02 || KISSING STRANGERS
VENICE
Meine Cousine läuft aufgebracht vor der Couch in der Mitte ihres kleinen Wohnzimmers hin und her und spielt mit einer Strähne ihres dunklen Haares, welches ihr bloß bis knapp über die Schulter reicht. Mit dem großen Sofa schöpft sie den Platz fast gänzlich aus, denn ihre Wohnung ist eher gemütlich als groß. »Dieser scheiß...«
»Glaub mir«, unterbreche ich sie. »Ich habe ihm schon alle möglichen Beleidigungen an den Kopf geworfen.«
»Und auch von Alyssa ist das wirklich das Allerletzte. Wenn ich dieses Mädchen in die Finger bekomme, dann kann sie sich auf etwas gefasst machen! An ihrer Stelle würde ich mindestens zu den nächsten fünfzig Familientreffen nicht mehr auftauchen.« Aufgebracht wedelt sie mit den Armen, ohne anzuhalten.
Während ich die Phase der Wut inzwischen einigermaßen überwunden habe, fängt Davina gerade erst damit an. Nach den Geschehnissen auf dem Parkplatz bin ich in den ersten Bus gestiegen und jetzt sitzen wir hier und schimpfen gemeinsam.
Davina schnaubt, streicht wütend ihren Pony beiseite, der langsam zu lang wird und mittlerweile ihre dunkelbraunen Augen erreicht, und schürzt ihre vollen dunkelrot geschminkten Lippen. »Ich würde Collin und deine Schwester am liebsten aus dem Fenster eines Hochhauses schmeißen. Von der obersten Etage versteht sich.«
Ich nicke. »Ich bin einfach nur frustriert darüber, dass ich Idiotin es nicht vorher bemerkt habe. Wie kann es sein, dass ich so blind war? Es muss doch Anzeichen gegeben haben.« Vermutlich waren es sogar reichlich und ich wollte sie einfach nicht sehen.
Klar, unsere Beziehung hatte hier und da ein paar Baustellen und es war schon lange nicht mehr so wie zu Beginn, aber ich hätte ihn niemals betrogen. Niemals hätte ich ihm so etwas angetan, denn ich habe ihn geliebt. Nur er mich scheinbar nicht. Und mir das nun einzugestehen, schmerzt im Herzen mehr, als ich es will.
»Und dann hat er noch auf unschuldig getan.« Davina wirft energisch die Arme in die Luft und tritt gegen das Dekokissen, welches neben der Couch auf dem Boden liegt. Das Kissen macht einen hohen Bogen und landet neben dem kleinen, runden Esstisch.
»Davina?«, frage ich leise, was sie endlich zum Stehenbleiben bewegt. »Meinst du, ich kann für eine Weile das freie Zimmer haben?«
Ihr wutverzerrter Gesichtsausdruck löst sich auf und verwandelt sich in ein breites Grinsen. »Du kannst gerne für immer hierbleiben«, sagt sie glücklich. Von ihrer Aufgebrachtheit ist nichts mehr zu spüren, stattdessen zuckt sie mit den Schultern. »Und sollte Abby doch irgendwann auf die Idee kommen, zurückzuwollen, kann sie sich gerne eine eigene Wohnung suchen.«
Ich schaue meine Cousine mit großen Augen an. »Dann kann sie das Zimmer natürlich zurückhaben.« Zu Not könnte ich immer noch zurück zu Mom und Dad ziehen, auch wenn ich eigentlich nicht vorhatte, in dieser Hinsicht wieder einen Schritt zurückzumachen. Oder ich gehe für eine Weile zu unserem Cousin Chase. In seiner WG müsste sogar noch ein Zimmer frei sein. Doch diesen Gedanken verwerfe ich sogleich, da er viel zu weit weg wohnt und das mit meinem Studium schwer werden könnte.
Davina verdreht die Augen, bevor ich mir einen weiteren Plan zurechtlegen kann. »Ach, laber keinen Scheiß, Venice. Dich habe ich doch tausendmal lieber hier. Außerdem hat Abby sehr entschlossen gewirkt, als sie verkündet hat, dass sie ihr Studium schmeißt und wieder in ihre Heimatstadt zieht. Aber wehe du kommst auch noch auf die Idee, die Uni zu schmeißen, Fräulein.« Sie deutet drohend mit dem Finger auf mich.
Dieses Mal bin ich es, die mit den Augen rollt. »Erstens, warst du nie auf einer Uni, Fräulein.«
»Was jetzt überhaupt nicht das Thema ist«, wirft Davina ein.
»Und zweitens«, fahre ich fort, »habe ich keinen blassen Schimmer, wie du zu diesem Einfall kommst. Ich bin kaum ein halbes Jahr dabei, ich hatte nicht vor, meinen Studienplatz wegen eines einzigen Rückschlags in meinem Leben wegzuwerfen.«
Gut, ich hatte eigentlich auch nicht vorgehabt, meine Bezie‐ hung nach einem halben Jahr Zusammenwohnen zu beenden, aber das spreche ich lieber nicht aus.
Vielen Dank auch für diese Erkenntnis, Alyssa. Und danke auch dir, Collin.
Die zwei haben sich ja so was von verdient. Sollen sie doch zusammen glücklich werden und unglücklicherweise aus einem Fenster fallen. Okay, zugegeben, die Wut in meinem Inneren brodelt wieder ziemlich heftig.
Davina scheint es zu bemerken, denn sie grinst boshaft. »Viel‐ leicht sollten wir unsere – oder vielmehr deine – Wut nutzen. Ich steuere auch sehr gerne Inspiration bei«, fügt sie noch hinzu. Die Begeisterung in ihrem Gesicht ist schon ein wenig beängstigend.
Davina sollte man sich jedenfalls nicht zum Feind machen. Sie kann hinterhältiger sein als Alyssa. Zwar schafft es Alyssa, alles zu ihren Gunsten zu drehen und sich zu nehmen, was sie will, doch auch Davina hat es faustdick hinter den Ohren. Sie ist eine Meis‐ terin im Rachepläne schmieden. Man unterschätzt sie nur andau‐ ernd, weil sie normalerweise gefühlt die freundlichste Person auf dieser Welt ist. »Was schwebt dir denn da so vor?«, will ich schließlich wissen und erwidere ihr Grinsen.
Was solls, dann treffe ich jetzt eben ein paar dumme Entschei‐ dungen. Schlimmer kann es kaum werden, oder?
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