Bully and Victim

„Na, wie findest du das, Schwuchtel?", ruft James und tritt mir mit voller Wucht in den Bauch. Ich zische schmerzerfüllt auf und rolle mich zusammen, um mich vor weiteren Tritten zu schützen. „Das wird dir auch nichts helfen, Schlampe!", beschimpft der Braunhaarige mich weiter und beginnt nun auf meine Arme und Beine einzutreten.

Ryan und ein paar weitere Jungen treten und schlagen stattdessen auf meinen Rücken und vereinzelt auf meinen Kopf ein. Die unterschiedlichsten Beleidigungen entkommen ihren Mündern, doch sie sind alle an mich gerichtet. Ein besonders starker Tritt von James sorgt dafür, dass sich mein Ellenbogen mit voller Wucht in meine Rippen rammt, weshalb ich anfange stark zu husten und nach Luft zu ringen. Ich kann nicht genau sagen wer, aber ich vermute Ryan donnert seine Faust ohne Gnade gegen meinen Schädel und kurz wird mir schwarz vor Augen, bevor ich noch stärker huste und beginne Blut zu spucken. Etwas davon landet auf James' Schuhen und zornig blickt der Ältere auf mich herab.

„Dir Missgeburt hat wohl nie jemand Benehmen beigebracht, hä? Man spuckt keine Schuhe anderer an und erst recht nicht meine! Hast du das verstanden, Schwuchtel? Hast du?", schreit der Braunhaarige und beugt sich leicht zu mir herab. Grob packt er meinen Kiefer mit seiner einen Hand und zieht meinen Kopf leicht zu sich herauf. Es tut weh, aber es ist nichts im Vergleich zu den anderen Schmerzen, die ich diese Woche schon erleiden musste. „Die waren neu. Das wirst du büßen.", knurrt er. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie James mit seiner Hand ausholt und stelle mich bereits darauf ein, heute auch noch ein Veilchen zu erhalten, doch so weit kommt es nicht. Hinter dem Älteren ist ein anderer Junge aufgetaucht, welcher das Handgelenk des Braunhaarigen fest im Griff hat.

„Griffin, lass es.", erklingt eine tiefe, monotone Stimme und mit einem Mal ist es todstill auf dem Schulhof. Ryan und seine Kumpels lassen schlagartig von mir ab und treten einen Schritt zurück. Angestrengt versuche ich über James' Schulter hinweg einen Blick auf ihn zu erhaschen. Denn wer dort gerade überraschend erschienen ist, ist kein anderer als Keith Kogane. Größter Troublemaker der Schule, Bad Boy, beliebtester Junge bei allen weiblichen Geschöpfen und eiskalt. Noch nie hat ihn jemand lachen gesehen, nicht mal sein Gefolge, zudem James, Ryan und ein paar weitere Jungen gehören, von denen einige mit auf mich eingeprügelt haben.

„Aber er hat meine Schuhe beschmutzt! Das la-aaargh", versucht James zu widersprechen. Keith jedoch verfestigt seinen Griff um das Handgelenk des Braunhaarigen nur und ein unheilvolles Knacken durchschneidet die Stille. „Habe ich mich undeutlich ausgedrückt?" „Nein, nein hast du nicht!", winselt James und atmet erleichtert auf, als der Schwarzhaarige von ihm ablässt. „Griffin, Kinkade, los jetzt! Ich will nicht nochmal zu spät kommen. Einmal nachsitzen für diese Woche hat mir gereicht, ist sterbenslangweilig dort.", grummelt Keith, sieht mich abschätzig an und dreht sich dann um.

Wie treudoofe Hunde folgen ihm die anderen. Auch James schenkt mir noch einen wütenden Blick und murmelt so etwas wie ‚Glück gehabt, Loser'. Als die Truppe am anderen Ende des Pausenhofes durch die schweren Metalltüren ins Innere des Schulgebäudes gehen, rappele auch ich mich wieder auf. Vorsichtig klopfe ich den Dreck von meinen Klamotten und fahre ein paar Mal durch meine Haare, in der Hoffnung, dass sie danach nicht allzu wüst aussehen.
Mir tut alles weh, aber nach einiger Zeit habe ich aufgehört mich darüber zu beklagen und so seufze ich nur leise und mache mich dann daran, mein Schulzeug wieder einzusammeln, welches zerstreut auf dem Boden liegt. Damit fertig sprinte ich zu meiner ersten Unterrichtsstunde und schlüpfe gerade noch so vor meiner Lehrerin in die Klasse.

Die Ereignisse der letzten Minuten müssen für alle Außenstehenden sehr verwirrend sein, Entschuldigung. Mein Name ist LanceMcClain, ich bin 17 Jahre alt und gehe zurzeit in die 11. Klasse. Ich habe genau zwei Freunde, Pidge und Hunk. Die beiden sind ebenfalls in meinem Jahrgang, jedoch ist Pidge ein Jahr jünger. Meine Familie kommt eigentlich aus Kuba und ich kann euch eines sagen, bei mir zu Hause wird es nie langweilig. Ich habe jede Menge große und kleine Geschwister, Nichten und Neffen, Tanten und Onkel. Manchmal ist es wirklich nervenzerrend, aber meistens lohnen sich die Anstrengungen. Denn auf alle schlechten Zeiten, folgen Gute. Das ist mein Motto und auch, wenn ich manchen Menschen damit auf die Nerven gehe, immer gut gelaunt zu sein, stört mich das keines Weges und viele gewöhnen sich irgendwann einfach daran.

Wie es dennoch dazu kam, dass ich fast täglich von den schlimmsten Typen unserer Schule vermöbelt werde? Tja, das liegt wohl an meinem Outing am Anfang des Schuljahres. Ich bin bisexuell. Etwas eigentlich komplett Normales, womit all meine Freunde und meine Familie kein Problem haben. Hier in der Schule jedoch, sieht das Ganze etwas anders aus. Und nein, ich habe mich nicht am ersten Schultag auf ein Podest gestellt und mit einem Mikrophon verkündet, dass ich auch Jungen durchnehme. Das Ganze lief eher unfreiwillig ab.

Irgendjemand aus meinem Jahrgang hat mich wohl am Ende der Sommerferien gesehen, wie ich einen Typen geküsst habe und das hat natürlich zu wilden Spekulationen geführt. Einige davon waren übrigens sehr unterhaltsam. So habe ich doch wirklich das Gerücht gehört, ich hätte meinen Körper an ihn verkauft, weil meine Mutter unheilbar krank ist und ich mir so das Geld für ihre Medizin verdienen wollte. Ich meine, wir sind nicht die reichste Familie, aber so arm sind wir jetzt doch noch nicht dran.
Als dann irgendein Mädchen mal genug Mut dazu hatte, mich darauf anzusprechen, habe ich ihr bloß erzählt, dass ich bisexuell bin und dieser Junge meine Sommerbekanntschaft war. Sie persönlich schien kein Problem damit zu haben, aber irgendwann drang diese Information an James weiter und seit dem bin ich zu seinem Boxsack geworden.

Was Keith Kogane damit zu tun hat? Nun ja, gar nicht so viel, wie man denkt. Er persönlich erfreut sich daran, mich mit Worten runter zu machen, hat mich aber noch nie physisch verletzt. Mir wirklich geholfen hat er allerdings auch noch nie. Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, wie ich zu Keith stehe. Das er mich nicht leiden kann, ist klar. Aber ich kann von mir aus nicht behaupten, dass ich ihn hasse. Ich meine, natürlich tun seine Beleidigungen weh, aber Keith beleidigt eigentlich alle Menschen, die ihm über den Weg laufen, von daher ist das wahrscheinlich nichts besonderes mehr. Was ich mir dagegen ungern eingestehe ist, dass ich den Schwarzhaarigen äußerst attraktiv finde. Ich meine, ich bin keine dieser Schulschlampen, die dem Älteren sogar hinterherrufen, dass er sie durchnehmen soll, aber theoretisch hätte ich nichts gegen ein paar persönlichere Treffen mit ihm.
Aber mal im Ernst, wer könnte schon nein sagen, wenn Keith vor der Schule mit zerzausten schwarzen Haaren, seiner schwarzen Lederjacke, den Ripped Jeans und den schweren Boots, gegen sein rotes Motorrad lehnt und eine Zigarette raucht?

Doch solange ich weiter Opfer von Griffin, Kinkade und eben auch Kogane bin, werde ich mir diesen Gedanken aus dem Kopf schlagen. Denn wenn ich eines weiß, dann ist es, dass ich keine toxische Beziehung möchte.

„Lance?", holt mich die Stimme meiner Englischlehrerin aus meinen Gedanken. „Hm?", entkommt es mir und ich blicke in ihre braunen Augen, die mich besorgt mustern. „Ist alles okay bei dir? Haben Keith und die anderen dich schon wieder belästigt?" „Ja, aber es ist okay. Das wird alles schon wieder verheilen, Allura." Bevor jemand fragt, warum ich meine Lehrerin beim Vornamen nenne, sollte ich vielleicht erwähnen, dass sie all ihren Schülern das ‚Du' angeboten hat, da sie nicht das Gefühl vermitteln will, über uns zu stehen. Ihrer Meinung nach, ist sie auf Augenhöhe mit uns. Eine einfache Lernbegleiterin, die wir jederzeit bei Fragen ansprechen können und die sich genug Zeit nimmt, es jedem Einzelnen solange zu erklären, bis er es wirklich verstanden hat. Als sie herausfand, dass ich von ein paar Schülern gemobbt werde, war sie erschüttert und checkt nun von Zeit zu Zeit, ob ich okay bin.

„Wissen deine Eltern mittlerweile davon?" „Nein, ich habe es ihnen bisher nicht gesagt."„Das musst du aber, Lance. Wenn ich schon nicht den Schulleiter davon in Kenntnis setzen soll, dann müssen es wenigstens deine Eltern erfahren." „Ja,ich weiß. Ich erzähle es ihnen bald, wenn der richtige Zeitpunkt da ist."Allura seufzt nur und nickt dann in Richtung Tür. „Ich hoffe, dass du das auch wirklich tust. Jetzt solltest du dich aber lieber erstmal beeilen, um nicht zu spät zu kommen." „Mach ich", erwidere ich und stopfe mein Zeug in meinen kleinen Rucksack. Bevor ich komplett durch die Tür verschwunden bin, winke ich Allura noch einmal zu und mische mich dann unter den Strom an Schülern, die alle zu ihren nächsten Klassen irren.

Die junge Lehrerin hat recht, normalerweise sollte ich meinen Eltern davon erzählen, doch sie haben schon genug anderes zutun. Mit all meinen Geschwistern und Verwandten gibt es schon reichlich Probleme und da muss ich sie mit solchen Banalitäten nicht auch noch belästigen. Natürlich könnte ich schwere Schäden von den Tritten und Schlägen davontragen, aber bisher geht es mir psychisch und physisch noch vergleichsweise gut, daher sehe ich keinen Grund, jemanden davon in Kenntnis zu setzen.

Etwa auf der Hälfte meines Weges werde ich gegen einen der Spinde geschubst und ein hämisch lächelnder James Griffin drängt sich an mir vorbei. „Mach dich nicht so fett, Schwuchtel. Andere Menschen müssen auch noch durchkommen." Einen Moment starre ich dem Idioten noch hinterher, dann wende ich mich ab und laufe zu meiner nächsten Klasse. Der restliche Unterricht verläuft relativ ruhig und auch James oder Ryan bekomme ich nicht noch einmal zu Gesicht. Keith hingegen habe ich auf dem Weg zu meiner Musik AG noch einmal auf dem Flur gesehen, er allerdings schien mich nicht bemerkt zu haben.

Die Musik AG ist mit Abstand der schönste Teil an meinen Freitagen. Während andere Schüler sich darüber freuen, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen um zu zocken oder mit Freunden raus zugehen, freue ich mich darauf mit Kleineren zu musizieren. Aus meinem Jahrgang oder höher sind nur etwa 5 Schüler dort, der Rest kommt aus unteren Klassen, doch das stört mich recht wenig. Nach dem Unterricht spielen wir dort zusammen Lieder, proben Stücke für Konzerte ein oder bringen uns gegenseitig neue Instrumente bei.

Ich persönlich kann Gitarre und Klavier, habe von einem älteren Mädchen aber auch schon die Grundlagen des Schlagzeugspielens beigebracht bekommen. Einigen Jüngeren habe ich Gitarren und Klavierstunden gegeben und zumindest zwei von Ihnen haben sich danach einen richtigen Lehrer gesucht und das Spielen vertieft. Der Rest kann zumindest die Grundlagen und das ist ja immerhin etwas, nicht wahr?
Der einzige Nachteil an der AG ist, dass sie bis spät abends geht und es meist schon dunkel ist, wenn ich nach Hause komme.

Auch heute ist es bereits pechschwarz draußen und ohne die Straßenlaternen, die in regelmäßigen Abständen am Rande des Fußweges stehen, würde ich praktisch blind durch die Gegend laufen. Heute Abend ist es eiskalt draußen und dass, obwohl es schon wieder Frühling ist. Doch noch ist es nur tagsüber warm und sobald die Dunkelheit über die Stadt einfällt, sinken die Temperaturen drastisch. Und so ziehe ich den Reißverschluss meiner dünnen Jacke bis ganz nach oben und verschnellere meine Schritte, um so wenig Zeit wie möglich in der Kälte verbringen zu müssen.

Die Straßen sind wie leergefegt. Weder Menschen noch Autos sind zu sehen und jedes noch so kleine Geräusch scheint zehnmal lauter zu hallen. Eigentlich bin ich ein Freund der Dunkelheit, dennoch fühle ich mich unwohl. Meine eigenen Schritte klingen wie die eines Fremden und an jeder dunklen Gasse, an der ich vorbeigehe, meine ich Schatten zu sehen, die sich langsam auf mich zu bewegen. Das Gefühl, aus den vielen Fenstern der Mehrfamilienhäuser beobachtet zu werden, wird immer stärker und ein kalter Schauer läuft meinen Rücken hinunter. Ich atme tief ein und aus, versuche mich zu beruhigen und nicht in Panik zu verfallen. Diese Paranoia begleitet mich schon mein Leben lang und obwohl ich selbst es lächerlich finde, werde ich sie einfach nicht los.

Als ich erneut abbiege, lässt ein plötzliches, fremdes Geräusch mich zusammenzucken. Nur wenige Meter vor mir ist erneut eine Gasse, doch aus ihr dringen diesmal wirklich Geräusche. Obwohl mein Verstand mir klar und deutlich sagt, dass ich jetzt so schnell wie möglich wegrennen sollte, bin ich wie festgefroren. Mein Körper bewegt sich keinen Zentimeter und ängstlich halte ich die Luft an. Für einen Moment ist es wieder todstill, dann erklingt erneut dieses fremde Geräusch. Doch anders als das letzte Mal, höre ich es nun ganz deutlich. Wer auch immer dort in der Gasse ist, weint. Weint und schluchzt herzzerreißend. Und mit einem Mal löst sich meine Starre und wie automatisch laufe ich mit langsamen Schritten auf die Gasse zu. Das unbehagliche Gefühl ist nicht verschwunden, aber es wurde von meiner Neugier und Besorgnis in den Hintergrund geschoben.

Vor der Gasse bleibe ich stehen. Das Schluchzen ist nun klar und deutlich zu hören. Vorsichtig luge ich um die Ecke, blicke jedoch bloß in tiefe Schwärze. „Hallo? Ist da wer?", frage ich zögernd und abrupt verstummt die zweite Person. „Verschwinde", zischt der Fremde. „Werde ich, sobald ich weiß, ob Sie okay sind, Sir.", erwidere ich. So schnell lasse ich mich nicht abschütteln und obwohl ich Angst habe, möchte ich nicht einfach kleinbeigeben.

„Mir geht es blendend.", kommt es ironisch zurück und ich muss leicht schmunzeln. „Entschuldigen Sie, aber das glaube ich Ihnen nicht. Sie klingen wirklich nicht so und auch, wenn ich nur ein Fremder bin, möchte ich gerne helfen." „Warum? Hast du irgendeinen Heldenkomplex oder was?" „Nein, ganz sicher nicht. Aber ich würde es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können, jemanden alleine in einer dunkeln Gasse zurück zu lassen, dem es offensichtlich alles andere als gut geht." „Dann bist du einfach nur dumm. Ich könnte alles Mögliche sein, wie ein Serien Killer oder ein Perverser und du würdest dich mir einfach ausliefern." „Kann schon sein, aber ich könnte es auch sein. Ich denke, manchmal muss man im Leben gewisse Risiken eingehen." „Pff, du bist vielleicht ein komischer Typ." „Ja, das bin ich wohl.", meine ich und lache leise.

„Hey, wäre es okay, wenn ich zu dir in die Gasse komme?" „Tu, was du nicht lassen kannst." Ich atme noch einmal tief durch, bevor ich mit vorsichtigen Schritten in die Dunkelheit vorschreite. „Du kannst ruhig deine Handy Taschenlampe anmachen, ich bin kein Vampir.", meint der Fremde und ich setze diesen Rat sofort in die Tat um. Am Anfang bin ich noch leicht geblendet von dem grellen Licht, dann jedoch gewöhnen sich meine Augen daran und meine Sicht wird wieder klar. Noch ein paar Schritte weiter muss ich in die Gasse, bevor am Rande des Lichtkegels ein paar schwarze Boots auftauchen, die mir komisch vertraut vorkommen. Neugierig lasse ich den Schein etwas höher wandern und schnappe hörbar nach Luft, als mir Keith Kogane mit roten, geschwollenen Augen entgegenblickt.

„Du-" „Ja, ich weiß. Ich bin Keith Kogane, der Bad Boy, der Eiskalte. Erzähl's keinem, okay? Sonst bist du tot." „Nein, keine Sorge. Ich werde schweigen, wie ein Grab." Für einen Augenblick kehrt Stille zwischen uns ein. „Danke, Lance." „Du kennst meinen Namen?", frage ich überrascht und höre danach das wohl schönste Geräusch auf Erden. Vollkommen unbesorgt und ehrlich erklingt das raue Lachen des Schwarzhaarigen. „Ja, natürlich kenne ich deinen Namen." „Oh", murmele ich nur und beginne peinlich berührt zu grinsen, „Aber wofür bedankst du dich?" „Dafür, dass du nicht einfach weitergegangen bist. Ich schätze, ich brauche gerade wirklich irgendwen zum Reden und ich bin froh, dass du es bist.", meint Keith ruhig und ich spüre, wie meine Wangen ganz warm werden.

„Irgendwie dachte ich immer, du hasst mich."„Nein, nein tue ich nicht, aber vermutlich kam das durch die ständigen Beleidigungenso rüber. Die tun mir übrigens leid. Keine davon war ernst gemeint und verdient hattest du davon erst recht keine.", murmelt der Ältere und in seiner Stimme liegt Reue und Ehrlichkeit. „Es ist okay, sie gingen mir nicht zu nah. Aber warum hast du sie in erster Linie ausgesprochen?" „Das- Das ist etwas schwierig zu erklären." „Okay, und was hat dich hier in die Gasse gescheucht?" „Das ist ebenfalls eine längere Geschichte."

Seufzend lasse ich mich zu Keith auf den dreckigen, steinernen Boden fallen. Im Schneidersitz sitze ich ihm nun gegenüber, während der Grauäugige seine Beine noch immer schützend an seinen Körper angezogen hat. „Das ist kein Problem, ich habe Zeit.", meine ich und spreche damit nur zur Hälfte die Wahrheit. Denn ja, Zeit habe ich, aber meine Mutter wird sich dennoch bald Sorgen machen.
Momentan ist das jedoch meine kleinste Sorge, denn der Fakt, dass der große Keith Kogane schluchzend in einer dunklen Gasse hockt, beschäftigt mich viel mehr.

„Weißt du, nicht jedes Arschloch hat eine tragische Hintergrundgeschichte, wie in diesen Teenie Filmen. Die meisten sind einfach nur geistig zurückgeblieben." „Das mag sein, aber zu solchen Menschen gehören James und Ryan, nicht du, stimmt's?", erwidere ich und sehe ihn leicht fragend an.
„Ja, vermutlich stimmt das. Weißt du, meine Eltern wollten mich nicht. Ein Baby war ihnen zu viel Arbeit und schien nicht in ihren Lebensstil zu passen, also gaben sie mich zur Adoption frei. Seitdem bin ich von einer Pflegefamilie zur nächsten, habe mich nie irgendwo wohlgefühlt oder gar zu Hause. Irgendwann hatte ich auf den Scheiß keine Lust mehr. Ich habe aufgehört mich anzustrengen, der neuen Familie zu gefallen. Ich habe begonnen zu trinken, zu rauchen und mich in eine Schlägerei nach der nächsten gestürzt.

Viele Familien, die adoptieren wollen, wollen eines der schwierigen Kinder. Sie träumen davon die Einen zu sein, die das Kind endlich bändigen können. Sie wollen die Helden sein. Wie sich das Kind dabei fühlt, ist oft egal. Doch sobald sie merken, dass sie eben doch nicht Superman und Superwoman sind, wird das Kind wieder abgeschoben. Man fühlt sich alleine, ungewollt, verstoßen. Es gibt keinen Ort, den man zu Hause nennen kann, kein Zugehörigkeitsgefühl. Man ist ein Außenseiter. Einer der lästigen Schmutzflecke in unserer Gesellschaft. Die, die man gerne verleugnet.

Sowas geht nicht spurlos an einem vorbei. Diese jahrelange psychische Folter macht einen kaputt. Ich weiß nicht, wie viele Diagnosen ich bekommen habe, aber von Depressionen, über PTSD, bis hin zu Angststörungen jeglicher Art ist alles dabei.
Es gab eine Zeit, da war ich psychisch so tot, dass ich nur noch sterben wollte. Ich habe mir meine Zigaretten auf den Armen ausgedrückt, nur um endlich wieder etwas zu fühlen. Mein damaliger Pflegevater hat mich geschlagen, bis heute habe ich Narben davon auf meinem Körper.

Mittlerweile habe ich gute Pflegeeltern, auch wenn ich sie nicht als Eltern ansehe. Ihre Namen sind Shiro und Adam und die beiden sind eher wie Brüder für mich. Sie helfen mir ungemein, haben mir gezeigt, mich selbst zu akzeptieren und mich für eine Therapie angemeldet. Es geht langsam voran, aber es wird besser. Jeder Tag ist ein neuer Kampf, aber ich weiß, dass ich es schaffen kann. Doch mit den Jahren habe ich gelernt, Menschen nicht so leicht an mich ranzulassen. Viel zu lange habe ich geglaubt, Angst macht einen schwach. So ist es nicht. Und dennoch verstecke ich mich hinter dem Image des eiskalten Bad Boys, werfe mit Beleidigungen um mich, damit mir nur ja keiner zu nah kommt. Ich weiß, ich bin feige. Während Menschen wie du offen dazustehen, wer und was sie sind, habe ich zu viel Angst noch mehr verletzt zu werden.

Ich weiß, dass ich vom anderen Ufer komme, doch die Gefahr von James und den anderen genauso geschlagen zu werden, hält mich davon ab, offen dafür einzustehen. Ich fühle mich schlecht, nie eingegriffen zu haben, wenn sie dir oder anderen wehgetan haben. Weißt du, ich fand dich schon immer interessant. Was hätte ich wohl alles dafür gegeben den Mut zu haben, dich einfach anzusprechen und nach deiner Nummer zu fragen. Gott, du musst mich jetzt sicher für ein riesiges Weichei und einen verdammt schlimmen Menschen halten.", endet Keith und lacht verzweifelt auf, während eine einzelne Träne seine blasse Haut hinunterläuft.

„Das tue ich nicht. Du bist kein Weichei und erst recht kein schlechter Mensch. In deinem Leben ist einfach nur eine Menge falsch gelaufen und das ist okay. Wichtig ist doch bloß, dass du dein Ziel vor Augen behältst. Das du dich immer wieder daran erinnerst, dass nach jedem Regenschauer auch wieder Sonnenschein folgt. Ich freue mich für dich, dass du dich endlich wohlfühlst mit deinen Pflegeeltern und dass sie dich so kräftig unterstützen. Ich fühle mich geschmeichelt, dass du Interesse an so jemand langweiligen wie mir hast und ich muss gestehen, dass auch ich seit einiger Zeit ein Auge auf dich geworfen habe. Es würde mich freuen, wenn wir hier nach in Kontakt bleiben. Ich möchte dich noch näher kennen lernen, Keith Kogane. Ich will jemand werden, dem du alles erzählen kannst. Jemand, der dir auf deinem weiteren Weg beiseite stehen wird. Darf ich so jemand für dich sein? Darf ich das?", frage ich leicht lächelnd und ergreife zögerlich die Hand des Älteren. Dieser verschränkt seine knöchrigen Finger mit meinen und murmelt ein: „Sehr gerne, Lane McClain."

„Du hast mir aber immer noch nicht erklärt, was dich nun in diese Gasse geführt hat.", merke ich an und sehe dem Schwarzhaarigen tief in die Augen. „Mir ist zu Hause die Decke auf den Kopf gestürzt und ich bin nach draußen geflüchtet. Irgendwie bin ich dann in eine Panikattacke gerutscht und hier gelandet." „Verstehe.", sage ich, "Es ist verdammt kalt, wir sollten uns vielleicht vom Boden erheben, wenn wir uns keine Erkältung einfangen wollen." „Gute Idee", erwidert Keith und rappelt sich auf, nur um mir dann seine Hand entgegen zu strecken, die eben noch in meiner lag. Dankbar ergreife ich sie und erhebe mich ebenfalls. Hand in Hand verlassen wir die dunkle Gasse und treten wieder auf den beleuchteten Fußweg.
„Kann ich dich noch nach Hause bringen?", fragt der Grauäugige und ich lächele sanft. „Gerne."

Still laufen wir so durch die leeren Straßen und genießen einfach nur die Anwesenheit des anderen. Vor meiner Haustür bleiben wir stehen und fragend blicke ich Keith an. „Möchtest du nicht noch mit reinkommen? Du könntest dich ein wenig aufwärmen und gemeinsam mit mir und meiner Familie zu Abend essen?" „Ich weiß nicht, würde ich nicht stören?", murmelt der Schwarzhaarige unsicher. „Nein, würdest du nicht. Ich würde mich sehr freuen." „Okay, von mir aus. Kann ich dann nur drinnen schnell Shiro oder Adam anrufen? Die beiden machen sich sicher schon Sorgen, aber bei meiner plötzlichen Flucht habe ich mein Handy zu Hause vergessen." „Klar, kein Problem!", sage ich grinsend und ziehe Keith sogleich schon mit in das große Einfamilienhaus.

Keith's und mein Start war alles andere als perfekt, aber letztendlich haben wir doch zu einander gefunden und auch, wenn es noch ein langer Weg für uns ist, werden wir ihn sicher gemeinsam meistern.
Aber zumindest eines kann ich euch sagen: Das Mobbing gegen mich stoppte danach abrupt und James, Ryan und alle anderen kamen sich sogar wie begossene Pudel dreinblickend bei mir entschuldigen.

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Hi :D

Wow, zwei Oneshots nacheinander lmao

Leider ist das der letzte Vorgeschriebene, der Nächste kann also wieder etwas dauern ^^'

Btw vielen vielen Dann für über 200 Follower und fast 30k Reads! Ihr seid echt unglaublich ♡

Und wer Lust hat, kann ja mal in die Kommis schreiben, was ihr so während der Quarantäne Zeit macht?

Oder in was für Fandoms ihr seid? Wäre bestimmt mal interessant zu sehen, welche Interessen ich mit euch und ihr untereinander teilt!

Ansonsten hoffe ich mal wieder, dass es euch gefallen hat und wünsche euch noch einen schönen 2. April!

{3915 Wörter}

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