, von Hanno. Du warst schon als Teenager so aufgeweckt, du hättest es verstanden. Doch ich wusste, sobald ich es tun würde, sobald du diesen Hörer in die Hand nehmen würdest, würde er für immer gehen. Ich wollte ihn aber noch nicht gehen lassen, verstehst du?" Die letzten Worte sind kaum mehr als ein Flüstern. „Ich konnte mich noch nicht von ihm verabschieden."

„Opa?" ich habe den Hörer noch immer fest in der Hand doch es kommt keine Antwort mehr. Vorsichtig, ganz sachte, lege ich den Hörer zurück auf die Gabel und setze mich neben meine Oma Gudrun.


„Erzähl mir von meinem Opa.", flüstere ich. Erst denke ich, sie hat es nicht gehört, denn sie schweigt lange Zeit, doch dann beginnt sie zu erzählen. In jedem Wort schwingt eine alte Liebe mit, die mich in eine warme Decke zu hüllen scheint. 

Und während meine Tränen langsam trocknen, kann ich sehen, wie eine einzelne, kleine Träne langsam Oma Gudruns Wange hinabrollt.

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Ja, das war mein Oneshot zum Prompt: "Das Telefon". (1238 Wörter)

Tatsächlich habe ich hier einfach drauf losgeschrieben, ohne zu wissen, was genau ich fabrizieren will und das ist dabei rausgekommen.

Worauf ich stolz bin, ist die Tatsache, dass mich der Oneshot selbst zum Weinen gebracht hat.

Ich habe mal gelesen, ein Werk kann erst berührend geschrieben sein, wenn es einen selbst berührt.

Ich habe das Glück, noch keinen engeren Verwandten verloren zu haben, doch manchmal liege ich nachts wach und denke mir: ich sollte dankbarer sein für die Zeit mit meiner Familie. Sie wird nicht mehr. Habe ich meinen Eltern, Großeltern häufig genug gesagt, wie sehr ich sie liebe? Wenn das Letzte, was ich zu ihnen gesagt habe, das Letzte wäre, was ich jemals zu ihnen sagen könnte, würde ich es bereuen?

Darum widme ich diesen Oneshot alle den, die wissen, wovon ich rede. 

With Love

~Elli

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