Teil 3 | Stille Mahnung

Es waren gerade einmal fünf Minuten verstrichen, doch es fühlte sich an, als seien die 90 Minuten schon längst abgelaufen.

Es nützte alles nichts. Wenn ich nicht wieder eine Fünf schreiben wollte, musste ich endlich loslegen.
Etwas Falsches zu schreiben, war schließlich besser, als gar nichts zu schreiben.

Was ist der entscheidende Unterschied zwischen guten und bösen Menschen?

Mein Gehirn fühlte sich vollkommen leergefegt an. Es war beinahe so, als wäre jegliches Wissen, das ich jemals besessen hatte, mit einem Mal ausgelöscht worden.

Ich atmete einmal tief durch und versuchte mich zu beruhigen.

Die Uhr tickte.

Vielleicht könnte ich mich zuerst an den anderen Fragen versuchen?
Möglicherweise waren sie weniger abstrakt und leichter zu beantworten.

Als ich mir jedoch die dritte Frage ansah, musste ich schnell feststellen, dass ich meine Hoffnungen wohl endgültig begraben konnte.

Aufgabe 3: Beschreibe die Hölle in deinen eigenen Worten.

Die nächste Frage ließ mich zusammenzucken.

Aufgabe 4: Sieh dich im Raum um. Welcher Gegenstand eignet sich potenziell als Mordwaffe?

Unwillkürlich suchten meine Augen das Klassenzimmer nach Gegenständen ab, die sich eventuell dazu eigneten, jemandem das Leben zu nehmen.

Das große Lineal, welches an der Tafel lehnte, zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein gekonnter Schlag auf den Hinterkopf und etwas Kraftaufwand sollten ausreichen, um jemanden zu töten. Vielleicht musste man auch ein paar Mal zuschlagen. Es gab schließlich kein Zeitlimit, in dem der Mord geschehen sein musste... Oder?

Nein, in der Aufgabenstellung stand nichts von einem Zeitlimit.

Ich wusste nicht, ob ich es mir einbildete, aber ich hatte das Gefühl, als würden sich die Stifte meiner Mitschüler nun mit einem deutlich erhöhten Tempo über das Papier bewegen.

Das Geräusch verursachte erneut einen heftigen Juckreiz auf meiner Haut, doch ich durfte nicht kratzen.
Ich durfte keine Zeit verlieren.

Angestrengt biss ich mir auf die Innenseite meiner Wange, um den Fokus auf etwas anderes zu lenken.
Tatsächlich beruhigte sich meine Haut allmählich.
Schmerzen ließen sich besser aushalten, als Juckreiz.

Die Uhr tickte.

Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass Alisa das Blatt bereits umgedreht hatte.
Sie musste wohl schon dabei sein, Aufgabe Fünf zu bearbeiten.

Langsam aber sicher schien auch sie nervös zu werden, denn sie begann, mit den Beinen zu wippen.

Mein Fokus richtete sich plötzlich und völlig unvermittelt auf die Lehrerin, welche sich von ihrem Pult erhoben hatte und nun stumm vor der Klasse stand. Sie sah aus, als wollte sie etwas sagen, doch niemand außer mir schenkte ihr Aufmerksamkeit.
Ihr Mund war leicht geöffnet und soweit ich es von der Entfernung aus beurteilen konnte, zitterten ihre Lippen.

Niemand außer mir sah das, was nun folgte. Frau Bernstein hob mahnend den Finger, als wollte sie mich darauf hinweisen, doch bitte mit der Bearbeitung der Klassenarbeit weiter zu machen.

Zu gerne wäre ich Ihrer stillen Aufforderung nachgekommen, doch ich war nicht dazu in der Lage.

Ich konnte meinen Blick nicht von ihrem Gesicht abwenden.

Aus ihrem noch immer leicht geöffneten Mund bahnte sich ein dickflüssiger, roter Tropfen, welcher elegant an ihrem Kinn herunter lief.
Als er sich von ihrer Haut löste und daraufhin zu Boden fiel, folgte sofort der Nächste.

Ich wollte sie darauf aufmerksam machen, doch gerade, als ich etwas sagen wollte, traf mich ein harter Schlag an meinem rechten Arm.

Alisa sah mich mit warnendem Gesichtsausdruck an. Sie führte ihren Zeigefinger an ihre Lippen und bedeutete mir damit, still zu sein.

"Sie weiß es. Das ist bloß ein Test. Konzentrier dich auf die Klassenarbeit."

Mit diesen Worten wandte sie sich wieder von mir ab.

Ich spürte, dass mein Herzschlag einen ungesund schnellen Rhythmus einnahm.

Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

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