01 || KISSING STRANGERS
VENICE
Voller Wucht schmeiße ich die Autotür zu und entferne mich mit großen Schritten von dem Wagen.
Ich halte es keine Minute länger mit diesem Kerl aus.
Was für ein verdammtes Arschloch. Wie konnte ich nur so blind sein?
»Venice, jetzt warte doch!« Collin steigt ebenfalls aus und anhand seiner näher kommenden Stimme erkenne ich, dass er mir über den endlos langen Parkplatz des Supermarktes folgt. »Stell dich nicht so an.«
Ich drehe mich nicht um, gehe einfach weiter und verschwende keinen Blick in seine Richtung.
»Wir können das bestimmt klären«, höre ich ihn hinter mir.
Ich kann mir ein frustriertes Auflachen nicht verkneifen, denn es gibt nichts zu klären. Nichts, was er jetzt noch sagen könnte, würde seine Taten ungeschehen machen.
Ich zucke zusammen, als sich plötzlich eine Hand um mein Handgelenk schließt. »Fass mich nicht an«, zische ich und entziehe mich ihm ruckartig. Ich will gar nicht wissen, was er mit seinen Händen alles angefasst hat.
Spott blitzt in seinen Augen auf und er kommt näher. Viel zu nah. »Sonst was, Venice? Was willst du dagegen tun, hm?«
Ich sehe ihn an und kann nichts mehr außer Hass und Abscheu für ihn aufbringen. Noch vor weniger als einer Stunde dachte ich, ich würde ihn lieben. Aber so schnell können sich Gefühle ändern.
Zwischen Liebe und Hass existiert nur eine schmale Grenze. Er hat mir soeben gezeigt, was es heißt, diese zu überschreiten.
»Du ekelst mich an«, zische ich ihm entgegen.
Noch nie habe ich solche Worte so ernst gemeint wie in diesem Moment.
Sein Blick verändert sich. Plötzlich liegt etwas in seinen Augen, das vorher nicht da war: Reue.
Doch vermutlich bilde ich mir das nur ein. Wahrscheinlich wünscht sich ein winziger Teil von mir bloß, dass es ihm wirklich leidtut.
»Lass uns nach Hause fahren und es einfach vergessen«, schlägt er vor.
Ich starre ihn ungläubig an. Das kann doch nicht sein Ernst sein. Ist ihm eigentlich bewusst, was er getan hat? Denkt er tatsächlich, ich könnte einfach über seinen Fehler hinwegsehen und weitermachen?
Darauf bedacht, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern, laufe ich rückwärts und behalte ihn weiter aufmerksam im Blick. »Es ist vorbei, Collin. Ich ertrage deine Gegenwart nicht. Was hast du dir nur dabei gedacht?«
Für jeden Schritt, den ich nach hinten gehe, kommt er mir einen entgegen. Ich weiß nicht, ob ich Collin laut anschreien, einfach hysterisch loslachen oder mich weinend in einer Ecke zusammenkauern soll. Am liebsten würde ich alles gleichzeitig tun, doch letztendlich gewinnt die Wut die Oberhand. Wie kann man nur so ein widerwärtiger Mensch sein?
Ich habe ihn geliebt. Aus tiefstem Herzen. Sein verschmitztes Lächeln, das freche Funkeln seiner braunen Augen und sein dunkel‐ blondes, akurat gestyltes Haar hatten es mir damals sofort angetan.
In der Schule himmelten ihn so einige an, doch er gab mir stets das Gefühl, die Eine für ihn zu sein.
Doch er scheißt einfach auf die letzten Jahre unserer Beziehung und hat nicht einmal den Anstand, seinen Fehler einzusehen. Ehrlich zu sein. Stattdessen habe ich bloß durch Zufall von seinem Betrug erfahren und wahrscheinlich hätte er es mir von sich aus niemals gesagt.
Collin sieht mich mit zusammengezogenen Brauen an, was seinem Gesicht einen quälenden Ausdruck verleiht. Aber mittlerweile weiß ich, dass er gut darin ist, mir etwas vorzumachen. Ich kaufe ihm dieses Getue nicht länger ab. »Venice, bitte. Ich liebe dich doch. Es war nicht meine Absicht, dich zu verletzen. Ja, ich habe Scheiße gebaut«, versucht er sich zu erklären. Sieh mal an, er erkennt es doch. »Und ich habe nicht nachgedacht. Verzeih mir.«
»Es war nicht deine Absicht?«, wiederhole ich langsam mit zusammengebissenen Zähnen, weil ich nicht fassen kann, wie so etwas aus Versehen passiert sein soll. Ist er ausgerutscht und nackt auf ihr gelandet, oder was? Langsam aber sicher koche ich vor Wut. »Also hast du ganz aus Versehen meine Schwester gevögelt?«, keife ich ihn an. Wahrscheinlich wissen jetzt alle Leute auf dem gesamten Parkplatz, was für ein Arsch er ist, aber das ist mir egal. Er hat es so was von verdient.
Jegliche Reue, die sich zuvor auf seinem Gesicht abgezeichnet hat, verschwindet mit einem Mal. Stattdessen sieht er mich genervt an und verdreht die Augen. Als wäre das alles nur eine lästige Sache, die beseitigt werden muss. »Jetzt stell dich nicht so an«, kommt es von ihm. »Bei uns lief es einfach nicht mehr und Alyssa hat sich halt angeboten. Ich hab das doch nur für uns getan, um wieder ein biss‐ chen Schwung in die Sache zu bringen, verstehst du?«
Wütend balle ich die Hände zu Fäusten. Nein, ich verstehe nicht! Erwartet er wirklich, dass ich Verständnis dafür aufbringe, dass er mich aus angeblicher Selbstlosigkeit für unsere Beziehung auf diese Art und Weise geopfert hat?
»Du bist so armselig, Collin«, speie ich ihm verächtlich entgegen. »Ihr seid beide verlogen, egoistisch und widerlich zugleich und habt einander echt verdient. Herzlichen Glückwunsch, du Mistkerl.« Ich halte kurz inne und fahre mir aufgebracht mit den Händen über das Gesicht, ehe ich meine Flucht fortsetze. Wie konnten sie mir das nur antun? Es will mir partout nicht in den Kopf gehen.
Was habe ich ihnen jemals getan?
»Komm schon, Venice.« Er lacht und zieht eine Augenbraue hoch, so als wüsste er, wie diese Geschichte ausgehen würde. »In ein paar Tagen, höchstens Wochen, kommst du eh wieder angekrochen und willst mich zurück.«
Abrupt bleibe ich mitten auf dem Parkplatz stehen, sodass Collin fast gegen mich läuft.
Für wen hält er sich eigentlich?
Ich weiß gerade nicht, was ich schlimmer finde. Dass er mich betrogen hat oder dass er so mit mir spricht. Vermutlich ist es die Mischung aus beidem. Er ist plötzlich ein ganz anderer Mensch. Davor war er doch immer so liebevoll und fürsorglich. So habe ich ihn noch nie erlebt und es macht mir Angst.
O Gott, wie konnte ich nur so blöd sein und fast drei Jahre meines Lebens an dieses Schwein verschwenden? »Lieber würde ich für immer alleine bleiben, als auch nur noch eine Minute mit dir zu verbringen!«, presse ich angestrengt hervor. Ich möchte nur noch weg von hier, denn mit einem Mal wird mir schwindelig. Mein Kopf fängt an zu pochen und ich fühle mich einfach nur elendig erschöpft. Mit jeder Minute mehr.
Collin verschränkt die Arme und mustert mich mit einem abfälligen Ausdruck. Die Leute um uns herum sehen uns mittlerweile auch schon besorgt an. »Als würdest du jemals einen anderen Typen finden. Sieh dich doch mal an. Du kannst froh sein, dass ich noch versuche, unsere Beziehung zu retten.«
»Wie bitte?« Ich kneife die Augen zusammen und glaube, ich höre nicht richtig. Wenn der Idiot glaubt, ich lasse mir das gefallen, dann hat er sich geschnitten. »Vielleicht hast ja nicht nur du dir die Zeit woanders vertrieben. Vielleicht hattest nicht nur du deinen Spaß mit wem anders.« Als Collins Augen sich geschockt weiten, lächele ich diabolisch. Er glaubt es sogar noch. Und wie fühlt sich das an, hm? Es tut scheiße weh, nicht? Den Schock in seinem Blick zu sehen, verschafft mir eine seltsame Befriedigung, die ich zwar erhofft, jedoch nicht erwartet habe.
Er scheint nicht an meiner Aussage zu zweifeln. Dabei müsste er doch am besten wissen, dass ich nicht in der Lage wäre, jemanden jemals so zu hintergehen.
Ich habe allerdings auch angenommen, ihn zu kennen und lag damit völlig falsch. Ganz gewaltig sogar, wie sich heute herausge‐ stellt hat.
Von meiner Schwester kenne ich so ein Verhalten ja schon recht gut, was nebenbei bemerkt ziemlich traurig ist und um ehrlich zu sein, wundert es mich kaum, dass sie mir auch diesen Teil meines Lebens nimmt. Sie reißt all die Dinge immer an sich. Klamotten, jegliche Aufmerksamkeit, Collin.
Das Schmerzhafte daran ist, dass er meine Beziehung zu meiner Schwester kennt und sich trotzdem auf sie eingelassen hat.
Oh, Collin, wie konntest du nur so tief sinken?
Wie konnte der Junge, in den ich mich verliebt habe, nur zu so einem Mann werden? Er presst die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Wie konntest du nur, Schlam...«
»Ach, jetzt bin ich die Schlampe?«, unterbreche ich ihn und schüttele den Kopf. Sein Verhalten ist so lächerlich. »Halten wir fest: Du betrügst mich mit meiner Schwester, weil du unsere Beziehung wieder etwas aufpeppen wolltest und wenn ich es bin, die etwas mit jemand anderem anfängt, ist das nicht okay? Du darfst wütend auf mich sein, aber ich soll mich nicht so anstel‐ len?« Willkommen in Collins verkehrter Welt, meine Damen und Herren.
Verdutzt blinzelt er, braucht einen Moment, um sich zu sammeln. »Ich fasse es nicht, dass ich dir jemals vertraut habe, Venice. Da kennen wir uns so lange und dann ziehst du so was ab.« Theatralisch wirft er die Arme in die Höhe und lässt sie dann ruckartig wieder sinken.
Ich kann es nicht fassen. Der Typ ist einfach unglaublich. In seinem Kopf ist er der Held der Geschichte und ich bin die miese Freundin, die ihn einfach betrügt. Wow, ich bin ja so ein schlechter Mensch.
Noch immer blickt Collin mir völlig entsetzt entgegen. Scheiß drauf, soll er die Lüge glauben. Es ist sowieso vorbei mit uns.
Und ehe ich wirklich darüber nachdenken kann, drehe ich mich zu dem fremden Typen um, der gerade an uns vorbeiläuft, und lege meine Lippen auf seine.
Ich blicke in seine grün-braunen Augen und kann den überraschten Ausdruck deutlich sehen. Ja, ich weiß selbst nicht, was ich hier tue. Hinter mir höre ich Collin entsetzt aufatmen.
Doch dann, ganz plötzlich und völlig unerwartet, erwidert der Fremde meinen Kuss.
Wir schließen die Augen und drücken unsere Lippen immer und immer wieder aufeinander. Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass es mir nicht gefällt. Aber als ich seine Zunge an meiner Unterlippe spüre, wie sie fordernd um Einlass bittet, kehrt mein Verstand zurück. Der Schock über mein eigenes Verhalten fährt durch meine Knochen und lähmt mich.
Was passiert hier?
Was tue ich da eigentlich?
Bin ich denn jetzt völlig verrückt geworden?
Ich kenne ihn doch überhaupt nicht!
Was ist, wenn er eine Freundin hat oder schon verheiratet ist? Es gibt schließlich Menschen, die schon sehr jung heiraten.
Panisch öffne ich die Augen, reiße mich eilig von dem Unbekannten los und murmele ein schnelles »Sorry«. Ich sehe mich um, doch von Collin gibt es keine Spur. Anscheinend ist er zusammen mit meiner Wut verschwunden. Keine Ahnung, was zur Hölle in
den letzten paar Minuten geschehen ist.
Wer küsst denn so mir nichts dir nichts einen dahergelaufenen Menschen? Wortwörtlich. Ich werfe dem Fremden einen letzten Blick zu. Er ist das Gegenteil von Collin. Bestimmt ist er einen halben Kopf größer, das dunkle Haar fällt ihm unordentlich etwas über seine Stirn und seine Augen strahlen in einer hellen Mischung aus grün und braun. Und aus diesen Augen starrt er mir verdutzt entgegen und regt sich nicht. Doch kurz bevor ich mich von ihm wegdrehe, meine ich, ein leichtes Zucken seines rechten Mundwin‐ kels zu erkennen. Ich wende mich hastig ab und verlasse den Parkplatz.
Scheiße, was habe ich mir dabei gedacht?
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