Teil 4 | Uhr
Halbherzig begann ich damit, Aufgabe 4 zu beantworten.
Sieh dich im Raum um. Welcher Gegenstand eignet sich potenziell als Mordwaffe?
Ich beschrieb meine Idee, welche das große Lineal betraf. Irgendwie kam ich mir seltsam dabei vor, diese Worte niederzuschreiben. Überhaupt waren die Fragen völlig absurd und hatten meiner Meinung nach nichts in einer Klassenarbeit verloren.
Meine Gedanken drifteten ab.
Die Uhr tickte.
Die Uhr.
Seit wann hatte die Uhr vier Zeiger?
Vier Zeiger, die sich allesamt in einer unglaublichen Geschwindigkeit bewegten. Trotzdem schritt die Zeit nicht voran. Sie schien nahezu stehengeblieben zu sein.
In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß. Was, wenn die Uhr kaputt war?
Was, wenn die Zeit stehen geblieben war?
Was, wenn diese merkwürdige Sequenz niemals enden würde?
Mussten wir dann für alle Ewigkeit in diesem Klassenraum verweilen und seltsame, abstrakte Fragen beantworten?
Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben.
Mein Gehirn spielte mir einen Streich.
Ich hatte Prüfungsangst, das war alles.
Alles war gut. Die Zeit war nicht stehengeblieben. Das war lediglich ein Trugbild in meinem Kopf.
Ich versuchte mich wieder auf die Klassenarbeit zu konzentrieren.
Schließlich wollte ich keine Fünf schreiben.
Obwohl ich die anderen drei Aufgaben noch nicht beantwortet hatte, blätterte ich die Seite um.
Ich konnte mir nicht erklären wieso, aber ich hatte das Bedürfnis, die nächste Frage zu lesen.
Aufgabe fünf: Sieh dich erneut um. Welcher deiner Mitschüler hätte es am ehesten verdient, zu sterben?
Ich schluckte. Das ging zuweit.
So eine Frage durfte kein Lehrer der Welt stellen.
Was war hier los?
Wieso beantworteten meine Mitschüler die Fragen, als sei dies das Normalste der Welt? Bemerkten die denn gar nicht, wie krank diese Klassenarbeit war?
Meine Finger zitterten und meine Handinnenflächen wurden feucht.
Ich hielt es nicht länger aus.
Ich musste Frau Bernstein zur Rede stellen.
Bevor ich meinen Mund öffnete, wanderte mein Blick noch einmal zu Alisa. Sie schaute mich böse an, als wüsste sie bereits, was ich vorhatte.
Das Weiß ihrer Augen war seltsam dunkelblau verfärbt. Normalerweise würde ich vor Entsetzen laut aufschreien, aber ich erkannte schnell den Grund für die unnatürliche Verfärbung.
Alisa musste sich ihren Füller in die Augäpfel gerammt haben.
Füller.
Vielleicht könnte ich das noch als Ergänzung zu Aufgabe vier hinzufügen?
Ohne mich weiter ablenken zu lassen, wandte ich mich nun wieder der Lehrerin zu. Ich wollte Antworten haben. Antworten darauf, was sie sich dabei dachte, solche absurden Fragen zu stellen.
Ich hob meine Hand, obwohl ich wusste, dass Frau Bernstein mich nicht beachtete. Sie war damit beschäftigt, ihre Haare nach und nach auszureißen.
Seltsamerweise musste ich darüber kichern. Eine Erinnerung an meinen Opa kehrte bei diesem Anblick in mein Gedächtnis zurück.
"Das ist doch zum Haare raufen!"
Diesen Spruch hatte er häufig von sich gegeben, wenn er bei einem Gesellschaftsspiel im Begriff gewesen war, zu verlieren.
Ein lustiger, aber eloquenter alter Mann. Schade, dass er vorzeitig gehen musste.
"Frau Bernstein?"
Meine Stimme unterbrach die bizarren Machenschaften meiner Lehrerin, unter deren Füßen sich bereits eine Blutlache gebildet hatte.
Sie brauchte einen Moment, um zu antworten.
"Was ist? Gibt es ein Problem?"
"Kann man so sagen."
"Bei welcher Aufgabe kann ich dir behilflich sein?"
Ich spürte den bohrenden Blick von Alisa, doch ich ignorierte sie.
Tropfen fielen auf glattes Holz.
Entweder sie weinte, oder ihr lief die Tinte aus den Augen.
"Was soll das? Das hier ist keine richtige Klassenarbeit. Sie können uns doch nicht fragen, welchen Mitschüler wir am liebsten tot sehen wollen würden. Das ist keine Frage, die man mal eben so beantworten kann, wissen Sie?"
Frau Bernstein lächelte schief.
Die Uhr tickte.
Langsam aber sicher begann die Zeit weiterzulaufen.
Sehr gut.
"Ich weiß leider nicht, was du meinst."
Natürlich. Jetzt tat sie auf unschuldig.
"Dann sehen Sie doch mal. Hier steht es schwarz auf weiß. Aufgabe Fünf."
Ich deutete mit meinem Zeigefinger auf die besagte Aufgabe.
Frau Bernstein betrachtete die Frage.
Ihr Lächeln wurde allmählich sanfter.
Alisas böser Blick hingegen schien mich förmlich zu zerfressen.
"Lies dir die Aufgabe noch einmal genau durch."
"Was...?"
Ehe ich etwas einwenden konnte, wandte sich die Lehrerin auch schon wieder von mir ab.
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