Criminal

Langweilig, mein Leben ist so verdammt langweilig. Tag ein, Tag aus immer der gleiche Ablauf. Ich stehe auf, mache mich fertig, esse, gehe zur Arbeit, komme zurück, esse und gehe schlafen. Mehr passiert nicht und ich bin mein eintöniges Leben leid. Meine Eltern sind bereits verstorben, Geschwister hatte ich nie. Freunde besitze ich ebenfalls nicht, denn seien wir mal ehrlich: Das Einzige was Menschen können, ist lügen. Fragst du Sie, ob du gut aussiehst, sagen sie dir, dass du es tust, obwohl es nicht so ist. Fragst du Sie, ob du dich mit ihnen treffen kannst, erfinden Sie die originellsten Geschichten, nur weil sie keinen Bock auf dich haben. Es ist immer so. Egal was andere behaupten. Selbst die, die sagen, dass ihre Freunde so etwas nie tun würden, liegen falsch. Menschen sind immer gleich. So kann man sich wahrscheinlich auch denken, dass ich keinerlei Interesse daran habe mich mit anderen anzufreunden oder mich mit meinen Kollegen zu unterhalten. Unsere Sekretärin zum Beispiel ist eine echte Schlampe, die Empfangsdame eine Lästertante, der Mann mit dem ich mir ein Büro teile ein Schläger und von meinem Boss möchte ich gar nicht erst anfangen. Auch meine Arbeit an sich ist langweilig. Ich sitze den kompletten Tag da, tippe Blätter ab und schreibe E-Mails. Nie passiert etwas Neues. Früher habe ich daran geglaubt, dass leben spannend ist, dass ich irgendwann die Welt sehen würde und ein perfektes Leben führen würde, doch nun weiß ich es besser. Das Leben ist nicht spannend, es hat nicht einmal einen Sinn. Wir werden geboren um zu sterben. Das ist es, was das Leben für uns alle bereithält – der Tod. Und so langsam bekomme ich das Gefühl, dass ich meinen vorziehen sollte.

„Ey, McClain! Gammel nicht so vor dich hin man! Die Drecksarbeit macht sich nicht von selbst!" Innerlich verdrehe ich die Augen, als ich die Stimme meines Bürokollegen höre. „Im Gegensatz zu dir, mache ich meine Arbeit wenigstens gut", murmele ich desinteressiert und konzentriere mich wieder auf den Computer vor mir. Um ehrlich zu sein, stimmt das Gesagte nicht ganz. Wir machen unsere Arbeit beide gut, was bei alleinigem Abtippen keine große Schwierigkeit ist, aber immerhin das kann ich sehr viel schneller als er. Vielleicht liegt es daran, dass ich mir irgendwann mal angewöhnt habe mit 10 Fingern zu tippen und der Idiot immer noch mit nur zwei Fingern tippt. Während ich innerlich am Verzweifeln bin, lasse ich meinen Blick zur Uhr wandern und stelle fest, dass ich nur noch eine Stunde in dem grauen Bürogebäude verbringen muss. Ein Seufzen verlässt meinen Mund, welches leise in dem einfach eingerichteten Raum wiederhallt. Außer den zwei weißen Schreibtischen, an denen ich und mein Kollege sitzen, stehen nur noch 4 weitere ebenfalls weiße Regale im Zimmer. Diese sind gefüllt mit hunderten von Ordnern in denen sich wiederum abertausende von Dokumenten und Kopien befinden. Die Wände sind kahl, eintönig gestrichen und Bilder oder Ähnliches aufzuhängen, ist verboten.

Langsam lasse ich meinen Blick wieder auf meinen Bildschirm gleiten. Meine Finger hämmern in die Tastatur, während ich weiterhin Dokumente abtippe. So vergeht Minute um Minute, bis ich endlich die erlösenden Zahlen am Rand meines Computers erblicke. Schnell speichere ich alles ab und fahre den PC herunter, nur um mir danach meine Tasche zu schnappen und ohne ein weiteres Wort zu verschwinden. Die gesamte Busfahrt über stehe ich ruhig da, schalte mental ab und ignoriere alles um mich herum. Das Geschrei, des kleinen Babys, das Lachen, der jungen Teenager und die aufgebrachte Stimme eines Mannes in den Fünfzigern, der seinen Gegenüber am Telefon ordentlich zusammenstaucht. Weitere Minuten verstreichen bis meine Haltestelle an der kleinen Anzeigetafel erscheint und ich beim nächsten Halt das Fahrzeug verlasse. Tief atme ich ein und stoße die Luft in Form eines Seufzens wieder aus. Wie von selbst tragen mich meine Füße zu mir nach Hause. Sobald die schwere Haustür hinter mir ins Schloss fällt sackt meine komplette Körperhaltung in sich zusammen. Jacke, so wie Schuhe streife ich mir ab und lasse meine Tasche auf der kleinen Kommode im Flur stehen, bevor ich mich in mein Wohnzimmer begebe und mich dort auf die Couch fallen lasse.

Ohne etwas dagegen unternehmen zu können macht sich ein altbekanntes Gefühl in mir breit. Ich fühle mich leer, leer und einsam. Mein Blick wandert zum Fenster und hinaus in den Himmel. Ein unangenehmes Drücken auf meinem Herz und meinen Lungen wird spürbar. Alles krampft sich zusammen. Es ist still, viel zu still. Ich höre das Ticken der Wanduhr, dass Rauschen der fahrenden Autos auf den Straßen und dennoch ist es still. Bilder kommen mir in den Kopf, von Zeiten die nie mehr so kommen werden. Ich sehe mich und meine Eltern bei uns zu Hause Karten spielen. Ich sehe mich mit meinem Vater auf einer Messe über Astrologie. Meine Mutter und mich beim Kochen. Wie ich einen Informatik Kurs mache. Ich sehe die Gesichter meiner Lehrer, die Gesichter, die sie immer hatten, wenn sie mir sagten, dass aus mir mal etwas Großes werden würde. Doch jetzt, wenn ich mich in der schmutzigen Fensterscheibe spiegele, denke ich daran, wie enttäuscht Sie von mir wären, würden sie mich jetzt so sehen. Mein Körper krampft sich zusammen und ich spüre das Brennen hinter meinen Lidern. Ich kämpfe nicht weiter dagegen an und lasse den Tränen freien Lauf. Wie lang es wohl schon her ist, dass ich geweint habe? War es das letzte Mal beim Tod meiner Eltern? Wie lange war das schon her? Zittrig atme ich aus, lasse meinen Kopf nach hinten auf die Lehne fallen. Was tu ich hier? Was soll das? Wo ist der Sinn? Ich habe früh verstanden, dass es keine Wunder gibt. Dass man sich Dinge hart erarbeiten muss, um etwas zu erreichen. Genau deswegen habe ich immer mein Bestes gegeben, habe daraufhin gearbeitet irgendwann meine Träume zu leben. Doch bei all dem Lernen und Arbeiten habe ich meine Träume wohl vergessen, vergessen wofür ich lebte. Ich habe vergessen, dass es eine Realität, eine Gegenwart gibt. Wenn du dein ganzes Leben für die Zukunft ausrichtest, aber nie in der Gegenwart lebst, wirst du nie leben. Nur habe ich das zu spät verstanden. Als meine Eltern gegangen waren, da fiel es mir auf. Mir fiel auf, wie wenig ich in den letzten Jahren mitbekommen hatte.

Mein eigenes Schniefen holt mich aus den Gedanken zurück in die Gegenwart und als mein Blick zu der hässlichen braunen Wanduhr wandert, bemerkt ich, dass ich bereits seit über einer Stunde hier sitze und mir die Augen aus dem Kopf heule. Verwundert über meinen kleinen Gefühlsausbruch schüttele ich meinen Kopf und erhebe mich. In der Küche schenke ich mir ein Glas Wasser ein, an dem ich sachte nippe, bevor ein lautes Krachen mich zusammenzucken lässt. Vor Schreck lasse ich das Glas fallen, welches sofort auf dem hellen Laminatboden zerschellt. Ohne mir Gedanken über die möglichen Wasserflecke zu machen, stürme ich in mein Schlafzimmer, aus dem das Geräusch gekommen zu sein scheint. Mit einem Ruck öffne ich die Tür und mache den Lichtschalter an. Der nächste Anblick lässt mein Herz einen großen Hüpfer machen und es verschlägt mir kurzzeitig den Atem.

Vor mir, direkt unter meinem Fenster, liegt ein junger Mann.

Langsam gehe ich ein paar Schritte auf ihn zu und knie mich zu ihm runter. Er liegt vollkommen still da, fast so, als wäre er tot. Seine langen schwarzen Haare hängen ihm ins Gesicht, seine Frisur erscheint mir etwas alt, aber seine Klamotten sind auf jeden Fall dem Modestil dieses Jahrhunderts zugehörig. Er trägt eine schlichte schwarze Jeans, ein enganliegendes ebenfalls schwarzes T-Shirt und eine taillenlange rote Jacke mit weißen und zwei gelben Streifen. Seine Schuhe sind schwarz-weiße Sneaker und um seine Hüfte hat er sich eine Art Beuteltasche gebunden, aus der, wenn ich es richtig sehe, ein Messer hervorschaut. Da er sich immer noch nicht bewegt hat stupse ich ihn leicht an und murmele ein: „Hey, bist du tot?"

Entgegen meiner Erwartungen grummelt er leise und dreht sich einmal herum, so dass ich nun die Platzwunde auf seiner Stirn sehen kann. Noch einmal stupse ich ihn an, diesmal etwas kräftiger. „Hey, wach auf oder ich rufe die Polizei!" Wie aus dem Nichts geht plötzlich ein Ruck durch seinen trainierten Körper und er sitzt kerzengerade vor mir. „WAS? Wo sind diese scheiß Bullen?! Haben sie mich gefunden?!", sagt er mit einem panischen Blick. „Die sind nicht hier, komm runter. Dafür liegst du allerdings verletzt in MEINEM Schlafzimmer und ich weiß nicht genau, was ich davon halten soll"

Einen Moment scheint er zu brauchen um sich wieder zu fangen, bevor mich nur stumm anstarrt. Ich will gerade dazu ansetzten, ihn zu fragen, ob denn nun noch etwas von ihm kommt, als er mit düsterer Miene zu mir sagt: „Niemand wird hiervon je erfahren, verstanden?" Ich komme wieder nicht dazu, etwas zu erwidern, denn er steht einfach auf und taumelt bis zur Tür, wo er sich kurz festhält und durchatmet, bis er sich weiter durch meine kleine Wohnung kämpft. Auch ich erhebe mich nun und folge ihm langsam. In meinem Kopf herrscht totales Chaos. Wer ist er? Was will er hier? Und, wie ist er in mein Schlafzimmer gekommen?! Während ich hinter ihm herlaufe schaue ich wie durch einen Instinkt aus dem Fenster, nur um dann ruckartig stehen zu bleiben. „An deiner Stelle, würde ich da jetzt nicht raus gehen", sage ich komplett ruhig. „Was? Wieso?", fragt er leicht empört und mit einer Spur Hysterie. „Weil es dort draußen nur so von Polizisten wimmelt und ich glaube, nach deiner Reaktion eben, schlussfolgern zu können, dass sie wegen dir da sind" Mit großen Augen starrt er mich an, bevor er zu mir ans Fenster tritt und selbst einen Blick hinauswirft. „Fuck", murmelt er leise und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand, bevor er an eben dieser hinunterrutscht. „Fuck! Fuck! Fuck!" „Ey, ich kann echt nichts dafür, wenn du notgeil bist, aber könntest du mir bitte erklären, was hier abgeht?", gebe ich interessiert von mir. Kurz blickt er verstört zu mir, wendet seinen Blick dann aber wieder ab. „Ja- also- Äh" „Besteht dein Wortschatz nur aus Stottern und Fluchen? Wenn ja, dann ist das echt traurig" „Kannst du mal still sein?! Mein Kopf tut verdammt weh und es ist nicht leicht zu erklären!" Stimmt, er hat ja eine Platzwunde. Bestimmt greife ich nach seiner Hand und schleife ihn hinter mir her ins Badezimmer, wo ich ihn auf dem Rand der Badewanne platziere und aus dem Badschränkchen einen erste Hilfe Koffer krame. „Oh nein! Nein! Du wirst mich jetzt sicher nicht zusammenflicken!" „Doch, genau das werde ich. Jedenfalls erstmal vorläufig, ein richtiger Arzt sollte sich das dennoch ansehen. Ach, und nebenbei wirst du mir natürlich erzählen, was du hier zu suchen hast" „Fein", grummelt der Schwarzhaarige vor sich hin. Auf meinem Gesicht erscheint ein selbstsicheres Grinsen und während ich mit seiner Verarztung beginne, setzt der etwas Kleinere zum Sprechen an.

„Also zuerst einmal, wirst du das Folgende niemals irgendjemandem erzählen! Und du musst mir versprechen, nicht sofort die Polizei auf mich zu hetzen!"

„Versprochen"

„Gut. Also, mein Name ist Keith Kogane. Nein, du wirst diesen Namen in keiner Geburtsakte finden, denn den habe ich mir selber ausgedacht. Ich weiß nicht, ob du Nachrichten siehst, Zeitung liest oder Radio hörst, aber falls doch, dann sollte dir aufgefallen sein, dass immer wieder von Diebstählen, Einbrüchen oder Bankrauben berichtet wird, die auf eine Gruppe namens Voltron zurück zu führen sind"

Bei seinen Worten horche ich auf, denn natürlich habe ich all das mitbekommen und teile ihm meine Antwort mittels eines Kopfnickens mit.

„Sehr schön, denn ich bin Mitglied dieser Gruppe"

Ich wende mich ruckartig von ihm ab und beginne stark zu husten und zu krächzen, da ich mich bei seinen Worten doch glatt an meiner eigenen Spucke verschluckt habe.

„Geht's dir gut?", fragt er stumpf und ich bringe bloß ein Nicken hervor, fange mich aber schnell wieder und setzte meine Arbeit an seiner Wunde fort.

„Auf jeden Fall sollte ich heute eigentlich ein Museum auskundschaften, aus dem wir als nächstes ein bedeutendes Gemälde stehlen wollten, allerdings sind uns diese scheiß Bullen anscheinend auf die Schliche gekommen, denn ich wurde aus dem Hinterhalt angegriffen und konnte gerade so über die Dächer entkommen. Irgendwie bin ich auf dem Dach deines Hauses jedoch ausgerutscht und gefallen, konnte mich gerade noch so an der Regenrinne festhalten und in dein Schlafzimmer schwingen – danke übrigens dafür, dass du dein Fenster aufgelassen hast. Naja, ich muss anscheinend ziemlich ungünstig aufgekommen sein und habe mir deswegen diese verdammte Platzwunde eingefangen. Ist ja jetzt auch egal, dass ist jeden Falls der Grund, warum ich in deinem Zimmer lag"

„Verstehe" „Wie? Du willst mich nicht rauswerfen oder eine Panikattacke bekommen?" „Nein, ehrlich gesagt bist du genau die Abwechslung die ich gesucht habe" „Du wolltest, dass ein verletzter Krimineller in dein Schlafzimmer fällt?" „Na gut, das vielleicht nicht unbedingt, aber ich wollte irgendetwas Neues, Ungewohntes, ja" „Wow. Einfach nur Wow" „Danke, ich weiß, dass ich unglaublich bin" Mein Gegenüber schnaubt bloß empört, fängt dann aber an lauthals loszulachen. Ich kann es nicht verhindern und steige in sein Lachen mit ein.

„Weißt du, dafür, dass du ein komischer -wahrscheinlich psychisch gestörter- Bürokauz bist, hast du echt einen guten Humor" „Danke, aber woher weißt du, dass ich ihm Büro arbeite?" „Du trägst Anzughose, Hemd und Krawatte, ich bitte dich!" „Ja Ja! Ich habe es ja verstanden", erwidere ich grinsend. Dümmlich grinsend starren wir beide uns nun also an, bis es an meiner Haustür klingelt und jemand -fast schon aggressiv- an meine Wohnungstür klopft.

„Mr Lance McClain! Hier ist die Polizei! Machen sie die Tür auf!"

Mein Blick geht ruckartig in Richtung der Badezimmertür, nur um danach wieder zu dem Schwarzhaarigen zu wandern. „Was sollen wir jetzt machen?", flüstere ich leise. „Die wollen sicher deine Wohnung nach mir durchsuchen. Ich sollte gehen", sagt er und steht vom Badewannenrand auf. Leise schleicht er wieder in mein Schlafzimmer. Kurz starre ich auf die Stelle, auf der er bis eben saß. Will ich ihn gehen lassen? Nein. Sollte ich ihm folgen? Vielleicht. Was hatte ich zu verlieren? Nichts.

Vorsichtig, aber dennoch schnell, folgte ich ihm in mein Schlafzimmer. Der Schwarzhaarige war gerade dabei auf mein Fensterbrett zu klettern, als ich ihn am Handgelenk festhalte. „Was-?", will er fragen, doch ich lege ihm bloß meinen Zeigefinger auf die Lippen. „Lass mich mit dir gehen! Ich habe nichts zu verlieren und ich bin mein Leben satt. Bitte, bitte zeig mir, was es heißt wirklich zu leben", hauche ich ihm entgegen und stehe so verdammt nah neben ihm, dass ich seinen betörenden Duft einatmen kann. „Willst du das wirklich? Es wird kein Zurück mehr geben", sagt er ebenso leise und schaut mir direkt in die Augen. Ich verliere mich förmlich in diesem Sturmgrau, was so leblos und gleichzeitig so lebendig wild erscheint. „Mr McClain!", donnert wieder die Stimme des Polizisten durch die Wohnung und ein weiteres energisches Klopfen ertönt, „Mister wir wissen, dass sie ein Mitglied Voltrons bei sich haben! Öffnen sie die Tür!"

Noch einmal atme ich tief durch, bevor ich zu ihm sage: „Ja, ich bin mir sicher. Ich will das" Der Kleinere schaut mich an, nickt dann bestätigend und murmelt ein: folg mir.

Vorsichtig klettert der Grauäugige nach draußen, klammert sich an die Regenrinne und gibt mir ein Zeichen nachzukommen. Ich tue es ihm also gleich, wobei ich durch meine schweißigen Hände kurz abrutsche, mich aber direkt wieder fange und dann so wie er langsam und mit Bedacht das alte Rohr hinunterrutsche. Aus dem Fenster meiner Wohnung kommt lautes Knacken, dann ein riesiges Poltern und ich könnte wetten, dass das soeben meine Tür war die aus den Angeln gerissen wurde. Lautes Stimmengewirr dringt durch die Nacht, dann ein Schrei. „Da! Da unten sind sie!"

In diesem Moment spüre ich den Boden unter meinen Füßen. Wir sind am Ende der Regenrinne angelangt. Zeit zum orientieren bleibt uns jedoch nicht, denn die Stimmen der unten postierten Polizisten sind schon zu hören, kein Zweifel, dass sie informiert wurden und uns hier unten abfangen sollen. Plötzlich spüre ich, wie Keith nach meiner Hand greift und mich stumm mitzieht. Gemeinsam, Hand in Hand, rennen wir durch die Straßen und Seitenstraßen meiner Heimatstadt. Im Hintergrund das laute Tosen der Sirenen und aufgebrachte Stimmen, die versuchen uns zum Stoppen zu bringen. Der Schwarzhaarige denkt jedoch gar nicht daran, zieht mich noch schneller immer weiter, bis wir in einem Hinterhof ankommen. Sackgasse, denke ich. Anscheinend denken Keith und Ich jedoch nicht das Gleiche. „Los, rauf da!", sagt er mir und zeigt auf einen großen Müllcontainer. „Was?", frage ich verwirrt. „Du sollst da hochklettern!" „A-Aber wieso?" „Damit wir aufs Dach gelangen und jetzt hör auf zu fragen und tu es einfach! Die Bullen brauchen nicht mehr lange bis sie uns ein haben!"

Schwer schlucke ich. Ich bin ganz sicher nicht der Unsportlichste, aber außer Atem bin ich dennoch. Und dieses Dach ist nicht wirklich hoch, dennoch zweifle ich stark, dass ich es da hoch schaffe. „Verdammt los jetzt!", schimpft Keith und gibt mir von hinten einen kleinen Stupser in Richtung des Containers. Noch einmal schaue ich unsicher auf diesen und dann wieder hinter mich. Entschlossen schnellt mein Kopf nach vorne und ich renne auf den Müllcontainer zu. Mit einem großen Sprung lande ich oben, richte mich sofort wieder aus der Hocke auf und warte bis auch Keith neben mir steht. „Halt dich da am Rand fest!", zischt er mir entgegen und deutet auf den überstehenden Rand des Daches. Ich nicke nur, greife danach und dank Keith der mir mit einer Räuberleiter nach oben hilft, sitze ich keine Minute später auf den dreckigen Ziegeln. Auch Keith greift nach der Kante, die Stimmen der Polizisten werden immer lauter, sie biegen in unsere Sackgasse ein. Das Blut rauscht mir in den Ohren. Ich kann meinen Herzschlag ganz deutlich hören. Ohne weiter darüber nachzudenken greife ich nach Keith's Arm, packe ihn und ziehe ihn mit all meiner Kraft hoch. Ruckartig landet der etwas Kleinere neben mir, krallt sich in mein Oberteil um nicht wieder herunter zu rutschen. Zwei mickrige Sekunden, so viel Zeit haben wir um durch zu atmen. Tief ein, tief aus.

Unser Blick gilt nur uns beiden. Eindringlich starren wir uns an. Kein Deut von Reue oder Enttäuschung. Garantiert ist das hier nicht der beste Moment, für nichts. Und doch ist er gerade so viel. Ich spüre keine Reue, gegenüber der Entscheidung ihm auf das Fensterbrett gefolgt zu sein. Ich spüre keine Trauer darüber, dass er es war, der in mein Schlafzimmer fiel.

Ich bin nicht Keith. Das sollte jedem klar sein, aber auch wenn ich es nicht bin, weiß ich was er denkt. Ich weiß vielleicht sogar was er fühlt. Woher? Durch seine Augen. Seine Augen die mich für dämliche zwei Sekunden fesseln, packen und nicht mehr gehen lassen. Sie ziehen mich fort von hier. Fort von den dreckigen Dachziegeln, deren Staub an meiner schwitzigen Hand klebt. Fort von der beißenden Kälte die ich spüre, obwohl ich am ganzen Körper zittere vor Hitze. Diese Hitze, die den Schweiß hervorruft, von dem selbst ich nicht sagen kann, was er ist. Ist es der Angstschweiß, der mich packt, wenn ich daran denke wie all das hier enden könnte? Ist es der Anstrengungsschweiß, den ich davongetragen habe, nachdem ich durch eine Großstadt gesprintet und auf ein Haus geklettert bin? Das Einzige was ich sagen kann, dass ich mich bei ihm fühle, wie in Watte getaucht. Geräusche und Töne sind dumpf, Farben ergrauen und der Einzige, der in all seiner Vielfalt und mit all seinem Licht mir entgegenscheint ist Keith. Ein Krimineller, dessen Geschichte und wahrer Name mir verborgen ist. Ja, vielleicht ist all das zu viel. Zu viel dafür, dass ich diesen jungen Mann noch nicht einmal 24 Stunden kenne. Doch nach all den Erlebnissen dieser Nacht, nach all den Gefühlen, was ist da schon zu viel oder normal? Wann ist etwas überhaupt normal? Nichts ist normal, niemals.

Normal bedeutet, nicht der Norm zu entsprechen, dem Durchschnitt. Nur wollte ich nie der Durchschnitt sein, konnte es nie. Vielleicht ist das der Grund, warum ich all dem so einfach zugestimmt habe, vielleicht ist es aber auch ein ganz anderer. Egal, was es endgültig ist, meine Entscheidungen habe ich getroffen und ich werde keine einzige Minute, keine Sekunde, damit verbringen, sie zu bereuen.

Mit einer imaginären Nadel lasse ich die Blase aus Gedanken, Träumen und Entschlüssen platzen. Hier ist die Realität. Das was jetzt -und nur jetzt- zählt.

Das ‚Jetzt' besteht aus zwei vergangenen Sekunden. Und so rappeln Keith und ich uns auf, zögern nicht einen Moment, bevor wir auf der Stelle kehrt machen und über die Dächer der hell erleuchteten Großstadt rennen. Bei unserem Versuch, auf das Dach zu kommen, haben wir den großen Müllcontainer umgeworfen und anstatt diese Tatsache zu bedauern, feiere ich sie. Es verschafft uns einen gewaltigen Vorsprung. Grinsend stelle ich mir vor, wie die Polizei verzweifelt versucht den Container wiederaufzurichten. Wie absurd. Wie grotesk. Verrückt ist unsere Situation.

Schallendes Gelächter ist es, dass aus meinem Mund hervordringt und die kalte Nachtluft durchschneidet. Ich renne weiter, schneller. Keith fragt nicht. Ich weiß nicht, ob er das denkt, was ich denke oder ob er es einfach so tut, aber er lacht. Er lacht ebenso schallend, ebenso frei. Und dann, ganz ruckartig, bleibt er stehen. Ich tue es ihm gleich. Langsam dreht er sich zu mir. Sein Profil wird erleuchtet von den Lichtern der Stadt. Sie ziehen Schatten über seine glatte weiche Haut. Die schwarzen Haare glänzen leicht und die Augen schimmern mystisch. Ich trete näher an ihn heran, kann nicht widerstehen meine Hand zu heben und an seine Wange zu legen. Vorsichtig, als könnte ich daran zerbrechen, lehnt er seinen Kopf an diese.

„Du bist unglaublich. Du nimmst mir den Atem, wie es bisher kein anderer getan hat. Du tust Dinge, die kein anderer tun würde. Nur ich und du. Also bitte, lass es für immer ich und du bleiben! Lass es uns niemals hinterfragen, lass es uns niemals definieren. Lass uns einfach uns sein", haucht er mir entgegen. Mein Retter, der so unelegant elegant in der Nacht erschien und genau so wieder verschwand, mit mir.

Mama, I'm in love with a criminal. And this type of love isn't rational, it's physical.

Bestimmt umfasst er mein Gesicht mit seinen Händen, zieht mich näher zu sich ran und stellt sich leicht auf die Zehenspitzen um mir tief in die Augen zu schauen. Die Stellen, an der seine Haut die Meine berührt, fängt an zu kribbeln und mir ist so verdammt warm. Wie ist es nur möglich, dass ich so für ihn empfinde? Wir kennen uns doch gar nicht richtig...

„Lance", haucht Keith sanft. Mein Blick hält dem seinen Stand, bis er kurz auf die weichen rosanen Lippen des Schwarzhaarigen fällt. Vergessen ist alles um mich herum. Das Einzige was zählt ist er.

„Küss mich"

Nein, der Grauäugige fragt nicht weiter. Er legt einfach seine göttlichen Lippen auf Meine. Zuerst ist es nur ein sachter Druck, der winzige Stromstöße durch meinen Körper jagt. Ich erwiedere diesen Druck, lege meine Arme um seinen Nacken und ziehe ihn noch näher zu mir. Der Druck wird stärker. Leidenschaftlich bewegen sich unsere Lippen gegen einander. Ein angenehmer Schauer läuft über meinen Rücken und dieses warme Kribbeln in meinem Bauch breitet sich in meinem kompletten Körper aus. Unsere Lippen haben ihren eigenen Rhythmus gefunden, bewegen sich im Einklang. Er ist mir so nah, dass ich seine Wärme wahrnehme. Die Zeit soll einfach stehen bleiben. Hier und jetzt. Der Moment soll nie vergehen und doch tut er dies, als sich der Kleinere nach Luft schnappend von mir löst. Auch mir fällt erst jetzt auf, dass ich fast vergessen habe zu atmen.

Ein gehauchtes ‚Wow' verlässt meinen Mund und ich stehe vollkommen überwältigt da. Keith jedoch grinst mich nur verschmitzt an, dreht sich wieder um und rennt los. Ich brauche noch einen Augenblick, bis ich mich wieder gefasst habe und meine Beine sich ebenfalls wieder in Bewegung setzen.

Keine Ahnung, was die Zukunft für mich bereithalten wird,aber solange Keith bei mir ist, werde ich es lieben.

...ich lebe noch? Bitte schlagt mich nicht! ;-;

Ich weiß, es ist einige Monate her, dass ich hier etwas hochgeladen habe, aber das hatte tatsächlich seine Gründe. Anfang April gab es einen Trauerfall in meiner Familie, der mir viel abverlangt hat. Den kompletten April und bis Mitte Mai bin ich jeden Freitag 5h Auto gefahren, zu meiner Fam und am Sonntag dieselbe Strecke wieder zurück.

Als das vorbei war kam eine verdammt stressige Phase in der Schule, in der es keinen Tag gab, an der kein Test geschrieben wurde. Und als das endlich vorbei war, habe ich erstmal wieder ein bisschen Zeit gebraucht um wieder ins Schreiben reinzukommen. Aber! Ich habe es geschafft und hier ist mal wieder etwas von mir hehe

Die Idee für den Oneshot hatte ich übrigens schon letztes Jahr zur Weihnachtszeit, konnte ihn aber jetzt erst umsetzen.

Ich danke allen, die sich das hier durchgelesen haben und an sich allen, die meine Geschichte überhaupt noch lesen uwu

- 4127 Wörter

- 27.6.2019

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